Prinzessin Priscilla Lysandra.
In dem Roman klang ihr Name so kalt und elegant wie Eis, das unter Druck entstanden ist – schön, scharf und irgendwie fehl am Platz.
Lucavion erinnerte sich an die Fußnoten. An die beiläufigen Erwähnungen. An das Geflüster um ihren Titel. Niemand hat in der Geschichte wirklich über sie gesprochen – nicht direkt. Es wurden nur so viele Infos verstreut, dass der Leser sich ein Bild von ihr machen konnte, wie von einem Porträt, das bei Kerzenschein gezeichnet wurde.
Aber er hatte aufgepasst.
Und was er sich gemerkt hatte, was der Roman andeutete, aber nie ganz aussprach, war viel brutaler, als das hübsche imperiale Bild vermuten ließ.
Sie sollte nicht dort sein.
Priscillas Mutter war eine Bürgerliche. Keine heimlich adelige Tochter, die in einem Dorf versteckt wurde und darauf wartete, entdeckt zu werden. Nein. Sie war tatsächlich eine Bürgerliche – die Tochter eines Heilers aus einer südlichen Grenzprovinz, aufgewachsen zwischen Kräutern und Märkten, eine Frau, die vielleicht Volkslieder gesungen hatte, um die Wölfe fernzuhalten.
Und der Kaiser?
Er hatte sie einmal getroffen.
Der Roman war absichtlich vage gehalten. Eine flüchtige Laune während einer kaiserlichen Inspektion. Eine einzige Nacht, geboren aus königlicher Nachsicht. Die Art von Begegnung, die im Reich nicht hinterfragt wurde. Könige taten, was Könige wollten.
Normalerweise endeten solche Liebschaften in Schweigen. Die Frauen wurden bezahlt. Weggebracht.
Vergessen. Und wenn ein Kind dabei herauskam, wurde es versteckt – in einer abgelegenen Ecke des Reiches aufgezogen, mit einer Rente und einem Namen, der nichts bedeutete.
Aber dies?
Dies war anders.
Denn Priscilla war weder das Ergebnis eines Unfalls, noch war ihre Mutter eine namenlose Konkubine, die in den Randspalten eines Skandals vermerkt war.
Nein.
Der Kaiser hatte sie geliebt.
Diese einzige, stille Wahrheit lag unter der goldenen Fassade des Palastes begraben wie ein Messer unter Seide – nie laut ausgesprochen in dem Roman, nie näher erläutert. Aber Lucavion erinnerte sich daran, wie sie durch die Dialoge hindurchblitzte, an die Andeutungen zwischen den Zeilen, an die Art, wie der Kronprinz ihren Namen ausspuckte, und an die Art, wie seine Mutter von „denen, die stehlen, was ihnen nie gehörte“ sprach.
Die Geschichte gab den Lesern nie das ganze Bild. Sie erklärte nicht, warum der Kaiser die Tochter einer Heilerin aus der Provinz geliebt hatte. Ob es ein Zauber war, eine Rebellion gegen die Zwänge der kaiserlichen Ehe oder etwas viel einfacher – wie Frieden. Wie eine Entscheidung.
Aber was sie in flüchtigen, bitteren Fragmenten offenbarte, war Folgendes:
Der Kaiser hatte Priscillas Mutter nicht verstoßen.
Er hatte sie geholt.
Er befahl öffentlich und unwiderruflich, sie in die Hauptstadt zu holen. Nicht als vorübergehende Geliebte. Nicht als versteckte Schande.
Sondern als Gemahlin.
Diese Handlung hatte den Hof in Aufruhr versetzt.
Lucavion erinnerte sich besonders an eine Szene – eine Ratssitzung –, in der ein alternder Herzog murmelte, dass „eine Krone nicht in der Nähe von Wildblumen ruhen sollte“, woraufhin ein anderer Adliger mit gezwungenem Lachen antwortete: „Doch manche Unkräuter wurzeln zu tief, um sie auszureißen.“
Das waren nicht die Worte von Männern, die über eine kurze Schwäche diskutierten.
