Das Schiff segelte in Richtung des Wolkenpiercing-Kontinents und kam eine Woche nach der Abfahrt an der Küste des Königreichs Jiao an. Dann fuhr es entlang der Küsten des Äußeren Ozeans in Richtung des Wolkenpiercing-Reiches.
An der Außenseite des Kontinents gab’s eine kleine Bucht, die für Wu Longs Zwecke ziemlich praktisch war, da sich die Wolkenpiercing-Sekte auf der einen Seite befand und die Hauptstadt des Reiches in der Nähe des innersten Teils der Bucht lag.
Auf ihrem Weg gab es mehrere Angriffe von Dämonischen Meeresbestien der 9. Stufe, aber die wurden entweder von den Mitgliedern der Dao-Familie als Zielübungen benutzt oder von den Damen des Frozen Garden Palace abgewehrt.
In dieser Zeit erforschte Wu Long seine Kultivierung, da er nun über Hong Yes Yin-Qi und ihr angeborenes Yin-Qi verfügte.
Letzteres wollte er aber erst nutzen, wenn er einen Weg gefunden hatte, sich weiter zu kultivieren, da es zu wertvoll war, um es für Experimente zu verschwenden.
Er verfeinerte das Yin-Qi in kleinen Dosen und versuchte, seine Kultivierung weiter voranzutreiben, aber das erhöhte nur die Menge an spirituellem Qi im Ring um den Kern, und im Kern selbst war keine Veränderung zu spüren.
Auch der Ring zeigte keine spürbaren Veränderungen, abgesehen von den erhöhten Reserven in seinem Inneren.
Er versuchte, den Kern mit ihm bekannten Methoden zu untersuchen, aber nichts funktionierte, sodass er ein völliges Rätsel blieb.
Eines Nachts während der Wochen der Reise, als er meditierte und über seine Kultivierung nachdachte, sah er einen einsamen Schatten auf einem unteren Deck.
Die Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, als er aufstand und einen Schritt nach vorne machte, um sich lautlos nicht weit von der Gestalt entfernt zu positionieren, während purpurrote Augen ihn ansahen, die einen Kontrast zu dem schneeweißen Haar bildeten, das vom ziemlich rauen Nordwind des Herbstes zerzaust wurde.
„Du hast mich gerufen, und hier bin ich“, lächelte er, als sie ihre Augen zu Schlitzen zusammenkniff und ihn ansah.
„Ich habe dich nicht gerufen.“
„Natürlich nicht.“
Ihr Blick verriet, dass es ihr nicht gefiel, dass er sie so leicht durchschaute.
„Und du behauptest immer noch, dass deine Technik keine Gedankenkontrolle beinhaltet?“, fragte sie, während er leise lachte.
„Ich brauche keine Technik, um zu verstehen, was es bedeutet, wenn jemand, der selten ohne seine Geschwister zu sehen ist, allein unter dem Balkon vorbeigeht, auf dem ich normalerweise abends meditiere“, antwortete er gemächlich, während er zur Brüstung ging und auf das Meer blickte, während sie ihn weiterhin beobachtete.
„Selbst wenn das stimmt, ist dir doch klar, dass es dir nicht gerade hilft, wenn du mir meine Gedanken verrätst, egal wie du das machst, oder?“
„Ich will nicht lügen und sagen, dass ich etwas nicht sehe, wenn ich es sehe“, sagte er lächelnd und schüttelte den Kopf, während er die kalte Luft der nördlichen Nacht einatmete.
„Du bist ziemlich rätselhaft“, sagte sie mit einem etwas verwirrten Blick.
„Haha, ich sehe das genau umgekehrt. Ich bin ziemlich einfach, viel einfacher, als du denkst, und genau deshalb hast du Schwierigkeiten, meine Motive zu verstehen. Du verwendest einfach einen zu komplexen Maßstab“, sagte er, drehte sich zu ihr um, stützte beide Ellbogen lässig auf das Geländer und lehnte sich mit dem Rücken daran.
„Du behauptest also, dass deine Handlungen genau das sind, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen …“
„Stimmt, du musst aber genauer sagen, welche Handlungen du meinst, aber die, die du ansprichst, sind es auf jeden Fall.“
„Ist das nicht ein bisschen schwer zu glauben? Derjenige, der das tun würde, müsste ziemlich naiv sein.“
„Mm, das bestreite ich nicht. Aber trotz aller Wahrnehmungen ist es trotzdem wahr, und jede Meinung, die das bestreitet, ändert nichts an der Tatsache, dass es so ist.“
„…“, Hong Yues intensiver Blick verriet ihre Zurückhaltung, seine Worte für bare Münze zu nehmen.
