Sie richtete sich auf, ihre Haltung war würdevoll, als würde sie sich darauf vorbereiten, eine Geschichte zu erzählen, anstatt ein traumatisches Erlebnis wieder zu durchleben. Ihr Tonfall wurde sanfter und nahm einen trügerischen Anflug von Verletzlichkeit an, als sie fortfuhr. „Du erinnerst dich doch an mich, Meister? Damals war ich nur ein junges, neugieriges Mädchen. Ich wollte nur ein Heilmittel für meine kleine Schwester finden. Sie war krank, weißt du.
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Tödlich krank. Und ich … ich wollte sie unbedingt retten.“
Ihre Stimme war leise, fast traurig, und für einen Moment schien sich die Spannung im Raum zu lösen – wenn auch nur leicht. Aber Adrian, der die Szene beobachtete, spürte, dass hinter ihrer Geschichte etwas Dunkleres steckte.
Vedas Blick blieb stählern, ihre Lippen waren fest aufeinandergepresst, doch in ihren Augen blitzte ein Hauch von Erkenntnis auf, als Evangeline fortfuhr.
„Ich habe nach Heilern gesucht“, sagte Evangeline, trat weiter ins Licht und hob die Hände, als wolle sie ein Bild ihrer Vergangenheit malen. „Von der Gilde über Läden bis hin zu Hotels habe ich jeden Heiler, Kräuterkundigen und Alchemisten aufgesucht, den ich finden konnte. Aber alle haben mich abgewiesen – oder diejenigen, die mir freundlich begegneten, haben es versucht und sind gescheitert. Ich hatte kein Geld. Keine Familie, außer meinem Vater … wenn er nicht gerade monatelang weg war.“
Ein verzerrtes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie das Wort „Vater“ aussprach, und die Bitterkeit war unüberhörbar. „Er kam selten nach Hause, und wenn er kam, brachte er mir nichts als noch mehr Probleme. Niemand kümmerte sich um ein armes, krankes Mädchen ohne einflussreiche Beziehungen. Selbst die Gütigen konnten trotz aller Bemühungen nicht helfen. Sie waren alle nutzlos.“
Adrian blieb wie erstarrt stehen, gefesselt von Veda’s Magie, aber seine Gedanken rasten, während er Evangeline’s Geschichte aufnahm. Trotz ihres Versuchs, traurig zu klingen, war die giftige Unterströmung in ihren Worten unüberhörbar. Und Veda … sie stand da und hörte schweigend zu, ihre eigenen Gefühle streng unter Kontrolle.
Evangeline seufzte und schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber dann … hörte ich von dir.“ Ihre Augen funkelten, als sie Veda ansah, ein spöttischer Ausdruck der Ehrfurcht in ihrem Blick. „Die legendäre Veda – eine Alchemistin und Heilerin, weit und breit bekannt. Eine Frau, deren Fähigkeiten selbst den Tod besiegen konnten. Ich dachte: ‚Wenn jemand meine Schwester retten kann, dann sie.'“
Es entstand eine Pause, die von unausgesprochenen Bedeutungen erfüllt war, während Evangeline leicht den Kopf neigte.
„Aber es gab ein Problem“, fuhr sie fort und senkte ihre Stimme. „Du warst unerreichbar. Dein Status war weit über meinem. Ein Mädchen wie ich – arm, allein, ohne Beziehungen oder Verwandte – konnte nicht einmal einen Blick auf jemanden wie dich erhaschen.“
Adrian spürte, wie die Spannung im Raum wieder anstieg, als würden Evangelines Worte langsam eine Schlinge um sie alle legen.
