Lucavion erstarrte, als er die Stimme hörte.
[GERALD?]
Ihm stockte der Atem und sein Herz setzte einen Schlag aus. Der Name hallte in seinem Kopf wider und brachte eine Flut von Erinnerungen mit sich – Erinnerungen an seinen Meister Gerald, den Mann, der ihm alles beigebracht hatte, was er wusste, den Mann, der mehr als nur ein Mentor für ihn gewesen war.
Die Stimme war nicht laut, aber klar und resonant.
„Nein … das kann nicht sein“, dachte Lucavion und suchte mit seinen Augen verzweifelt nach der Quelle der Stimme.
Aber da war nichts – nur das schwache Licht und die Stille der Höhle, abgesehen vom leisen, unregelmäßigen Atmen der Bestie vor ihm.
Er zögerte und lockerte für einen Moment seinen Griff um den Degen. Er war sich sicher, den Namen gehört zu haben, aber woher kam er? Er spitzte die Ohren und lauschte auf jedes Geräusch, jeden Hinweis, der ihm verraten könnte, woher die Stimme kam. Aber die Höhle war still und die Stimme wiederholte sich nicht.
Doch dann ertönte sie erneut, diesmal mit einem Anflug von Verzweiflung.
„Bist du Gerald?“
Lucavions Augen weiteten sich, als ihm klar wurde, was los war. Die Stimme kam nicht von draußen – sie war in seinem Kopf.
Die Worte hallten in seinem Kopf wider und trugen ein Gefühl der Dringlichkeit und Verwirrung mit sich, das seinen Puls schneller schlagen ließ. Er warf einen kurzen Blick auf das Biest, dessen Leben langsam aus der Wunde floss, die ihm sein Degen zugefügt hatte.
Die Augen der Kreatur trafen seine, und für einen Moment war Lucavion wie gelähmt. Der wilde, feindselige Blick war verschwunden und durch etwas ganz anderes ersetzt worden. Traurigkeit. Verzweiflung. Eine tiefe, schmerzende Trauer, die ihn zu umhüllen schien und sein Herz umklammerte.
Die vertikalen Pupillen der Bestie waren geweitet, und in diesen Augen lag eine unverkennbare Intelligenz, ein Verständnis, das ihrem wilden Aussehen widersprach.
„War es … die Bestie?“, fragte sich Lucavion, während sein Verstand versuchte, einen Sinn in das Geschehen zu bringen. Seine Gedanken waren durcheinander, aber eines war klar: Die Stimme, die er gehört hatte, stand irgendwie in Verbindung mit dieser Kreatur.
Er senkte seinen Degen, seine Hand zitterte leicht, als er den Griff lockerte. Das Sternenlicht verschwand von der Klinge, während er die Bestie ungläubig anstarrte.
„Warst du das?“, fragte Lucavion mit kaum mehr als einem Flüstern, als würde eine lautere Stimme die fragile Verbindung, die sich gerade aufgebaut hatte, zerstören.
Einen Moment lang herrschte Stille. Dann hallte die Stimme erneut in seinem Kopf wider.
„Ja.“
Lucavion stockte der Atem.
Die Bestätigung war eindeutig, unmissverständlich.
Die Stimme, die er hörte, die den Namen seines Meisters gerufen hatte, gehörte zu dem Wesen, das jetzt vor ihm lag, verwundet und sterbend.
Er sank neben der Bestie auf ein Knie, sein Herz pochte in seiner Brust. Die Situation war surreal, anders als alles, was er je erlebt hatte.
Die Augen der Bestie waren auf ihn gerichtet, und Lucavion konnte den Schmerz in ihrem Blick sehen, nicht nur den körperlichen Schmerz von der Wunde, sondern etwas Tieferes, etwas, das bis ins Innerste ihres Wesens reichte. Es war, als würde die Kreatur ihn erkennen oder zumindest etwas in ihm.
„Wer bist du?“, fragte Lucavion, seine Stimme trotz der Unruhe in ihm ruhig. „Woher weißt du das, Meister?“
[Meister?]
Das Tier atmete schwer, jeder Atemzug war eine Anstrengung, aber die Verbindung in Lucavions Geist blieb stark. Die Stimme kam wieder, diesmal schwächer, aber immer noch deutlich.
