Für Mariel waren alle Tage gleich.
Die Taverne aufmachen, Essen zubereiten, die Gäste bedienen, mit Leuten aus aller Welt quatschen und das Ganze von vorne.
Heute war es genauso, nur mit einer kleinen Änderung.
Als der Abend in die Nacht überging, erfüllte das vertraute Stimmengewirr Mariel Farlons Taverne. Da das Turnier in der Stadt mehr Leute als sonst anzog, war ihr Gasthaus voller Besucher – einige ehrenwerte Krieger, andere weniger.
Es war ein geschäftiger Tag gewesen, mit Gästen, die kamen und gingen, von denen viele mit ihren bevorstehenden Kämpfen prahlten oder ihre Nerven mit Alkohol betäubten.
Mariel bewegte sich wie immer durch die Taverne, ihren scharfen Augen entging nichts. Im Laufe der Jahre hatte sie schon alles gesehen – Abenteurer, Söldner und sogar Adlige, die versuchten, ihre Begleiter zu beeindrucken.
Aber mit dem erhöhten Publikumsaufkommen während des Turniers kam es immer zu Problemen. Und dieser Abend war keine Ausnahme.
Ein stämmiger Mann, dessen Sprache verwaschen und dessen Bewegungen träge waren, hatte beschlossen, dass er einen Drink zu viel hatte. Sein dröhnendes Lachen ging schnell in Geschrei über, und schon bald eskalierte die Situation zu einer regelrechten Schlägerei, als er einen anderen Gast mit der Faust schlug. Tische wurden umgeworfen, Stühle umgestoßen und Getränke überall verschüttet.
Mariel schritt ein, ihre Präsenz wie immer beeindruckend. Ohne zu zögern, überwältigte sie den Mann mit schnellen, effizienten Schlägen, die ihm keine Chance zur Gegenwehr ließen. Selbst im Ruhestand waren ihre Kraft und ihr Können nicht zu unterschätzen. Danach kehrte Ruhe in der Taverne ein, die verbliebenen Gäste warfen sich nervöse Blicke zu und hielten sich klugerweise an ihre Getränke.
Jetzt, da die Nacht voranschritt, stand Mariel an der Bar, wischte einen Krug ab und behielt die Gäste im Auge. Die Stimmung hatte sich etwas beruhigt, aber die ausgelassene Stimmung der Turnierbesucher lag noch in der Luft. Sie wusste, dass ihre Taverne, solange das Turnier in vollem Gange war, ein Hotspot für Aufregung – und Ärger – sein würde.
Sie seufzte leise vor sich hin. „Es wird nie langweilig“, murmelte sie.
Gerade als sie hinter die Theke zurückgehen wollte, öffnete sich die Tür der Kneipe und jemand kam herein.
Die Tür der Kneipe quietschte, und der junge Mann von früher kam herein – Lucavion, dessen Namen sie gehört hatte, als das Mädchen ihn gerufen hatte.
Sein lässiger Gang und seine unbekümmerte Ausstrahlung waren dieselben wie zuvor, aber seine Bewegungen hatten etwas Bedächtiges an sich, als wäre er mit einer bestimmten Absicht hierhergekommen.
Er trug die gleichen abgetragenen Klamotten, seinen Strohhut tief ins Gesicht gezogen, was ihm einen geheimnisvollen Touch gab, der den ganzen Tag über nicht unbemerkt geblieben war.
Er sah sich kurz um, seine Augen suchten den Raum ab, bevor sie auf Mariel fielen. Ihre Blicke trafen sich, und in diesem kurzen Moment wusste Mariel, warum er hier war. Er war allein gekommen, und sein Blick bestätigte es – er war hier, um mit ihr zu reden.
Lucavion ging zur Bartheke, seine Bewegungen waren lässig und selbstbewusst. Er setzte sich und lehnte sich leicht gegen die Theke, als hätte er das schon hundert Mal gemacht. Seine Ausstrahlung war zwar entspannt, aber dennoch spürte man eine stille Kraft, die sich subtil in der Luft zu verbreiten schien.
Jorkin, einer von Mariels vertrauten Mitarbeitern, kam mit einem Nicken auf Lucavion zu, um seine Bestellung aufzunehmen.