Das waren die Worte einer bedrohten politischen Struktur.
Und die lauteste Opposition?
Sie kam von der Kaiserin.
Die erste Frau.
Die Mutter des Kronprinzen.
Lucavion sah noch immer das Bild vor sich, das der Roman so klar gezeichnet hatte – ihr Gesicht blass vor Anspannung, ihre Finger umklammerten den Saum ihres Ärmels während einer formellen Versammlung, eine einzelne Ader zuckte an ihrer Schläfe, als Priscillas Name vor Gericht ausgesprochen wurde.
Die Kaiserin war nicht dumm. Sie hatte jahrzehntelang an der Seite ihres Mannes regiert. Ihre Abstammung war rein. Ihre Position absolut.
Bis sie kam.
Das Mädchen aus dem Süden ohne adeliges Blut, ohne Stammbaum, ohne Namen, den das Reich kannte.
Und doch … wurde sie geliebt.
Der Roman hat es nie direkt gesagt, aber der Groll war in jedem Satz zu spüren, den die Kaiserin privat sagte. In ihrem kalten Umgang mit ihrem eigenen Sohn. In der Stille zwischen den kaiserlichen Geschwistern.
Lucavion erinnerte sich an einen einzigen Moment in dem Buch – einen stillen Flur und ein leises Gespräch zwischen dem Kronprinzen und seiner Mutter, das er zufällig mitbekam.
Der Kronprinz stand da wie eine Statue – makellos in seiner Haltung, unlesbar in seinem Gesichtsausdruck.
Und die Kaiserin, in Purpur und Schatten gehüllt, stand neben ihm, ihre Stimme kalt genug, um Glas zu gefrieren.
„Eine Niedere hat keinen Platz im Palast.“
Sie sagte es, ohne ihre Stimme zu erheben. Aber der Hass dahinter brauchte keine Lautstärke.
„Ich habe die Tochter des Kaufmanns ertragen. Ich habe sogar meine Augen von dieser Sängerin aus dem Osten abgewendet. Aber sie …“
Der Tonfall der Kaiserin wurde scharf. „Diese Hure kam aus dem Nichts. Kein Name. Kein Adel. Nichts. Und doch hat sie sich in sein Herz geschlichen.“
Lucavion erinnerte sich an die Pause in ihrer Stimme. An diesen Ausrutscher. An diesen winzigen Riss in ihrem Tonfall, der nicht nur nach Abscheu roch, sondern auch nach Eifersucht.
Denn es war nicht wirklich politisch gewesen.
Es war persönlich gewesen.
„Vergiss nicht, mein Sohn“, sagte sie, und ihre Stimme wurde hart wie eine Trommel. „Was uns gehört, darf uns niemand wegnehmen. Keine Bastarde. Keine Bürgerlichen. Nicht einmal Blutsverwandte.“
Dieser Satz blieb Lucavion im Gedächtnis.
Nicht einmal Blutsverwandte.
Denn das war der Wendepunkt. Der Moment, in dem der Thronfolger – der Kronprinz – seine Halbschwester nicht mehr als lästig empfand, sondern als Bedrohung.
Von diesem Tag an war alles um Priscilla herum ein stiller Kriegsschauplatz. Sie würde nicht sterben. Nein, das wäre zu plump gewesen. Zu verdächtig. Stattdessen …
Sie würde ersticken.
Jede Verbindung, die sie aufgebaut hatte, würde subtil gekappt werden.
Jeder Verbündete, der ihr Treue geschworen hatte, würde manipuliert, bestochen oder gebrochen werden.
Jeder öffentliche Fehler würde aufgebauscht werden. Jeder Erfolg würde heruntergespielt werden.
Und als sich ihre einzige Chance bot – die Akademie –, wo sie auf Augenhöhe hätte stehen können, wo sich Leistung und Politik unter den Elitejugendlichen des Imperiums vermischten …
wurde sie mit der Last der Demütigung hineingestoßen.
Der Skandal um die Prominence.
Erfunden.
Inszeniert.
Und perfekt getimed.