„Du … bist nicht Gerald … aber du trägst seinen Geruch … sein Mana … Ich dachte … du wärst er … Aber dass du … sein Schüler warst …“
Lucavions Herz zog sich bei diesen Worten zusammen. Das Biest hatte ihn mit seinem Meister verwechselt, angezogen von den Spuren von Geralds Mana, die noch in ihm waren.
„In welcher Beziehung standest du zu meinem Meister? Warst du sein Vertrauter?“
Das Biest nickte langsam, fast unmerklich, und bestätigte damit Lucavions Vermutung. Seine Stimme, obwohl angestrengt, hallte erneut in seinem Kopf wider.
„Ich war … sein vertrauter Begleiter … vor langer Zeit … Wir wurden getrennt … vor einer Ewigkeit …“
Lucavions Augen weiteten sich vor Schock, als ihm die ganze Tragweite der Situation bewusst wurde. Diese Bestie war nicht irgendein Wesen – sie war mit Gerald, seinem Meister, auf eine Weise verbunden, wie es nur ein vertrauter Begleiter sein konnte.
Die Verbindung zwischen einem Erwachten und seinem vertrauten Begleiter war tief und überschritt oft sogar die Grenzen von Leben und Tod.
Aber wenn sie getrennt waren, wie hatte diese Kreatur dann so lange überlebt? Und warum war sie hier, verletzt und allein?
Er sah sich den Körper der Bestie genauer an und bemerkte die Wunden, die ihn entstellten. Einige waren frisch, von seiner eigenen Hand zugefügt, aber andere waren älter, tiefer – Zeugnisse eines langen und schmerzhaften Kampfes.
„Ich verstehe … Deshalb hat mir die Kreatur so ein Gefühl gegeben, aber die Angriffe waren nicht stark.
Es ist von Natur aus stark, aber da es verletzt war, konnte ich es leicht besiegen.“
Lucavions Herz schmerzte vor Schuld und Trauer, als ihm klar wurde, dass das Wesen bereits schwer verletzt war, bevor er es angegriffen hatte.
„Was ist mit dir passiert?“, fragte Lucavion mit kaum mehr als einem Flüstern, als fürchte er, dass zu lautes Sprechen die zerbrechliche Verbindung zwischen ihnen zerstören könnte. „Warum bist du hier? Und wer hat dir das angetan?“
Die Augen der Bestie schlossen sich kurz, als würde sie Kraft sammeln, um weiterzusprechen. Als sie wieder redete, klangen ihre Worte tief erschöpft.
„Ich wurde … verfolgt … gejagt … Jemand … sucht die Essenz … in mir … Sie waren … unerbittlich …“
„Essenz?“, wiederholte Lucavion mit gerunzelter Stirn. „Du bist eine mythische Bestie, nicht wahr?“
Damit ein Biest eine „Essenz“ haben konnte, musste es in der Rangliste der Bestien aufsteigen. Gewöhnliche Monster konnten keine „Essenz“ haben, nur höherrangige Wesen. Eine Essenz zu haben bedeutete zwar nicht direkt, dass es sich um ein mythisches Biest handelte, aber die Tatsache, dass es behauptete, es sei der Vertraute seines Meisters, bedeutete nicht weniger.
Schließlich war es unvorstellbar, dass sein Meister, der einst unzählige Schlachtfelder zerstört und sich einen Namen als einer der Stärksten der Welt gemacht hatte, sich mit weniger zufrieden geben würde.
„Haha… Ich schätze, Geralt würde diese Welt nicht verlassen, ohne dir das beizubringen.“
„Du weißt, dass der Meister tot ist?“
„Natürlich… Vertragsfamilien können spüren, wenn ihre Vertragspartner sterben. Deshalb bin ich schließlich in diesem Zustand.“
Als Lucavion das hörte, sah er die Bestie an. Es war eine kleine wilde Katze, die harmlos aussah.
„Wer ist dann hinter dir her?“
[Was geht dich das an, Junge?]
Gerade als er weitere Fragen stellen wollte, hörte er plötzlich die Frage der Bestie.
Was ging ihn das an?
