Die verlassene Herberge war still – eine seltsame Stille, die dem Team klar machte, wie chaotisch die Nacht gewesen war. Der Wind draußen raschelte an halb zerbrochenen Fensterläden, und ab und zu erinnerte ein fernes Grollen aus dem Herzen von Luthadel sie an das Chaos, das sie hinter sich gelassen hatten.
Das Gebäude selbst, das einst wahrscheinlich eine bescheidene Unterkunft für reisende Händler gewesen war, zeigte Spuren der Nichtbenutzung: eine verzogene Eingangstür, die an losen Scharnieren hing, ein paar wackelige Tische, die in einem Gemeinschaftsraum verstreut standen, und eine Treppe, bei der ganze Teile des Geländers fehlten. Trotz des erbärmlichen Zustands reichte es aus. Es war weit weg von der unmittelbaren Gefahr, und das war im Moment alles, was sie brauchten.
Sie gingen hinein, sahen sich kurz um und schlossen die schiefen Fensterläden so gut es ging. Kerzenlicht flackerte in der Dunkelheit, und jemand fand eine Laterne in einem Schrank unter der Treppe. Als sie sie anzündeten, warf ihr sanftes, flackerndes Licht ihre Schatten an die Wände, die mit abblätternder Tapete bedeckt waren. Jede Bewegung war von Erschöpfung geprägt, ihre Glieder waren schwer und ihre Gedanken träge.
Zum ersten Mal seit Beginn des Chaos ließen sie sich Zeit zum Atmen.
Mikhailis sank auf die Kante eines zersplitterten Holztisches. Er konnte das Gewicht des Nebels spüren, das selbst hier auf ihn drückte, obwohl niemand sonst es so wahrzunehmen schien wie er. Seine Fingerspitzen trommelten gedankenverloren auf die raue Oberfläche des Tisches. Es haftet immer noch an mir, dachte er, erstaunt und beunruhigt zugleich.
Er musste es nicht sehen, um zu wissen, dass es da war – eine ungreifbare Präsenz, die schwach im Takt seines Herzschlags pulsierte. Es war wie ein Echo in seinem Kopf, eine halb vergessene Melodie, die nicht aufhören wollte zu spielen.
Lira stand mit verschränkten Armen vor ihm, ihre Haltung trotz der Erschöpfung, die sich in ihren Gesichtszügen abzeichnete, war starr. Sie war alles, was Gerüchte über eine königliche Zofe versprachen: elegant, selbstbewusst, schön und äußerst loyal.
Aber gerade jetzt lag eine Spannung in ihren Augen, die Mikhailis selten sah. Er erkannte die Sorge, die sich hinter ihrer Maske der Gelassenheit verbarg.
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„Du hast da drin etwas gespürt“, sagte Lira, und ihr Tonfall war eher eine Feststellung als eine Frage. Das Kerzenlicht spiegelte sich in ihren dunklen Augen und verriet, wie aufmerksam sie ihn beobachtete.
Mikhailis atmete langsam aus.
Einen Moment lang überlegte er, mit einem Witz abzulenken – vielleicht etwas wie „Nun, ich habe Kopfschmerzen, zählt das auch?“ –, aber er sah die Ernsthaftigkeit in ihrem Blick. Stattdessen nickte er. „Der Nebel ist nicht nur wilde Energie“, begann er und suchte nach den richtigen Worten. Die Erinnerung an diesen jenseitigen Ort war noch immer präsent und ließ seine Brust zusammenziehen. „Er ist … lebendig. Und er kennt mich.“
Liras Lippen öffneten sich leicht, aber sie sagte nichts. Sie schien darauf zu warten, dass er weiterredete, dass er erklärte, was genau es bedeutete, dass der Nebel lebendig war. Mikhailis wollte es erklären, aber er wusste nicht, wie. Diese Erfahrung passte nicht in die klaren Kategorien, mit denen er normalerweise die Welt verstand. Er konnte es nicht mit einfachen Worten wie „Magie“ oder „Essenz“ zusammenfassen. Es war irgendwie größer als das.
Beide schauten auf, als sich die Tür der Herberge wieder öffnete und einen kurzen kalten Luftzug hereinließ. Cerys und Vyrelda schlüpften hinein und schlossen die Tür hinter sich. Sie waren angespannt und ließen ihre Blicke durch den Raum schweifen, um nach Gefahren Ausschau zu halten. Als sie sich vergewissert hatten, dass keine unmittelbare Gefahr bestand, näherten sie sich dem Tisch.
Cerys‘ roter Pferdeschwanz klebte schweißnass an ihrem Nacken, und sie hatte eine Beule an der Wange, aber ihre Augen waren so scharf wie immer. Vyrelda hingegen sah etwas zerzaust aus, ihre sonst so ordentliche Frisur war zerzaust, und die Sorgenfalten in ihrem Gesicht waren tiefer als sonst.
