„Du warst nie Kain, oder?“
Das Lachen verstummte.
Etwas veränderte sich. Ein Funken Widerstand, ein tiefer innerer Kampf spielte sich hinter Kains ausdruckslosem Blick ab. Sein Gesicht verzerrte sich, sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, aber es kamen keine Worte heraus. Seine Muskeln zitterten, sein Kiefer war so fest zusammengebissen, dass es schien, als würde er etwas zurückhalten – etwas, das sich zu befreien versuchte.
Dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, änderte sich alles.
Die Spannung löste sich auf. Der Kampf hörte auf. Sein Körper entspannte sich auf dem Steinboden, als wäre alles nur ein ausgeklügelter Scherz gewesen. Seine Lippen verzogen sich zu einem langsamen, spöttischen Grinsen.
Und dann sprach er.
„Ihr seid alle am Arsch, ihr Motherfucker.“
Der Raum erstarrte.
Eine Welle ging durch alle Anwesenden, nicht wegen der Vulgarität der Aussage, sondern wegen der Art, wie sie gesagt wurde. Es war nicht Kains Stimme. Es war niemandes Stimme.
Es war falsch.
Eine verdrehte Verhöhnung des Mannes, den sie kannten, etwas, das einfach nicht stimmte. Wie eine Stimme, die menschliche Sprachmuster imitiert, aber den Ton nicht richtig trifft.
Die Worte trieften vor Belustigung, aber darunter lag etwas Tieferes, etwas Beunruhigendes.
Veylan reagierte nicht.
Er beobachtete nur und wartete.
Kain – oder was auch immer von ihm Besitz ergriffen hatte – neigte den Kopf, seine Augen glänzten vor unausgesprochener Bosheit. Er beugte sich trotz der Fesseln vor, seine Haltung war unheimlich entspannt, als würde er in einer Taverne sitzen und nicht von einem Dutzend hoch trainierter Agenten festgehalten werden.
„Du hättest mich töten sollen, als du die Chance dazu hattest“, sinnierte er, seine Stimme jetzt leichter, fast spielerisch. „Aber du hast gewartet, gezögert, und jetzt? Jetzt ist es zu spät.“
Veylan blieb ungerührt, sein Blick unerschütterlich, aber in seinem Inneren arbeitete sein Verstand auf Hochtouren.
Das war keine Besessenheit.
Keine gewöhnliche Gedankenkontrolle.
Etwas Schlimmeres.
_____
Die Kammer war voller Spannung, die Luft schwer vom Geruch brennenden Weihrauchs und altem Pergament. Die Fackeln an den Wänden flackerten und warfen unregelmäßige Schatten auf den kalten Steinboden. Die Gedanken-Alchemisten des Ordens arbeiteten unermüdlich, ihre Hände webten sich durch die unsichtbaren Fäden von Kains Bewusstsein und schälten mit chirurgischer Präzision die Schichten seines Geistes ab.
Sie fanden nichts.
Nichts war fehl am Platz. Keine Lücken in seinen Erinnerungen. Keine gewaltsamen Eingriffe. Keine Anzeichen von grober Gedankenkontrolle.
Er war Kain Varros. Ein Stratege des Ordens. Ein treuer Offizier. Ein Mann, der für ihre Sache geblutet und gekämpft hatte. Er erinnerte sich an seine Kindheit – an die staubigen Straßen von Eredal, wo er mit Holzschwertern gegen die älteren Jungs trainiert hatte. Er erinnerte sich an den scharfen Geruch von Leder und Stahl aus den Kasernen, wo er seine Jugend damit verbracht hatte, seine Fähigkeiten zu verbessern. Er konnte sich an die Missionen erinnern, die er angeführt hatte, an die Schlachten, die er gewonnen hatte, an die Soldaten, die er verloren hatte.
Er erinnerte sich nicht daran, sie verraten zu haben.
Er erinnerte sich nicht daran, seine Klinge gegen seine Kameraden erhoben zu haben.
Er erkannte die Stimme nicht, die aus seinem Mund gekommen war.
Aber wenn er unter Druck gesetzt wurde, wenn er gezwungen wurde, sich seinen Taten zu stellen, veränderte sich etwas in ihm. Sein Gesichtsausdruck flackerte wie eine Kerze, die von einem unsichtbaren Wind erfasst wurde. Sein Atem wurde langsamer. Und dann kehrte die Stimme zurück.
Spöttisch. Verspottend.
„Du hättest mich töten sollen, als du die Chance dazu hattest.“
Jedes Mal veränderte sich seine Haltung – seine Muskeln spannten sich an, seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, das nicht zu ihm passte. Es war, als würde etwas unter seiner Haut versuchen, sich seinen Weg nach draußen zu bahnen, etwas, das wusste, dass es schon gewonnen hatte, lange bevor sie überhaupt angefangen hatten zu kämpfen.
Veylan stand im Schatten und beobachtete ihn. Er überlegte.
