Sebastian stieg die Treppe aus dem Keller hinauf und ließ Lucavion in der kleinen, feuchten Zelle zurück. Die schmale Treppe schien endlos nach oben zu führen, jeder Schritt hallte in der kalten, feuchten Stille wider.
Die Last seiner Verantwortung lastete schwer auf seinen Schultern, und sein Herz schmerzte um den jungen Herrn, den er durch seine prägenden Jahre begleitet hatte.
Schließlich hatte er Lucavion von Geburt an aufwachsen sehen. Er hatte sich um unzählige verschiedene Bedürfnisse von ihm gekümmert.
Als er aus dem Keller trat, umgab ihn erneut die Pracht der Thorne-Villa, die in krassem Gegensatz zu dem trostlosen Raum darunter stand.
Er ging durch die verzierten Korridore, vorbei an Wandteppichen und kunstvoll gearbeiteten Möbeln, von denen jedes einzelne an den einstigen Status der Familie erinnerte.
Die Villa war ein Zeugnis des Erbes der Familie Thorne, aber heute wirkte ihre Pracht hohl.
Sebastian erreichte endlich das große Arbeitszimmer, einen Raum voller Regale mit alten Büchern und einem großen Eichenschreibtisch in der Mitte. Die schwere Tür des Arbeitszimmers stand einen Spalt offen, und von innen hörte er leises Gemurmel. Er holte tief Luft, sammelte sich und klopfte leise an.
„Herein“, sagte die strenge Stimme von Viscount Gerald Thorne.
Sebastian öffnete die Tür und trat ein. Gerald stand am Fenster, den Rücken zur Tür, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die große, imposante Gestalt des Viscounts wurde vom Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel, umrahmt und warf einen langen Schatten über den Raum.
„Mein Herr“, begann Sebastian und verbeugte sich respektvoll. „Ich habe getan, was du mir aufgetragen hast. Der junge Lord Lucavion ist im Keller in Gewahrsam.“
Gerald drehte sich langsam um und fixierte Sebastian mit durchdringendem Blick. „Gut“, sagte Gerald knapp.
In seinem Blick lag eine kalte, berechnende Intensität, gemildert durch die unterschwellige Wut, die Sebastian zuvor gesehen hatte.
„Er wird dort bis zum Prozess bleiben.“
Sebastian nickte, griff dann in seinen Mantel und holte einen versiegelten Umschlag hervor. „Mein Herr, ich habe auch einen Brief aus dem Herzogtum Valoria erhalten. Er ist gerade angekommen und an dich adressiert.“
Geralds Augen verengten sich, als er den Umschlag aus Sebastians ausgestreckter Hand nahm.
Das Siegel der Familie Valoria war unverkennbar, sein kompliziertes Design symbolisierte ihren hohen Status und ihre Macht. Er brach das Siegel auf, faltete den Brief auf und überflog den Inhalt mit wachsender Intensität.
Während Gerald las, wurde die Stille im Arbeitszimmer immer spannungsgeladener. Sebastian stand still da und wartete auf die Reaktion des Vicomte. Er sah, wie Geralds Kiefer sich zusammenpresste und seine Augenbrauen sich tief zusammenzogen, während er die Nachricht des Briefes aufnahm.
Nach einer gefühlten Ewigkeit senkte Gerald den Brief und sah Sebastian an, sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Wut und Entschlossenheit.
„Der Herzog von Valoria hat die Verlobung zwischen Isolde und ihm aufgelöst.“
Als Sebastian das hörte, nickte er. Das war ein erwartbares Ergebnis, etwas Normales. Aber irgendetwas in seinem Herzen fühlte sich seltsam an.
Denn es war unmöglich, dass sein Herr so reagieren würde, wenn das der einzige Inhalt des Briefes wäre.
„Gibt es noch etwas, mein Herr?“, wagte Sebastian mit vorsichtiger Stimme zu fragen.