Der junge Mann wechselte ein paar Worte mit ihm, sein Tonfall so locker wie immer, bevor Jorkin verschwand, um Lucavions Bestellung zu holen.
Aber Mariels Aufmerksamkeit schwankte nicht. Sie wischte weiter den Becher in ihrer Hand ab, obwohl ihr Blick auf Lucavion gerichtet blieb. Er war nicht nur auf einen Drink hier. Der kurze Blick, den er ihr zuvor zugeworfen hatte, war Signal genug gewesen.
„Er ist gekommen, um zu reden“,
dachte Mariel und stellte den Becher beiseite. Sie war sich nicht sicher, worum es in dem Gespräch gehen würde, aber sie hatte das Gefühl, dass es wieder um das Sternenlicht-Mana gehen würde – genau das, was an diesem Morgen etwas tief in ihr bewegt hatte.
Mariels Gesichtsausdruck blieb so streng wie immer, als sie sich Lucavion näherte, ihr scharfer Blick schwankte nicht. Sie bewegte sich mit derselben souveränen Ausstrahlung, die sie immer hatte, und ihr Auftreten strahlte die Autorität aus, für die sie bekannt war. Für jeden, der zusah, sah es wie eine typische Begegnung zwischen der beeindruckenden Besitzerin der Taverne und einem Gast aus, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
Wie so oft waren alle Augen auf sie gerichtet, was ihrer Reputation und der auffälligen Präsenz dieses jungen Mannes zu verdanken war. Aber Mariels Erfahrung sagte ihr, dass Lucavion nicht der Typ war, der Aufmerksamkeit suchte – zumindest nicht die Art von Aufmerksamkeit, die mit ihr in Verbindung gebracht wurde. Sie wählte ihre Annäherung sorgfältig, um ihn zu testen und gleichzeitig den Anschein zu wahren, dass es sich um eine ganz normale Begegnung handelte.
Sie blieb vor ihm stehen und stützte die Hände in die Hüften. Für einen Moment schien es in der Taverne ganz still zu werden, und die Blicke einiger Gäste huschten subtil zu ihnen hinüber. Mariel sprach mit leiser, ruhiger Stimme.
„Brauchst du etwas?“, fragte sie in neutralem Ton, ohne einen Hinweis auf ihre frühere Begegnung zu geben.
Lucavion lehnte sich gegen die Theke und ein kleines, amüsiertes Lächeln huschte über seine Lippen. Seine Augen funkelten mit diesem vertrauten, verspielten Glanz, und nach einer kurzen Pause hob er den Kopf zu ihr.
„Du musst dich nicht verstellen“, sagte er leise, wobei sich sein Lächeln gerade so weit verbreiterte, dass es einen Hauch von Schalk erkennen ließ. „Die Aufmerksamkeit stört mich nicht.“
Die Worte hingen einen Moment lang in der Luft, und Mariel hob leicht eine Augenbraue. Er hatte sie durchschaut, und mehr noch, es war ihm egal. Seine Aussage war klar: Es war ihm egal, ob die Leute dachten, dass zwischen ihnen etwas war, wenn es ihnen Aufmerksamkeit einbrachte. Es machte ihm überhaupt nichts aus.
Es war eine mutige Antwort, die Mariel dazu brachte, ihre anfängliche Vorsicht zu überdenken. Dieser junge Mann war nicht wie die meisten Leute, die ihr begegnet waren. Sein Selbstbewusstsein, seine Fähigkeit, Situationen einzuschätzen, und seine völlige Gleichgültigkeit gegenüber Äußerlichkeiten sprachen Bände.
„Interessant. Soll ich es einfach Jugend nennen?“
Mariels ernster Gesichtsausdruck wurde ein bisschen weicher, aber ihr Blick blieb konzentriert und scharf. „Ach so?“, fragte sie, und in ihrer Stimme schwang ein Hauch von Neugier mit.
Lucavion warf ihr einen wissenden Blick zu, als wüsste er schon viel mehr, als er preisgab. „Schließlich“, fuhr er fort, seine Stimme lässig, aber fest, „kommt man nicht oft in den Genuss, mit jemandem wie dir zu sprechen.“
Zum ersten Mal seit langer Zeit war Mariel fasziniert. Lucavion versuchte sich nicht zu verstecken und hatte auch keine Angst davor, aufzufallen. Er gab sich nicht anders, als er war, und das ließ sie sich fragen, wie viel er wirklich wusste.
