Als Athenia aus der Ferne sah, wie Ravens Glaube langsam schwand, runzelte sie die Stirn. Ihr Einfluss auf ihre Anhänger war schon immer schwach gewesen, und jetzt, wo Zweifel in der Gruppe des Helden aufgekommen waren, war nicht mal mehr die Priesterin, die eigentlich super fromm war, von Zweifeln an ihrer Pflicht befreit.
„Mutter … Mutter … Hättest du die Gedanken deiner Anhänger besser unter Kontrolle gehabt, müsste ich mich jetzt nicht so abmühen, sie alle bei der Stange zu halten.“ Sie biss sich auf den Finger, bis ihr goldenes Blut zu fließen begann, und starrte weiter auf den Bildschirm, auf dem Raven und Mino sich näher kamen.
Mit einem angewidertem Gesichtsausdruck wollte sie das Minotaurenmädchen erwürgen, aber das hätte ihr nur die letzte Hoffnung genommen, Raven und die anderen unter Kontrolle zu halten.
Zu sehr von dem Anblick vor ihr eingenommen, vergaß die allgegenwärtige Göttin, dass nicht weit entfernt von dem liebenden Paar Erika stand und an ihrem Glauben an ihre Göttin zweifelte.
Sie teilte sich mit Aria und Helga ein provisorisches Zelt und beobachtete die blonde Barbarin mit strengem Blick, die sich ebenso wie sie mühsam in den Schlaf zu zwingen versuchte.
„Was?“ Helga bemerkte ihren Blick und warf der Priesterin einen Seitenblick zu. „Ich bin zu alt für dich, Priesterin, wenn du das vorhast.“
„N-nein … ich“, errötete sie bei diesem Vorschlag, wandte ihren Blick ab, kehrte ihn jedoch schnell wieder zu Helga zurück und fasste den Mut, sie etwas zu fragen. „Kann ich dich etwas fragen?“
„Hmm?“ Neugierig geworden, was sie vorhatte, drehte Helga sich zur Seite, um Erika direkt anzusehen, während sie redeten. „Was ist es? Eine Abkürzung zur Stärke? So etwas gibt es nicht.“
Erika schüttelte den Kopf und sprach aus, was ihr durch den Kopf ging.
„Du hast doch schon mal gegen die Armee der Dämonen gekämpft, oder?“ Helga nickte nur, kniff die Augen zusammen und hörte weiter zu. „Wie hast du deinen Glauben bewahrt, wo es doch so viel Böses auf der Welt gibt?“
„Das habe ich nicht“, antwortete Helga ohne zu zögern.
Erika starrte sie mehr als überrascht an.
„Keiner von uns hat das, die Göttin ist in unseren Herzen gestorben, lange bevor Nightsilver den Dämonenlord getötet hat“, je mehr sie erzählte, desto verwirrter wurde Erika.
„Nightsilver?! Aber hat er nicht …“
„Vor tausend Jahren gestorben?“ Helga unterbrach Erika, senkte leicht den Kopf und sah ihr direkt in die Augen. „Gibt es einen besseren Krieger als jemanden, der nur darauf hoffen kann, im Kampf zu sterben? Wir altern nicht, genau wie die Götter bleiben unsere Körper unverändert, solange wir nicht von jemand anderem getötet werden. Einige sahen das als Segen an, ich auch, bis mir klar wurde, wofür wir eigentlich kämpften.“
„Was meinst du damit?“ Helga schüttelte den Kopf, lachte leise und schloss die Augen.
„Das musst du selbst herausfinden, Priesterin. Ich bin nicht deine Mutter und werde mich auch nicht damit belasten, mich wie eine zu benehmen“, sagte Helga, wandte sich von Erika ab und beendete das Gespräch.