Geralds Augen verengten sich leicht, als er Sebastian ansah. Er zögerte einen Moment, bevor er mit grimmiger Stimme antwortete. „Ja, das gibt es. Der Herzog wünscht eine Strafe, die einem solchen Verbrechen angemessen ist.“
Sebastian spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. „Eine Strafe, mein Herr?“
„In der Tat“, bestätigte Gerald, und seine Stimme wurde kälter. „Der Herzog und ich waren einst Waffenbrüder, und er schreibt in seinem Brief, dass er mir in dieser Angelegenheit bedingungslos vertraut. Er ist fest davon überzeugt, dass ich alles entsprechend regeln werde.“
Sebastians Herz sank noch tiefer. Mit jedem Wort, das Gerald sprach, wurde ihm die Schwere der Lage klarer. „Was schlägt der Herzog vor, mein Herr?“
Geralds Augen blitzten vor Wut und Entschlossenheit. „Der Herzog betont, dass dieses Ereignis in der gesamten Adelsgesellschaft bekannt ist. Es wurde von der Kirche als eine der schwersten Sünden eingestuft. Daher sollte es Vorrang vor allen anderen Werten haben, um ein gutes Beispiel zu setzen.“
Sebastian schluckte schwer, als er die Schwere der Lage begriff. „Was bedeutet das für den jungen Herrn Lucavion?“
Gerald wandte sich ab und starrte aus dem Fenster, als würde er Trost in der Außenwelt suchen. „Es bedeutet, dass ‚er‘ sich öffentlich und unmissverständlich den Konsequenzen seiner Taten stellen muss. Der Herzog erwartet eine Gerechtigkeit, die sowohl die Adelsgesellschaft als auch die Kirche zufriedenstellt.“
Sebastians Gedanken rasten, während er versuchte, die volle Tragweite von Geralds Worten zu begreifen. Die Strafe würde hart ausfallen müssen und nicht nur Lucavion, sondern die gesamte Familie Thorne treffen. „Wie gedenkst du vorzugehen, mein Herr?“
Gerald seufzte tief, seine Haltung verriet, wie schwer ihm diese Entscheidung fiel. „Wir werden wie geplant ein Gerichtsverfahren durchführen, das der Tradition des Hauses Thorne angemessen ist.“
Sebastian nickte, obwohl sein Herz für den jungen Herrn schmerzte, dem er so lange gedient hatte. Selbst jetzt konnte er noch nicht glauben, wie so etwas passieren konnte.
„Ich verstehe, mein Herr. Ich werde alles vorbereiten.“
Gerald drehte sich wieder zu Sebastian um, sein Gesichtsausdruck entschlossen. „Gut. Wir müssen schnell und entschlossen handeln. Der Ruf und die Zukunft der Familie Thorne hängen davon ab.“
Sebastian verbeugte sich tief. „Ich werde mich darum kümmern, mein Herr.“
Als er das Arbeitszimmer verließ, lastete die Verantwortung schwer auf ihm, und Sebastian musste unweigerlich an Lucavion denken, der allein in der Kälte stand.
„Junger Herr … Warum hast du so etwas getan …“
Aber selbst wenn es das kleine Kind war, das er hatte aufwachsen sehen, musste das Haus immer an erster Stelle stehen.
Das war schließlich sein Kodex.
Also konnte er nur weitermachen.
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Ein junges Mädchen namens Eliza schlich leise durch die Flure des Thorne-Anwesens und wischte mit ihren zarten Händen geschickt den Staub von den verzierten Vasen und polierten Geländern.
Sie war stolz darauf, hier zu arbeiten und in die Fußstapfen ihres Vaters Sebastian zu treten. Die Pracht des Anwesens beeindruckte sie immer wieder, auch wenn es sich mittlerweile wie ihr Zuhause anfühlte.
Sie blieb stehen, um ein Porträt der Familie Thorne zu bewundern, das im Flur hing. Ihr Vater hatte immer viel Gutes über das Vermächtnis der Thorne gesagt, und trotz der jüngsten Ereignisse empfand sie eine gewisse Ehrfurcht vor der Familie. Elizas Bewunderung wurde durch das leise, hastige Flüstern anderer Dienstmädchen aus dem Nebenzimmer unterbrochen.
Neugierig geworden, schlich sie sich näher an die leicht angelehnte Tür der Dienstbotenzimmer heran. Die Stimmen wurden deutlicher.
„Hast du schon von dem jungen Lord Lucavion gehört?“, fragte eine Dienstmagd mit einer Mischung aus Schock und Verachtung in der Stimme.
„Ich habe alles gehört. Man sagt, er sei im Keller eingesperrt worden“, antwortete eine andere Dienstmagd mit einer Stimme voller Mitleid und Neugier.
„Was?“
In dem Moment, als sie das hörte, sank ihr das Herz.