„Na dann“, antwortete Mariel, und ihre Stimme klang nun unter der Oberfläche leicht warm, „dann haben wir wohl doch etwas zu besprechen.“
„In der Tat, das haben wir. Miss Little Bear.“
In dem Moment, als Lucavion diese Worte aussprach –
Miss Little Bear
– weiteten sich Mariels Augen vor Überraschung, und ihre strenge Fassung brach zum ersten Mal seit Jahren zusammen. Dieser Name, den sie seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte, traf sie wie eine Welle von Erinnerungen, die auf einmal über sie hereinbrachen. Es war ein Name, den nur eine einzige Person jemals für sie verwendet hatte, und ihn jetzt von diesem jungen Mann zu hören, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen.
Ihre Gedanken eilten zurück in eine Zeit, als sie noch eine junge, unbesonnene Kämpferin gewesen war – eine einfache Sterbliche, die in einer Welt voller Gefahren, die ihr Verständnis weit überstiegen, ums Überleben kämpfte. Sie hatte am Rande einer Katastrophe gestanden, überwältigt von einem Feind, den sie unmöglich besiegen konnte, als
er
aufgetaucht war. Die Gestalt im Sternenlicht, das Wesen, das ihr Leben gerettet und sie auf den Weg gebracht hatte, dem sie später folgen würde. Er war
es
war es, der sie mit einem Lächeln auf den Lippen bei diesem Namen genannt und sie für ihren hartnäckigen Mut angesichts der überwältigenden Übermacht aufgezogen hatte.
Und jetzt nannte dieser junge Mann vor ihr – Lucavion – sie genauso.
Ihr Herz schlug schneller, als sich die Puzzleteile zusammenfügten. Das violette Leuchten in seinen Augen, das Sternenlicht-Mana, die Art, wie er mehr zu wissen schien, als er preisgab. Das war kein Zufall.
Lucavion stand in Verbindung zu dieser Gestalt,
die ihr Leben vor all den Jahren so tiefgreifend geprägt hatte.
Für einen kurzen Moment war Mariel sprachlos, die Last der Erkenntnis lastete schwer auf ihr wie eine schwere Decke. Als sie endlich sprach, war ihre Stimme leiser, fast ehrfürchtig. „Du … du kennst ihn.“
Lucavions Lächeln wurde etwas breiter, seine Augen funkelten mit demselben rätselhaften Glanz.
„Du scheinst dich zu erinnern“, sagte er in einem leichten Tonfall, der jedoch eine tiefere Bedeutung hatte.
Mariel holte tief Luft und sammelte sich. „Woher weißt du …?“, begann sie, aber sie kannte die Antwort bereits. Es war unnötig, das Offensichtliche zu fragen. Dieser junge Mann mit seiner sternenklaren Mana und seinem Wissen über ihre Vergangenheit stand zweifellos in Verbindung zu dem Wesen, das sie einst gerettet hatte.
Eine Mischung aus Emotionen durchflutete sie – Dankbarkeit, Neugier und ein seltsames Gefühl von Stolz. Wenn Lucavion wirklich ein Schüler dieser Gestalt war, dann musste die Tatsache, dass er hierher geschickt worden war oder von selbst hierher gekommen war, etwas bedeuten. Und der Gedanke, dass
sie
von einer so bemerkenswerten Person in Erinnerung behalten worden war, erfüllte sie mit einer unerwarteten Wärme.
„Nun … Meister hat von dir gesprochen.“
Mariels Herz schwoll vor Stolz und einem seltsamen Gefühl der Ehre an. Dass sie bei dieser geheimnisvollen Person einen so starken Eindruck hinterlassen hatte – stark genug, dass sein Schüler von ihr sprach –, hatte sie nicht erwartet. Für einen Moment fühlte sie sich wieder wie die junge Abenteurerin, die voller Ehrfurcht vor dem Wesen stand, das sie gerettet hatte.
„Ich verstehe“, sagte Mariel schließlich mit festerer Stimme, obwohl die Bedeutung dieser Enthüllung noch immer nachhallte. „Es ist lange her.“
Lucavion nickte und lächelte weiterhin. „Das ist es in der Tat.“