„Wir haben etwas gefunden“, verkündete Vyrelda. Ihre Stimme klang knapp, jedes Wort präzise, als wolle sie keinen einzigen Atemzug verschwenden. Sie zog einen kleinen Datenkristall aus ihrer Gürteltasche und warf ihn auf den Tisch.
Mikhailis hob ihn auf. Er fühlte sich warm an und pulsierte mit schwachen Spuren arkaner Energie. Was auch immer er enthielt, war wahrscheinlich durch alle möglichen komplexen Verschlüsselungen geschützt.
Dass Vyrelda und Cerys ihn an sich genommen hatten, sprach Bände über die Risiken, die sie im Turm der Technomanten eingegangen waren.
Lira trat vor und nahm Mikhailis den Kristall geschickt aus der Hand, ihre Bewegungen waren trotz ihrer Müdigkeit anmutig.
Sie war es gewohnt, mit magischen Gegenständen umzugehen, auch wenn ein Datenkristall eher eine Erfindung der Technomanten war als die verzauberten Artefakte, mit denen sie normalerweise zu tun hatte. Sie hielt ihn an die Laterne und drückte einen kleinen Schalter an der Unterseite des Kristalls, woraufhin ein leises Piepen ertönte. Dann begann ein sanftes Leuchten aus seinem Inneren zu strahlen, das wie ein verstecktes Glühwürmchen flackerte.
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als codierte Textzeilen über die Oberfläche des Kristalls flackerten. Sie konnte sie in kleinen, leuchtenden Abschnitten lesen – wie eine winzige Schriftrolle. Der Rest der Gruppe verstummte und wartete. Rhea verschränkte die Arme und tippte unruhig mit dem Fuß auf die verzogenen Dielen, während Cerys und Vyrelda von beiden Seiten des Tisches aus zusahen. Mikhailis blieb sitzen und spürte immer noch das seltsame Gefühl des Nebels, der um ihn herum wirbelte.
Nach einem Moment runzelte Lira die Stirn. „Die Technomanten haben das Nebelunterdrückungsnetzwerk nicht erschaffen“, murmelte sie, als würde sie mit sich selbst sprechen. Sie sah auf und begegnete den Blicken aller Anwesenden. „Sie haben es von einer verlorenen Zivilisation geerbt.“
Mikhailis runzelte die Stirn. „Geerbt?“, wiederholte er, nicht ganz sicher, ob ihm das gefiel. „Das heißt … sie haben es gefunden? Oder es für sich beansprucht, nachdem jemand anderes es aufgegeben hat?“
„So in etwa“, sagte Lira und schaute sich die Daten genauer an. Ihre Stimme klang irgendwie abwesend, als würde sie gleichzeitig lesen und reden. „Die Infos sind alt und lückenhaft. Aber ich kann Hinweise auf eine Gruppe zusammenfügen, die schon vor der modernen Zeit von Luthadel existierte. Anscheinend haben sie dieses Netzwerk aus einem Grund aufgebaut, der nichts mit der Kontrolle der Bevölkerung zu tun hatte.“
Cerys rückte zur Seite und lehnte sich gegen ein kaputtes altes Bücherregal. „Also sind die Technomanten einfach darauf gestoßen und haben beschlossen, es für ihre eigenen Zwecke zu nutzen“, schlussfolgerte sie. „Typisch.“
Lira nickte. „Ja. Und es scheint einen Grund gegeben zu haben, warum es überhaupt existierte – etwas mit zwei Schlüsseln.“ Sie tippte auf den Kristall, ihr Gesicht wurde von dem winzigen Schein erhellt.
„Sie nannten es das Serewyn-System, in Anlehnung an zwei wesentliche Komponenten, die zusammenwirken müssen.“
Daraufhin räusperte sich Vyrelda. Sie trat an den Tisch und sah unruhig aus. „In der Akte steht, dass das Serewyn-System mit zwei Schlüsseln konzipiert wurde“, sagte sie. „Der eine ist der Nebelgeborene Wächter – das Wesen, das wir in der Stadt gesehen haben. Der andere ist … der Souveräne Katalysator.“
Mikhailis spürte ein kaltes Flattern in der Magengrube und bemerkte, dass auch alle anderen erstarrten. Dieses monströse Ding war also nur die Hälfte dessen, was das alte System eigentlich sein sollte. Das beruhigte ihn kaum. Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht und versuchte, etwas Ruhe zu finden. „Das Wesen greift also nicht einfach wahllos an?“, fragte er mit leiserer Stimme als beabsichtigt. „Es sucht nach seinem fehlenden Gegenstück.“
Rhea stieß einen leisen Pfiff aus und trat von einem Fuß auf den anderen. „Das ist … schlecht“, sagte sie einfach. Ihre übliche Schlagfertigkeit war verschwunden und hatte etwas echtes Entsetzen gemacht. Vorher hätte sie vielleicht noch darüber gescherzt, aber der Anblick des Chaos auf den Straßen hatte allen gezeigt, wie ernst die Lage war.
