Die Leute im Wagen trauten ihren Augen nicht. Die ganze Zeit hatten sie sich Sorgen gemacht, dass Lin Mu was passiert sein könnte. Sie dachten, dass seine Identität aufgedeckt worden war und er gefasst worden war oder so.
Als Hei Shi Hei Wan und Hei Bao Bericht erstattete, hatten sie sich auf das Schlimmste gefasst gemacht. Aber jetzt, wo Lin Mu direkt vor ihnen stand und ihnen sogar so etwas Schockierendes gezeigt hatte, konnten sie nur noch nach Luft schnappen.
„Wenn das der stellvertretende Kapitän Han Lei ist, wer ist dann die andere Person?“, fragte Hei Wan.
Der Schädel des Stadtvorstehers war komplett zertrümmert und so gut wie weg. Kein Wunder also, dass sie ihn nicht erkennen konnten. Außerdem war er jetzt anders angezogen, denn normalerweise trug er in der Öffentlichkeit die Kleidung eines einfachen Bürgers und nicht so hochwertige Klamotten wie jetzt.
„Das ist der Stadtvorsteher“, sagte Lin Mu mit ernster Miene.
„Das ist der Stadtvorsteher? … Was … Was ist mit ihm passiert?“, stammelte Hei Bao.
„Ich … ich … habe die Kontrolle über mich verloren und sie getötet“, antwortete Lin Mu.
Lin Mu konnte nicht genau erklären, warum er das getan hatte, daher war dies die beste Erklärung, die er geben konnte. Doch selbst nach Lin Mus Erklärung ließ ihr Schock nicht im Geringsten nach. Stattdessen wurde er noch größer.
„Was für ein Kind ist das? Selbst wenn er auf dem Höhepunkt der Qi-Verfeinerung ist, ist das keine Kleinigkeit“, dachte Hei Wan, als er den fast kopflosen Stadtvorsteher ansah.
„Die Kontrolle verloren? Aber wie …“, wollte Hei Bao gerade weiterfragen, als Hei Wan ihm plötzlich auf den Arm tippte.
Hei Bao hielt inne und verschloss seine Lippen, als er Hei Wans Geste verstand. Hei Wan gab Hei Bao sogar mit ihren Augen ein Zeichen, während sie über etwas nachdachte.
Lin Mu überlegte noch, wie er das weiter erklären sollte, und bemerkte daher ihre kleine Interaktion nicht.
„Also … wie ist die Lage jetzt genau?“, fragte Hei Wan, nachdem sie jedes Wort abgewogen hatte.
„Lass mich das erklären …“, sagte Lin Mu und begann, alles zu erzählen, was passiert war, wobei er einige Teile wegließ und andere abänderte.
Lin Mu erzählte ihnen, wie er von ihrer Beteiligung erfahren hatte und dass er sicher war, dass sie zu den Tätern gehörten. Er erzählte ihnen auch ein wenig davon, wie er die Beherrschung verloren hatte.
Er erzählte ihnen, wie er all den Luxus im Büro des Stadtvorstehers gesehen hatte und wie dieser den Menschen im letzten Jahr, als sie unter der Pest litten, jede Hilfe verweigert hatte.
Sowohl Hei Wan als auch Hei Bao hörten sich seine Erklärung geduldig an und unterbrachen ihn kein einziges Mal. Lin Mu hatte erwartet, dass sie ihm weitere Fragen stellen oder seine Behauptungen klären würden, aber überraschenderweise taten sie das nicht und akzeptierten einfach alles sofort.
„Okay, dann brauchen wir nur einen Plan, um die Situation zu ändern“, sagte Hei Wan, nachdem Lin Mu fertig gesprochen hatte.
„Ja“, antwortete Lin Mu.
Es wurde wieder still im Wagen, während alle über mögliche Lösungen und Vorgehensweisen nachdachten. Sie überlegten fünf Minuten lang, dann meldete sich als Erster der maskierte Mann, der bis jetzt geschwiegen hatte.
„Das Gedächtnis-Verwirrungspulver wirkt doch schon, oder? Dann müssen wir nur noch irgendwelche belastenden Beweise im Büro des Stadtvorstehers platzieren. Die anderen werden einfach denken, dass das das Werk derselben Leute war, die hinter dem Verschwinden der Söldner stecken“, sagte der maskierte Mann.
„Das ist zwar eine gute Methode, aber wir müssen uns noch etwas Besseres überlegen.
Wenn sie genauer nachforschen, werden sie schnell herausfinden, dass das alles nur eine Falle war.“ Han Wei sagte.
„Wir müssen sie glauben machen, dass es dieselben Leute waren, die das wirklich getan haben. Auf diese Weise werden wir sie nicht nur öffentlich bloßstellen, sondern die wahren Täter werden auch verwirrt sein und mit etwas Glück sogar beginnen, ihre eigenen Leute zu verdächtigen.“ Hei Bao schlug vor.
„Ja! Das kann ich machen. Ich hab noch die Klamotten, die die Täter getragen haben. Ich kann mich einfach als Täter verkleidet in der Öffentlichkeit zeigen und dann den anderen als ich selbst erscheinen. Ich kann auch Lu Xiao dort einschleusen und es so aussehen lassen, als wäre er bei seiner Flucht von den Tätern angegriffen worden“, erklärte Lin Mu.