„Der junge Lord Lucavion … ist im Keller eingesperrt?“
Sie wusste, dass ihr Vater heute in etwas Wichtiges verwickelt gewesen war, aber er hatte ihr keine Details erzählt. Sie beugte sich näher heran und wagte kaum zu atmen.
„Es ist ein Skandal. Der Herzog von Valoria selbst hat die Verlobung zwischen Isolde und Lucavion aufgelöst. Untreue … mit Lady Isoldes Schwester …“
„Ich kann es nicht glauben. Arme Isolde“, sagte die erste Zofe mitfühlend. „Sie muss am Boden zerstört sein.“
„Was wird aus Lucavion?“, fragte die zweite Zofe mit gedämpfter Stimme, als könnten die Wände sie hören.
„Der Vicomte plant einen Prozess. Man sagt, es wird ein öffentliches Spektakel, um die adelige Gesellschaft und die Kirche zu besänftigen.“
Elizas Augen weiteten sich, ihr stockte der Atem. Sie presste eine Hand auf ihre Brust und spürte, wie ihr Herz vor Unglauben und Angst raste.
Als junge Magd, die die meiste Zeit mit Hausarbeiten in der Villa verbrachte, hatte sie kaum Kontakt zu Männern.
Sie ging selten nach draußen, und wenn, dann meist, um Dinge einzukaufen, die für die Villa benötigt wurden.
Selbst dann wurde sie immer von einigen älteren Dienstmädchen begleitet.
Aber wie hätte eine junge Dame wie sie all die romantischen Geschichten nicht hören und sich dann nicht als Prinzessin vorstellen können?
Wo wäre der Spaß im Leben, wenn sie das nicht getan hätte? Und wie hätte sie den jungen Herrn nicht bewundern können, der immer höflich zu anderen war und sie freundlich behandelte?
Doch jetzt war genau dieser Lucavion, ihre erste Liebe und der Mann, den sie so lange heimlich bewundert hatte, im Keller eingesperrt und eines schweren Verbrechens beschuldigt.
„Wie konnte das passieren?“, dachte sie und versuchte, die Informationen zu verarbeiten. „Der junge Lord Lucavion … mit Lady Isoldes Schwester? Das kann nicht wahr sein …“
Die Stimmen der Dienstmädchen gingen weiter, ohne ihre Anwesenheit direkt vor der Tür zu bemerken.
„Ich habe gehört, dass das Urteil hart ausfallen wird“, sagte die erste Magd mit düsterer Stimme. „Der Vicomte muss ein Exempel an ihm statuieren.“
„Glaubst du, er wird ihm vergeben werden?“, fragte die zweite Magd mit leicht zitternder Stimme.
„Nein“, antwortete die erste Magd unverblümt. „Der Herzog von Valoria ist unerbittlich. Es muss schwere Konsequenzen geben.“
Elizas Hände zitterten, der Staubwedel, den sie hielt, glitt ihr fast aus der Hand. Sie konnte nicht glauben, was sie hörte. Lucavion, der freundliche und sanftmütige junge Lord, den sie kannte, stand vor einem Prozess, der ihn ruinieren könnte. Der bloße Gedanke daran war unerträglich.
Sie musste mehr erfahren.
Sie musste ihn sehen.
„Bitte … Der junge Lord, den ich kenne, würde so etwas niemals tun.“
Sie wollte es nicht glauben.
Mit entschlossenem Atem legte Eliza den Staubwedel beiseite und schlich sich leise aus den Dienstmädchenquartieren.
Sie bewegte sich schnell durch das Herrenhaus, ihr Herz pochte in ihrer Brust, während sie durch die vertrauten Flure ging.
Sie musste vorsichtig sein; jede verdächtige Bewegung könnte unerwünschte Aufmerksamkeit erregen.
Sie erreichte den Eingang zum Keller, eine schwere Holztür am Ende eines schwach beleuchteten Korridors. Ihr Vater hatte sie immer gewarnt, diese verbotenen Bereiche nicht zu betreten, aber das war ihr jetzt egal.
Sie holte tief Luft, stieß die Tür auf und stieg die schmale Treppe hinunter. Die kalte, feuchte Luft ließ sie erschauern, aber sie ging weiter.
In diesem Moment hörte sie etwas.
„Mutter, bitte, du musst mir glauben. Ich habe nichts Unrechtes getan …“
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Ich bin offen für jede Kritik; ihr könnt gerne kommentieren, was ihr euch für die Geschichte noch wünschen würdet.