Lira schloss die Augen und atmete durch die Nase aus. „Das Kronlose Haus hat nicht versucht, Macht freizusetzen“, sagte sie leise. Ihr Blick huschte zu Mikhailis, dunkel und ernst. „Sie haben versucht, den Souveränen Katalysator zu zwingen, sich zu zeigen.“
Bei diesen Worten überkam Mikhailis ein schrecklicher Schauer. Ihn zwingen, aufzutauchen … woher? Aus wem? Er wagte es nicht, die Frage auszusprechen, doch der Gedanke ließ ihn nicht los. Er erinnerte sich an das Stimmengewirr in der Leere, an das ungreifbare Gefühl, dass etwas in ihm mit dem Nebel mitschwang. Bin ich …? Er wollte den Gedanken nicht zu Ende denken, nicht hier, nicht jetzt.
Eine Stille lastete auf ihnen, so dicht, dass man sie fast schmecken konnte. Draußen rüttelte der Wind an den zerbrochenen Fensterläden, und die Kerze flackerte im Zugluft. Die Herberge kam ihm kleiner vor als noch vor wenigen Augenblicken, als hätte die Wahrheit, die auf ihnen lastete, den Raum ausgefüllt.
„Das Haus ohne Krone hat versagt“, sagte Cerys schließlich mit gedämpfter Stimme. Sie rieb sich eine leichte Prellung am Unterarm, ein Andenken an den Turm der Technomanten. „Sie haben versucht, diesen Katalysator zu holen, aber stattdessen den Wächter erwischt. Jetzt zahlt die Stadt den Preis dafür.“
„Und dieser Wächter ist wütend“, fügte Vyrelda hinzu. Sie legte den Datenkristall beiseite und trat davon, als könne sie ihn nicht länger halten. „Er wird größer. Wir haben ihn vom Turm aus gesehen. Er ist nicht nur chaotisch, er … sucht etwas.“
Mikhailis lehnte sich in seinem wackeligen Stuhl zurück und spürte, wie er unter ihm schwankte. In seinem Kopf schwirrten alle möglichen Gedanken herum. Wenn das Kronlose Haus von Anfang an davon gewusst hatte, dann waren all ihre rebellischen Aktionen – die Sabotage, das Eindringen in die alten Tunnel der Stadt, sogar die Angriffe auf die Technomanten – ein verzweifelter Versuch gewesen, die fehlende Hälfte des Systems aufzudecken. Aber warum etwas so Gefährliches ans Licht bringen? fragte er sich.
Sie mussten doch wissen, dass das weitreichende Zerstörung zur Folge haben würde. Oder vielleicht dachten sie, sie könnten es kontrollieren …
„Also, wie sieht der Plan aus?“, fragte er laut und sah jeden nacheinander an. Er war kein Neuling in Sachen Strategie – er mochte zwar leichtfertig wirken, aber er war immer noch ein Prinzgemahl, der mit den Feinheiten der königlichen Politik vertraut war. Wenn sie eine solche Bedrohung bewältigen wollten, brauchten sie eine Richtung.
Vyrelda trat vor und zog ein altes Pergament unter ihrem Umhang hervor. Sie breitete es auf dem Tisch aus und achtete darauf, die flackernde Kerze nicht umzustoßen. „Wir haben noch eine Spur“, sagte sie und tippte auf einen Teil der Karte. „Es gibt einen Hinweis auf einen weiteren Serewyn-Schlüssel, der unter der Stadt versteckt ist, wahrscheinlich in den Katakomben, die mit den ältesten Teilen von Luthadel verbunden sind.“
Alle rückten näher zusammen. Rhea verzog das Gesicht, als sie die gezackten Linien sah, die das Labyrinth darunter darstellten. „Na toll. Unterirdische Ruinen. Wahrscheinlich verflucht. Auf jeden Fall gefährlich. Als ob die Nacht heute noch nicht aufregend genug gewesen wäre, oder?“
Mikhailis musste grinsen. „Ich meine, wenn ich schon ein prophezeiter Nebelherrscher sein soll“, sagte er, um die Stimmung aufzulockern, „dann kann ich mich auch darauf einlassen.“ Er warf Lira einen Blick zu und erwartete halb, dass sie mit den Augen rollen würde. Sie enttäuschte ihn nicht – sie warf ihm diesen „Wirklich, Eure Hoheit?“-Blick zu, der ihm mittlerweile so vertraut war.