Die Priesterin war total verwirrt von dem, was sie erfahren hatte, und wusste nicht, was sie glauben sollte. War Raven nicht die Erste, die von den Toten wieder zum Leben erweckt worden war? Gab es Unsterbliche, die von der Göttin erschaffen worden waren, um in einem scheinbar endlosen Krieg zu kämpfen? Warum sollte sie sie mit so etwas verfluchen? Mit einem so langen und anstrengenden Leben, dass sie nur noch auf einen weiteren Krieg hoffen konnten, in dem sie sterben würden.
„Das kann nicht sein, die Göttin ist nicht so grausam! Das gibt’s doch nicht!“ Mit Gänsehaut und voller Zweifel faltete sie die Hände zum Gebet und begann zu singen. In dieser Nacht fand sie keinen schnellen Schlaf, aber als er endlich kam, war er alles andere als angenehm.
Als Erika in einem Raum aufwachte, der zwischen Gegenwart und Zukunft schwebte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie sah sich um, aber es war nichts zu sehen außer der Dunkelheit der Tiefe, nur ein Paar blutunterlaufene Augen starrte sie von oben an. Sie waren so groß wie der Himmel und verwandelten sich wie das Spiegelbild eines gläsernen Speers, der auf die versteinert Priesterin herabblickte.
„Was ist hier los?!“, fragte sich Erika, während ihre Gedanken so schnell rasten wie nie zuvor.
Die Illusion der Stille wurde durchbrochen, als eine Stimme von oben auf sie herabregnete, die jedoch in einer archaischen Sprache sprach, von der sie kein Wort verstand.
„Göttin, hilf mir!“, flehte sie und kniete sich hin, um zu beten, doch statt der Göttin hörte sie plötzlich eine ganz andere Stimme.
„Hat sie dir schon mal geholfen, Kind?“ Ein Chor sang mit engelsgleichen Stimmen.
Erika hob den Kopf zu dem plötzlichen goldenen Licht von oben und ihre Augen glitzerten im Schein eines Heiligenscheins. Die Augen, aus denen einst Blut tropfte, bluteten jetzt golden, und die Stimme, die sie auf die Knie gezwungen hatte, spendete ihr nun großen Trost.
„Was seid ihr?“, fragte sie mit zitternden Lippen.
„Man nennt mich den Wegbereiter“, sangen die Engel erneut, während ihr Chor immer größer wurde und ein Lächeln um Erikas Lippen spielte. „Ich bin derjenige, der die Zeit vom Vergessen trennt, den Tag von der Nacht und das Gute vom Bösen. Ich bin der Vater von Nerva, auch wenn dir dieser Name nichts sagt.“
Da Erika nicht die geringste Ahnung hatte, was das alles bedeutete, wurde ihr Herz von Unsicherheit erfasst, obwohl die Engel weiter sangen.
„Was wollt ihr von mir?“, fragte sie und presste die Hände fest gegen ihre Brust.
Mit einem donnernden Grollen teilte sich die Dunkelheit unter den Augen zu Lippen. Als sie sich weit öffneten, kam eine Zunge aus Gold und Zähne aus glitzernden Edelsteinen zum Vorschein.
„Befreie dich von den falschen Propheten! Akzeptiere dich selbst als deinen Gott und lehne die Autorität anderer ab, über dich zu herrschen! Beachte meine Warnung, Kind, denn du wirst nicht die Erste sein, die der Verzweiflung erliegt, wenn du die wahre Natur eines Gottes erkennst!“ In dem Moment, als die Worte des Wegweisers verklangen, öffnete sich neben Erika eine strahlende silberne Tür.
Die Priesterin war mehr als nur überrascht von dem plötzlichen Auftauchen der Tür, doch der Pfadfinder lachte nur über die Ankunft der Göttin.
„Da kommt sie, die Betrügerin, die Hungrige, die verdorbene Peinigerin! Ahahaha! Wie widerlich deine Eifersucht schmeckt, ich kann es hinter den Toren des Todes spüren!“ Obwohl er seit Jahrhunderten tot war, konnte der Vater dieser Welt nicht anders, als höhnisch zu lachen.