„Aber das Schicksal“, sagte sie mit einem verschmitzten Grinsen, „hat seltsame Wege, nicht wahr, Meister? Weißt du, ich war nicht völlig hoffnungslos. Ich hatte immerhin etwas. Eine Gabe.“
Ihre Augen funkelten und das Lächeln unter ihrem Schleier wurde breiter. „Ich habe eine mächtige Fähigkeit erweckt. Nicht nur eine, sondern drei Begabungen, die sich alle für den Kampf oder die Alchemie eignen.“
„Oh, wie schnell die Leute auf mich aufmerksam wurden. Die Akademie, die Adligen, die Fraktionen … Sie alle wollten mich. Und plötzlich begann die Welt, die mich einst ignoriert hatte, sich meinem Willen zu beugen.“
Evangeline machte einen weiteren Schritt nach vorne, ihre Stimme wurde sanfter und nahm einen falschen, süßlichen Ton an, der Adrian einen Schauer über den Rücken jagte. „Aber weißt du, was ich getan habe, Meister?“, fragte sie, ohne ihren Blick von Veda abzuwenden. „Ich habe sie alle abgelehnt. Die Akademie, die Adligen, die Versprechen von Reichtum und Macht … nichts davon war mir wichtig. Denn alles, was ich wollte, war, dich zu treffen.“
Adrians Blick huschte zwischen den beiden Frauen hin und her, während sich die Geschichte mit einer tieferen Komplexität zu entfalten begann, als er sich vorgestellt hatte. Die Distanz zwischen Veda und Evangeline war nicht nur eine Kluft, die durch Macht oder Verrat entstanden war – sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, die sich fest in sie beide eingegraben zu haben schien.
Seine Neugierde wuchs noch mehr, da der Roman nur wenig über sie verriet.
„Mit meinem neu gewonnenen Ruhm“, fuhr Evangeline fort, nun mit einem triumphierenden Unterton in der Stimme, „hatte ich endlich die Chance, dich kennenzulernen. Und dieses Mal wurde ich nicht abgewiesen. Das war, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, Meister. Erinnerst du dich?“
„…“
Veda stockte der Atem, und die kalte Fassade, die sie über Jahre hinweg perfektioniert hatte, begann zu bröckeln, als Evangelines Worte sich tief in ihr Gedächtnis gruben. Sie konnte es spüren – wie alte Erinnerungen langsam wieder an die Oberfläche drängten. Erinnerungen, die sie begraben und hinter Mauern aus Logik und Pragmatismus verschlossen hatte.
Doch nun, unter dem Gewicht von Evangelines Stimme, begannen diese Mauern zu bröckeln.
„Ja“, flüsterte Veda fast unwillkürlich, ihre Stimme kaum hörbar. Das einzelne Wort entglitt ihren Lippen, bevor sie es zurückhalten konnte, ein Verrat an der Kontrolle, die sie so hart zu bewahren versucht hatte.
Und einfach so kam die Vergangenheit zurück – ungebeten und unerbittlich.
Ihre Sicht verschwamm für einen Moment, die Realität wich der Erinnerung. Der Raum, die Gegenwart, Adrian, Evangeline – alles verblasste, als sie in den Nachhall einer anderen Zeit gezogen wurde. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst, jünger, in einem prächtigen, aber sterilen Raum, der nach seltenen Kräutern und Mixturen roch. Und vor ihr stand ein Mädchen, ängstlich, aber entschlossen.
Ein Mädchen, das der Frau, die jetzt vor ihr stand, überhaupt nicht ähnlich sah.
Das war Liora.
Aber dies war keine verschleierte Bösewichtin.
Keine dunkle Gestalt, eingehüllt in Bosheit und Bitterkeit.
Dies war ein sechzehnjähriges Mädchen, blass, schön und zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe, die jeden Moment zerbrechen könnte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, voller Verzweiflung und Hoffnung. Ihre Lippen zitterten, aber sie zwang sich zu einem Lächeln, um die Angst zu verbergen, die darunter lag.
Veda konnte sie jetzt sehen, so klar, als wäre sie durch die Zeit gereist.
Lioras Gesicht, so jung und ernst, war von schlaflosen Nächten gezeichnet, Sorgenfalten umspielten ihre Augen, ihre Wangen waren leicht eingefallen von den Tagen, die sie ohne Pause damit verbracht hatte, sich um ihre kranke Schwester zu kümmern.
Ihr langes, dunkles Haar fiel ihr in Strähnen über die Schultern, zerzaust, aber sie kümmerte sich nicht darum, und ihre einst strahlenden Augen waren jetzt gequält, getrübt von der Last der Verantwortung, die für jemanden in ihrem Alter zu groß war.