Als sie das hörte, leuchteten Hei Wans Augen auf und die Räder in ihrem Kopf begannen zu arbeiten.
„Das könnte klappen“, meinte Hei Wan und nickte.
Sie besprachen noch fünf Minuten lang die letzten Details des Plans, bevor sie sich trennten. Nach ein paar weiteren Vorschlägen von Hei Wan und Hei Bao war der Plan fertig.
Gemäß dem Plan sollte Lin Mu als Erster gehen, also verließ er die Kutsche und ging weg. Die Tür der Kutsche schloss sich hinter ihm und Hei Wan und Hei Bao sahen ernst aus. Hei Wan sackte plötzlich auf seinem Sitz zusammen, als würde ihn etwas erleichtern. Han Bao sah das, fragte aber nicht danach, sondern sagte stattdessen:
„Glaubst du wirklich, dass dieser Plan funktionieren wird?“, fragte Hei Bao.
„Das muss er. Nach dem, was er getan hat, haben wir keine andere Wahl …“, antwortete Hei Wan.
Hei Bao schwieg einen Moment, bevor er wieder sprach.
„Warum hast du mich vorhin unterbrochen?“, fragte Hei Bao.
„Als ich ihn heute Morgen zum ersten Mal traf, hatte ich erwartet, dass er wie die anderen talentierten Kultivierenden aus den Sekten und Adelsfamilien sein würde.
Aber als ich mit ihm sprach, fand ich ihn bescheiden und zurückhaltend.“
„Aber jetzt … nachdem ich das gesehen habe, kann ich das nicht mehr sagen. Du hast die Leiche des Stadtvorstehers gesehen. So etwas kann nicht jeder Kultivierende tun, allein die dafür erforderliche rohe Kraft wäre enorm. Er hat sogar gesagt, dass er das nur getan hat, weil er die Selbstbeherrschung verloren hat. Das bedeutet nur, dass er viel mehr verbirgt, als wir gedacht haben“, erklärte Hei Wan.
„Aber er hat die Kontrolle aus einem gerechten Grund verloren“, sagte Hei Bao.
„Glaubst du das wirklich? Hast du nicht die Veränderung in seiner Aura gespürt, als er uns alles erklärt hat? Es war nur ganz leicht, aber ich konnte trotzdem die Mordlust spüren, die darin steckte. Diese Mordlust war stark, sehr stark.
So stark, dass ich so etwas bisher nur einmal gespürt habe“, antwortete Hei Wan.
„Deshalb war sie erleichtert, als Lin Mu gegangen ist“, dachte Hei Bao bei sich.
„Du meinst, als der alte Jing in die Villa des Lords kam?“, fragte Hei Bao.
„Ja. Seine Mordlust war zwar nicht ganz so stark wie die des alten Jing, aber dennoch sehr bedrückend. Es fühlte sich an wie ein vergifteter Dolch, der im Dunkeln versteckt war“, antwortete Hei Wan.
Hei Bao schwieg, nachdem er Hei Wans Antwort gehört hatte, und dachte darüber nach. Lin Mu war auf dem Weg zurück zum Büro des Stadtvorstehers und wusste nichts von dem Gespräch, das gerade zwischen Hei Wan und Hei Bao stattgefunden hatte.
Lin Mu stand gerade auf dem Dach eines Gebäudes und wartete auf den richtigen Moment, um zu springen.
Der Plan, den sie ausgeheckt hatten, war, dass Hei Wan sich als hoher Beamter aus der Stadt Wu Lim ausgeben würde, der zu Besuch gekommen war.
Sie würden zum Büro gehen und Lu Xiao im Flur liegen sehen. Dann würde Lin Mu in den Klamotten der Täter auftauchen und die Söldner beeinflussen, die sich aufgrund des Gedächtnisverwirrenden Pulvers nicht mehr klar daran erinnern konnten.
Und wenn der richtige Moment gekommen war, würde die Hei-Truppe die Wahrnehmung der Leute manipulieren und es so aussehen lassen, als wären die wahren Täter dafür verantwortlich. Lin Mu würde auch die Leichen des Stadtvorstehers und Han Lei zurück ins Büro bringen.
Lin Mu wartete auf dem Dach, bis er die Kutsche näher kommen sah. Dann sprang er vom Dach und blinkte zum Balkon des Büros.
Im Büro angekommen, zog er die Kleidung der früheren Täter an und legte die Leichen so hin, wie sie zuvor gelegen hatten.
Anschließend legte Lin Mu den bewusstlosen Lu Xiao vor das Büro auf den Flur, sodass es so aussah, als wäre er geflohen. Er fügte ihm sogar einige leichte Schnittwunden zu, um die Sache noch glaubwürdiger zu machen. Das würde Lu Xiao zwar im Moment ein wenig wehtun, aber auf lange Sicht spielte das keine Rolle.
Nachdem das erledigt war, wartete Lin Mu einfach im Flur. Eine Minute später waren Schritte zu hören, als ein Mitarbeiter Hei Wan und Hei Bao nach oben führte. Sie sahen Lin Mu mit einem Schwert in der Hand über Lu Xiao stehen, als würde er ihn gleich töten wollen.
„Wer bist du?“, schrie der Mitarbeiter.
„Bleib zurück, er ist gefährlich“, befahl Hei Bao, während er so tat, als würde er nach vorne gehen.