Lucavions Blick wanderte zurück zu dem sterbenden Wesen. Es war eine kleine, wilde Katze, deren einst bedrohliche Haltung nun durch das Gewicht ihrer Verletzungen und das unvermeidliche Nahen des Todes gemildert war. Allem Anschein nach war es nur ein weiteres Tier in der Wildnis, wenn auch ein intelligenteres. Und doch kniete er hier neben ihr, sein Herz schmerzte vor Sorge, die er sich nicht ganz erklären konnte.
War es einfach, weil sie behauptet hatte, die Vertraute seines Meisters zu sein? Das allein war schon eine bedeutende Verbindung, aber reichte das aus, um so tiefe Gefühle in ihm zu wecken? Lucavions Gedanken rasten und stellten alles in Frage – seine Handlungen, seine Überzeugungen, seine Verbindung zu dem Tier. Warum hatte er ihre Geschichte so bereitwillig geglaubt? Warum hatte er seine Waffe gesenkt und seinen Überlebensinstinkt aufgegeben, um ihren letzten Worten zu lauschen?
Und dann, als hätte jemand einen Schleier von seinen Gedanken gezogen, begann sich die Antwort abzuzeichnen.
Es war nicht nur die Behauptung der Kreatur, Geralds Vertrauter zu sein, oder die Trauer in ihren Augen, oder sogar die Tatsache, dass sie einst mit seinem Meister verbunden gewesen war. Nein, da war etwas Tieferes, etwas Wesentlicheres.
Lucavion schloss die Augen, konzentrierte sich auf sein Inneres und spürte es – eine subtile, aber unverkennbare Reaktion in sich. Der Mann, der ihm übergeben worden war, die Essenz der Lehren und der Kraft seines Meisters, regte sich und reagierte auf die Anwesenheit der Kreatur vor ihm.
Es war ein Gefühl, das er noch nie zuvor erlebt hatte, eine Resonanz, die durch sein Innerstes summte und ihn mit etwas verband, das weit größer war als er selbst.
Die Erkenntnis traf ihn wie eine Schockwelle.
„Es ist die Mana“, dachte Lucavion und riss die Augen auf. „Das Vermächtnis meines Meisters … es reagiert auf dieses Biest.“
Die Mana, die durch ihn floss, die Kraft, die er von Gerald geerbt hatte, war nicht nur ein Werkzeug oder eine Waffe – sie war ein Teil von ihm, eine lebendige Verbindung zu dem Mann, der sein Leben geprägt hatte.
Und jetzt reagierte dieses Mana auf die Anwesenheit dieses vertrauten Wesens, als würde es einen Seelenverwandten oder vielleicht einen alten Gefährten erkennen. Es war, als würde die Essenz seines Meisters aus dem Jenseits nach ihm greifen und ihn dazu drängen, diese Kreatur zu beschützen, um die Verbindung zu ehren, die einst zwischen ihnen bestanden hatte.
Lucavion sah das Tier an, dessen Augen immer noch auf ihn gerichtet waren und voller Schmerz und Neugier waren. Die Frage, die es gestellt hatte, war berechtigt, aber jetzt wusste Lucavion die Antwort.
„Ich kümmere mich darum, weil du ihm wichtig warst“, sagte Lucavion mit fester Stimme. „Und weil das Mana in mir – das Vermächtnis meines Meisters – mir sagt, dass du immer noch wichtig bist.“
Die Augen der Bestie wurden bei seinen Worten weicher, und Lucavion konnte das leise Echo ihrer Gedanken in seinem Kopf spüren.
„Die Verbindung … sie ist immer noch da … selbst nach all dieser Zeit …“, murmelte die Stimme der Bestie, eine Mischung aus Überraschung und Traurigkeit. „Gerald hat gut gewählt … sein Vermächtnis an dich weiterzugeben …“
„Das ist richtig“, murmelte Lucavion und lächelte leicht.
„Ist es Schicksal oder etwas anderes? Ich weiß keine Antwort darauf. Aber eines ist klar. Diese Bestie. Ich werde sie retten.“
Mit diesem Gedanken ließ er langsam seine Mana aus seinem Innersten frei.
„Was … tust du da?“, fragte die Stimme in seinem Kopf und sah ihn an.
„Was sonst? Ich werde dir Mana geben, damit du heilen kannst.“
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