Lucavion konnte schon sehen, wie es ausgegangen wäre, wenn er nicht eingegriffen hätte.
Flüstern hätte ihr bis zum Tor der Akademie gefolgt. Adlige hätten hinter ihren Seidenärmeln gelacht. Selbst diejenigen, die ihr wohlgesonnen waren, hätten sich nicht getraut, mit ihr in Verbindung gebracht zu werden. Die Professoren, gebunden an ihre Loyalität gegenüber den Fraktionen, hätten sie als abschreckendes Beispiel hingestellt.
Das unerwünschte Mädchen.
Die Halbblutprinzessin, die ihre Familie nicht beschützen konnte.
Ihre Tage an der Akademie wären von stiller Verbannung geprägt gewesen. Ihre Nächte von Paranoia.
Und die ganze Zeit über würde der Kronprinz lächeln.
Denn die Akademie war seine Bühne.
Und sie?
Sie war die Tragödie, die er lange vor dem ersten Klingeln geschrieben hatte.
Aber Lucavion wusste noch etwas, das der Roman angedeutet hatte.
Jemand kam.
Jemand, der sich eine solche Gelegenheit niemals entgehen lassen würde.
„Heh …“
Jemand, auf den er sich vorbereiten musste.
Sie würde sich einen so guten Bauern nicht entgehen lassen.
Natürlich nicht.
Dafür war sie viel zu clever.
In der Geschichte wurde das nie in leuchtender Schrift oder dramatischer Prosa zum Ausdruck gebracht. Aber für jeden, der zwischen den Zeilen las – für jeden, der eher die Muster als die Handlung beobachtete –, war es offensichtlich.
Jemand, der die Fäden zog.
Und Priscilla?
Sie würde die perfekte Figur sein.
Eine verstoßene Königstochter. Ein Mädchen, das zu gefährlich war, um in der Nähe zu bleiben, zu sehr in Ungnade gefallen, um von den etablierten Fraktionen akzeptiert zu werden. Aber dennoch eine Prinzessin. Dennoch ein Name mit imperialem Gewicht.
Lucavion erinnerte sich an die subtilen Wendungen in dem Roman. Wie sie zunächst nicht als Bösewichtin auftrat, sondern als souveräne Persönlichkeit in den politischen Gremien der Akademie. Ruhig. Besonnen. Höflich. Sie war diejenige, die Rat gab, wenn niemand sonst dazu bereit war. Diejenige, die den Zurückgebliebenen die Hand reichte.
Und mit der Zeit?
Sie sammelte immer die Gebrochenen ein.
Priscillas Isolation, ihre Wut, ihre Schärfe – „sie“ würde diese Glut anfachen. Nicht grausam. Anfangs nicht einmal manipulativ. Aber unweigerlich.
Denn für jemanden wie „sie“ hatte jedes zerbrochene Stück Potenzial.
Und Priscilla?
Sie war in einem Palast der Stille und des polierten Hasses geschmiedet worden.
Sie würde nicht „ihre“ Freundin werden. Nein.
Sie würde ihr Werkzeug werden.
Die perfekte Bösewichtin.
Kalt. Majestätisch. Rachsüchtig. Klug genug, um ihre Rolle zu spielen, und tragisch genug, damit die Geschichte ihr die Schuld geben konnte, wenn alles zusammenbrach.
Das war die Rolle, die der Roman für sie vorgesehen hatte.
Nicht weil sie grausam war.
Sondern weil Grausamkeit die einzige Rüstung war, die ihr noch geblieben war.
Und wenn Lucavion nicht eingegriffen hätte – wenn er die Maske nicht so früh durchschaut hätte –
hätte sie diese Rüstung mit Stolz getragen.
Er konnte es jetzt sehen. Die Fäden, die sich noch formten. Den Schatten von ihr, der am Rande des politischen Schlachtfelds der Akademie wartete. Die perfekte Königsmacherin, die den Dolch polierte, den sie Priscilla in die Hand stecken würde.
Lucavions Augen verengten sich, ein leiser Atemzug entwich seinen Lippen.
„Isolde … Wir sehen uns bald.“