„Okay. Denk dir das schlimmste Motiv aus, das ich haben könnte. Und vergleiche dann meine aktuellen Handlungen und meine Einstellung mit den alternativen Wegen, mit denen ich dieses vermeintliche Ziel erreichen könnte“, wechselte er dann die Taktik und ging von der negativen Argumentation weg.
„…“, ihre Lippen bewegten sich einen Moment lang und erstarrten dann, während sie einen verwirrten Ausdruck zeigte, dann veränderte sich ihr Blick erneut und sie öffnete den Mund, um diesmal zu sagen: „Die Tatsache, dass ich kein Motiv kenne, bedeutet nicht, dass es kein Motiv gibt, das ein solches Verhalten erfordert.“
„Hahaha, da hast du mich erwischt, das war allerdings ein guter Versuch, oder?“, lachte er, da er sich der logischen Schwäche dieses Arguments bewusst war.
„Mir scheint, du nimmst dieses Gespräch nicht ernst“, seufzte sie und wandte sich ab, da sie offenbar keine Antwort von ihm bekommen würde.
„Zieh keine voreiligen Schlüsse, ich meine es sehr ernst. Ich wollte nur, dass du selbst die Möglichkeiten auslotest und siehst, ob dir etwas einfällt, das ich dir erklären muss“, sagte er hinter ihr, sodass sie stehen blieb und sich wieder zu ihm umdrehte.
Er lächelte, als er das sah.
„Was du letztendlich wissen willst, ist nicht, ob die Bahshi-Geisteraugen, die ich in der Höhle benutzt habe, die Fähigkeit haben, Gedanken zu kontrollieren, oder irgendwelche Details darüber, wie ich bestimmte Dinge weiß oder sogar warum und wie ich diese Techniken beherrsche“, fuhr er fort, während ihr Blick verriet, dass ihr Gedanken durch den Kopf schwirrten.
„All das ist nur ein Herumtanzen um das, was dich am meisten beschäftigt, weshalb ich mich nicht die Mühe gemacht habe, darauf richtig einzugehen“, zuckte er mit den Schultern, gab seine entspannte Haltung auf, richtete sich auf und näherte sich ihr langsam.
„Was du letztendlich wissen willst, ist, ob ich dein Feind bin“, seine Worte lösten eine deutliche Reaktion in ihrem Blick aus, während er fortfuhr: „Also werde ich dich fragen, wer dein Feind ist.“
Er blieb direkt vor ihr stehen und sah ihr in die Augen.
„Diejenigen, die uns Schwestern Schaden zufügen wollen“, antwortete sie ohne zu zögern.
„Dann liegt die Antwort auf die Kernfrage nicht in diesen Details, sondern ist ganz einfach. Ich bin nicht dein Feind, weil ich dir nichts Böses will. Du musst mir nicht glauben, das ist okay. Aber ich glaube, dass meine bisherigen Handlungen zumindest eine abwartende Haltung rechtfertigen“, sagte er am Ende seiner Rede und wechselte wieder zu einem lockeren und verspielten Tonfall.
„Deine früheren Worte, dass man keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte, bezogen sich nicht nur auf dieses Gespräch, oder?“, fragte sie mit einer gewissen Erkenntnis, und er lächelte.
„Du hast Zeit, um herauszufinden, ob ich dir Schaden zufügen will. Warum solltest du diese Zeit nicht nutzen, um eine sofortige Entscheidung zu treffen? Nutze sie. Du bist in einer einzigartigen Position, in der Skepsis und Zweifel erlaubt sind, sogar willkommen“, sagte er in ruhigem Ton.
„Du bist unglaublich geduldig und großzügig gegenüber jemandem, der an dir zweifelt“, sagte sie und kniff die Augen zusammen.
„Hahaha, genau deshalb sage ich, dass du in einer einzigartigen Position bist, denn nicht jeder bekommt die gleiche Höflichkeit zuteil. Ich bin nur deshalb so geduldig, weil du Ye’er sehr am Herzen liegst und weil ich letztendlich etwas Gutes in dir sehe“, sagte er mit einem leichten Lachen, während sie ihn noch eine Weile mit dem gleichen Gesichtsausdruck ansah.
Nach einer Weile nickte sie still und verschwand in der Dunkelheit, als der Mond von einer Wolke verdeckt wurde.