„Du nimmst das zu leicht“, sagte Lira leise, obwohl ein leises Seufzen verriet, dass sie wusste, dass dies nur seine Art war, damit umzugehen.
Er zuckte mit den Schultern, das Grinsen blieb. „Hey, das ist meine Bewältigungsstrategie“, antwortete er und hob spielerisch die Hände, als würde er sich ergeben. „Du willst doch nicht, dass ich anfange zu weinen, oder? Das würde meinen charmanten Charme ruinieren.“
Rhea hätte fast laut gelacht, konnte sich aber zurückhalten. Cerys schüttelte den Kopf, während ein leichtes Lächeln um ihre Mundwinkel spielte. Für einen Moment ließ die Anspannung im Raum nach und machte einer leichten Kameradschaft Platz. Klar, sie waren in Gefahr, eine monströse Kreatur riss die Stadt auseinander, aber sie steckten auch gemeinsam in dieser Lage – und es war besser zu lachen, als vor Angst zu erstarren.
Lira beobachtete ihn noch einen Moment länger, dann nannte sie ihn einen Idioten, aber in einem Ton, der alles andere als beleidigend war. Tatsächlich schwang etwas anderes in ihrer Stimme mit – vielleicht Zuneigung. Sie machte sich zweifellos Sorgen um ihn, aber sie vertraute ihm auch. Dieses Vertrauen legte eine Verantwortung auf Mikhailis‘ Schultern, von der er nicht ganz sicher war, ob er ihr gewachsen war.
Er bemerkte, dass ihr Gesichtsausdruck im schwachen Laternenlicht von Erleichterung geprägt war. Vielleicht musste sie sehen, dass er noch scherzen konnte, dass er nicht völlig überwältigt war von dem Wahnsinn, der um sie herum tobte. In Momenten wie diesen wurde ihm klar, dass Humor nicht nur für ihn selbst da war – er war für alle da. Eine Möglichkeit, die Stimmung aufrechtzuerhalten, wenn die Welt kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Mikhailis stieß sich mit einem Seufzer vom Tisch ab und ging zu ihr hinüber. Er legte eine Hand auf ihre Schulter und ließ sie kurz dort liegen. „Ich weiß“, sagte er mit leiser Stimme, die nur sie hören konnte. „Aber wenn ich nicht lache, werde ich verrückt.“ Lira sagte nichts, aber ihr Blick wurde weicher, was ihm sagte, dass sie ihn verstand.
Dann wandte er sich den anderen zu und musterte ihre Gesichter.
Rhea sah kampfbereit aus, ihre Augen brannten vor Entschlossenheit. Vyrelda warf immer wieder einen Blick auf den Datenkristall und das Pergament, während ihr Verstand offensichtlich jede Möglichkeit durchging. Cerys verschränkte die Arme und strahlte unerschütterliche Entschlossenheit aus, wie eine Ritterin, die ihre Mission bis zum Ende durchziehen würde. Jeder von ihnen hatte sein Leben für diesen Moment riskiert, für Antworten, die eine Katastrophe von epischem Ausmaß verhindern könnten.
Die Kerze flackerte und warf Schatten an die rissigen Wände. In der Ferne drangen leise Echos der Unruhen in der Stadt herüber – eine Erinnerung daran, dass ihre Zeit knapp wurde. Die Nebelgeburt würde nur noch instabiler werden, wenn sie nicht handelten. Und wenn die Geschichten über einen zweiten Schlüssel wahr waren, dann war das vielleicht ihre einzige Hoffnung, Luthadel vor dem völligen Untergang zu retten.
„Okay“, sagte Mikhailis und atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Der schwache Puls des Nebels streifte erneut seine Sinne und ließ ihn erschauern. Bin ich wirklich der Katalysator? Die Frage schoss ihm durch den Kopf, aber er verdrängte sie. Das ist jetzt nicht wichtig, dachte er. Wir müssen Antworten finden, bevor alles auseinanderfällt.
Er zwang sich zu einem Grinsen und konzentrierte sich auf die Karte und die markierte Stelle der Katakomben unter der Stadt. Schon das Wort „Katakomben“ ließ ihm einen kleinen Schauer über den Rücken laufen – ein unterirdisches Labyrinth aus Dunkelheit, Gräbern und wer weiß was noch alles. Aber er hatte heute Nacht schon genug Gefahren erlebt, da würden ihn ein paar bröckelnde Tunnel nicht abschrecken.
„Ja, ja“, sagte er und grinste noch breiter, als er ein letztes Mal Liras Blick traf. „Lass uns diesen Schlüssel suchen.“