Malakar, der nie besonders geduldig war, verlor schließlich die Beherrschung. Er trat vor, sein massiger Körper warf einen langen Schatten auf die gefesselte Gestalt von Kain. Seine Stimme war hart, scharf wie eine Klinge. „Wir töten ihn jetzt, bevor sich das, was auch immer das ist, ausbreitet.“
Veylan sah ihn nicht an. Sein Blick blieb auf Kain geheftet, er beobachtete, wie die Brüche in dessen Geist sich wie Risse in Glas verschoben.
„Noch nicht.“
Malakar atmete durch die Nase aus, seine Nasenflügel bebten. „Willst du warten, bis das, was ihm das angetan hat, auch jemand anderem antut?“
Veylan drehte sich endlich um, sein Gesichtsausdruck so undurchschaubar wie immer. „Ich will wissen, wer noch umgedreht wurde.“
Es wurde still im Raum, eine schwere, erstickende Stille.
Einer der Technomanten zögerte, seine Finger zitterten, als er Runen in die Luft über Kains gefesselten Körper zeichnete. Sein Gesicht war blass, sein Blick huschte zwischen dem Inquisitor und dem gefangenen Mann vor ihm hin und her.
„Sir …“, schluckte der Technomant schwer. „Wir haben etwas gefunden.“
Die anderen Alchemisten, die still beobachtet hatten, wurden sofort aufmerksam. Die Luft im Raum schien sich zu verdichten, als Veylan einen Schritt nach vorne machte, seine Präsenz erstickend intensiv.
„Erkläre das.“
Die Stimme des Technomanten war kaum mehr als ein Flüstern. „Seine Erinnerungen – ein Teil davon fehlt nicht, aber … er ist verschlossen.
Als hätte jemand sie hinter einer unsichtbaren Wand versiegelt.“
Das erregte Veylans volle Aufmerksamkeit.
Sein Blick wurde schärfer, die kalte Berechnung in seinen Augen verwandelte sich in etwas Dunkleres, etwas weitaus Gefährlicheres.
Gedächtnisblockaden waren nichts Ungewöhnliches. Der Orden setzte sie für seine geheimsten Missionen ein – für Agenten, die Informationen mit sich trugen, die selbst unter Folter nicht preisgegeben werden durften. Aber diese Blockaden waren sorgfältig konstruiert, von Experten entwickelt und mit eindeutigen Markierungen versehen.
Das hier war nicht von ihnen.
Jemand anderes hatte das getan.
Jemand, der wollte, dass Kain nützlich blieb … bis zu dem Moment, in dem er es nicht mehr war.
Veylans Finger trommelten nachdenklich gegen den Griff seines Dolches.
„Entsperrt es.“
Der Technomant wurde noch blasser. „Sir, wenn wir das Siegel brechen, ohne zu wissen, wie es konstruiert ist …“
„Entsperrt es.“
Einen Moment lang zögerten sie. Dann machten sich die Alchemisten an die Arbeit.
Sie begannen den heiklen Vorgang und schlängelten sich mit magischen Fäden, die so dünn waren, dass sie kaum zu sehen waren, durch Kains Bewusstsein. Es war, als würden sie einen Teppich entwirren, der von unsichtbaren Händen gewebt worden war, wobei sie darauf achteten, keinen einzigen Faden zu zerreißen, damit nicht der gesamte Geist zusammenbrach.
Kains Körper zuckte.
Seine Finger krallten sich in die Fesseln.
Die Stimme – nein, seine Stimme – entrang sich seinen Lippen in einem gebrochenen Flüstern.
„Nicht.“
Veylan neigte leicht den Kopf. „Warum nicht?“
Ein Schauer durchlief Kains Körper, sein Atem ging unregelmäßig. Er kämpfte gegen etwas Unsichtbares, sein eigener Körper verriet ihn mit langsamen, ruckartigen Bewegungen. Ein erstickter Laut kam aus seiner Kehle, halb Flehen, halb Knurren.
„Weil, wenn du es tust …“ Seine Lippen verzogen sich erneut, doch diesmal war das Grinsen verzerrt, ungleichmäßig. Nicht sein Grinsen.
„Sie werden es erfahren.“
Eine Welle der Unruhe durchlief den Raum.
Veylan rührte sich nicht. „Wer?“
Kains Kopf schnellte hoch, seine Augen weiteten sich. „Sie werden es erfahren.“
Dann zuckte sein Körper. Lies die neuesten Kapitel auf My Virtual Library Empire
Die Luft im Raum wurde scharf, geladen mit etwas Rohes und Unnatürlichem. Die Alchemisten wichen zurück, als eine plötzliche Welle von Energie durch Kains Fesseln knisterte und einige der schwächeren Siegel zerbrach. Er rang nach Luft, Schweiß tropfte ihm von den Schläfen, während er kämpfte.
Nicht gegen sie.
Gegen sich selbst.
Der Moment dehnte sich, erfüllt von etwas Unsichtbarem. Kains Lippen öffneten sich und formten Worte, die nicht zu ihm gehörten.
„Sie sind schon hier.“