„… Ich muss sagen, dass du die natürlichen Kräfte deines Körpers echt gut im Griff hast, Min’er. Es ist echt beeindruckend, wie du deine Gefühle so an die Natur anpassen kannst, dass du eins mit ihr wirst …“, sagte er und ging zu einer Ecke des Decks, wo ein Schatten auftauchte, der ins neu erschienene Mondlicht trat und heterochromatische Augen enthüllte.
„Ich muss dich leider enttäuschen, aber selbst das macht dich für jemanden, der so geschickt im Verstecken und Aufspüren ist wie sie, nicht unsichtbar. Sie lässt dich aus dem gleichen Grund an ihr zweifeln, aus dem ich sie an mir zweifeln lasse“, sagte er mit einem Lächeln, als Shen Min näher zu ihm kam und ihre Augen weit aufriss.
„Ich traue ihr immer noch nicht…“, sagte Shen Min, während Wu Long mit einem Lächeln nickte.
„Natürlich, das ist normal. Ich sollte dir dafür danken, dass du immer wachsam bist, um unsere Familie zu beschützen“, sagte er mit einem sanften Lächeln und hob seine Hand, um ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen, die der starke Wind dorthin geweht hatte.
„Ich mache das, weil ich es will“, ihre Augen zeigten einen weicheren Ausdruck als sonst, einen Ausdruck, den sie nur ihm und ihren engsten Freunden in der Dao-Familie zeigte.
„Willst du wirklich, dass sie an dir zweifelt?“, fragte sie dann und kam wieder auf Hong Yue zurück, während sie in die Richtung schaute, in die diese verschwunden war.
„Mm, ich kann diese Zweifel ohne Zeit schließlich nicht ausräumen“, lachte er leise.
„Ist es, weil ihre Welt kürzlich um sie herum zusammengebrochen ist?“, vermutete Shen Min, worauf er nickte.
„Natürlich, nach einem so starken Schock kann jeder eine binäre Sichtweise entwickeln. Freund oder Feind, gut oder böse. Das ist momentan ihre neue Welt. Bei dir war es genauso“, sagte er mit einem sanften Lächeln, während er in ihre andersfarbigen Augen blickte.
„Ich habe nur Lustkultivierende als Feinde angesehen …“, lehnte sie seine Worte zunächst ab, doch dann wurde ihr klar, dass auch das eine binäre Sichtweise war: Feinde und Freunde waren einfach Lustkultivierende und ihre Anhänger auf der einen Seite und alle anderen auf der anderen.
„Und weil du das durchgemacht hast, weißt du, dass es in einem solchen Zustand schwierig ist, über die einfachsten Maßstäbe hinauszugehen, um zu entscheiden, wem man vertrauen kann.
Das kann auch normalen Menschen passieren, wenn sie zynisch werden und immer mehr von der Welt enttäuscht sind.
Die genaue Betrachtung kleiner Details und Nuancen, alles, was die Feinheiten unseres Lebens ausmacht, verblasst zu zwei Farben, Schwarz und Weiß, und das Tempo, in dem man Entscheidungen trifft, steigt, bis man den gesamten Kontext und die Komplexität aus den Augen verliert.
Denk an die Situation mit Xiang’er und daran, wie dir alle Details und Nuancen ihrer Situation völlig entgangen sind, weil du dich auf ihre einzelne Handlung konzentriert hast“, sagte Wu Long mit einer leichten Wehmut, als Erinnerungen an seine eigene Zeit in diesem Zustand in seinem Kopf auftauchten.
„Mm, ich denke immer noch ab und zu daran“, nickte Shen Min und erinnerte sich an diesen Zustand.
Es war nicht so, dass diese vorsichtige und misstrauische Seite von ihr jetzt komplett verschwunden war, denn sie war schon immer ein Teil von ihr gewesen. Aber sie war jetzt viel besonnener und achtete viel mehr darauf, bei ihren Handlungen das Gesamtbild im Blick zu behalten.
„Deshalb kann ich nicht damit anfangen, ihr eine Freundin sein zu wollen, sondern nur damit, jemand zu sein, der in keine der beiden Kategorien passt, sodass sie gezwungen ist, eine neue zu schaffen, und das braucht Zeit“, sagte er lachend, und sie nickte verständnisvoll.
„Trotzdem will ich sichergehen, dass sie uns nichts antut“, fügte sie hinzu, während er lachte, seine Arme um sie schlang und sie an sich zog.
„Das ist meine Min’er“, lächelte er, als sich seine Lippen den ihren näherten.
