Der Hain stöhnte noch einmal, aber diesmal war der Ton tiefer, fast erleichtert.
Über ihnen spaltete sich der vernarbte Stamm des Herzbaums entlang einer bereits bestehenden Naht. Kein schmerzvolles Knacken, nur ein bewusstes Auseinandergehen. Warmes Gold strömte durch die Öffnung und tauchte Wurzeln und Trümmer in sanftes Sonnenlicht, wo keine Sonne hinkam.
Aus diesem Licht schwebte ein Samenkorn, nicht größer als ein Rabenauge, umhüllt von fadenförmigen Strängen blasser Energie.
Er schwebte langsam und bedächtig, spiralförmig, als würde er von unsichtbaren Händen getragen. Er näherte sich Draven und hielt inne, schwebend in Brusthöhe.
Sylvanna sah schweigend zu. Ihr Atem stockte, als Lichtblüten den Samen umkreisten.
Draven hob seine Handfläche. Der Samen ließ sich in seinem Handschuh nieder, als kenne er den Weg bereits. Einen Herzschlag später faltete sich das Leuchten nach innen und verblasste zu einem gleichmäßigen Puls – lebendig, wartend.
Die Wände, frisch von der Fäulnis befreit, atmeten auf.
Die Rinde verband sich langsam wieder, wie Wunden, die unter der sanften Sommersonne verheilen. Wo einst Fäulnisrisse klafften, bildeten sich neue Maserungen in sorgfältigen Spiralen und versiegelten Splitter, so wie eine Narbe mit der Zeit zu einem blassen Schimmer verblasst. Das Knarren des angespannten Holzes wurde leiser und weicher, der Klang wechselte von Schmerz zu Erleichterung.
Erinnerungsgeister – Gespenster, gefangen in endlosen Schleifen der Trauer – verloren ihre Konturen. Die Farben wichen aus ihren Gewändern und Gesichtern und flossen in honigfarbenen Saft, der in die lange durch Fäulnis verstopften Adern floss. Sie heulten nicht und verweilten nicht, sie wurden einfach dünner, wie Nebel, der von der Morgendämmerung verbrannt wird, bis nichts mehr übrig war als eine prickelnde Stille.
Sylvannas Körper verlangte endlich Tribut. Sie sank auf ein Knie, ihr Stiefel rutschte über den feuchten Lehm. Ihre Bogensehne erschlaffte und der letzte Pfeil, der nun, da sein Zauber gewirkt hatte, brüchig war, zerbrach in der Mitte mit einem knackenden Geräusch. Die Splitter klirrten gegen eine Wurzel und schmolzen dann zu harmlosem Dampf. Ein frostiger Schleier umhüllte ihre Handschuhe und löste sich auf. Schweiß streckte Ruß über ihre Wange und bildete eine zufällige Kriegsbemalung.
Draven beobachtete sie nur so lange, bis er sich vergewissert hatte, dass sie atmete. Ihr Puls war sichtbar – er pochte unter der Haut an ihrem Hals – stark genug, um ihm zu vertrauen. Zufrieden wischte er die Reste des Dämonensafts von seiner linken Klinge an einem Streifen eines zerfetzten Umhangs ab, der an einem nahe gelegenen Baumstumpf hing. Schwarze Rückstände zischten, als sie den Stoff berührten, aber der Stahl glänzte silbern. Er schob das eine Schwert in die Scheide, dann das andere; das erste zischte, als die zurückgebliebene Fäulnis auf das Öl in der Scheide traf.
Ein letzter Handgriff beseitigte den Geruch von verbranntem Pech.
Der Hain ächzte, aber der Ton hatte nichts mehr von der früheren Qual. Es klang eher wie ein Wesen, das sich nach zu langer Gefangenschaft streckte.
Über ihnen bewegte sich der Herzbaum. Eine Naht, die schon immer da gewesen war – versteckt unter Rindenverhornungen und Elend – öffnete sich wie ein Mund, der endlich sprechen durfte. Kein Knacken, kein Schrei. Ein leises Öffnen. Licht floss in einem sanften, gleichmäßigen Strom über die gewölbten Wurzeln. Dieses Leuchten hatte eine Textur: langsames Flusslicht, blasses Bernstein mit grünen Sprenkeln. Sanft, einladend, unmöglich warm in der kühlen Luft des Waldes.
In diesem Schein schwebte ein einzelner Samen. Nicht größer als ein Daumenabdruck, doch die Facetten seiner kristallinen Oberfläche flüsterten von Stürmen und ruhigen Gezeiten, von blühenden Obstgärten und der Stille vor dem Schneefall. Er schwebte nach unten, getragen von unsichtbaren Strömungen.
Draven hob eine Handfläche. Der Samen ließ sich mit der Unausweichlichkeit des Schicksals nieder, als hätte er jeden anderen Landeplatz geprüft und verworfen.
Er pulsierte einmal – ein fast unmerklicher Herzschlag – und er spürte die Dankbarkeit des Hains in seinen Knochen, eine stille Resonanz, die jede Sprache überflügelte.
Danke. Gib zurück, was gestohlen wurde.
Die Botschaft war nicht hörbar; sie drückte auf Gelenke und Sehnen, spannte die Luft um seine Schultern. Er neigte den Kopf ein wenig – Akzeptanz, Anerkennung, Versprechen.
Hinter ihnen begannen sich die verwundeten Stämme zu entfalten.
Die Rindenränder rollten sich auf wie Finger, die sich nach langer Qual öffneten. Ranken, die ihre eigenen Blüten erwürgt hatten, lockerten sich, und winzige Blätter in der Farbe von neugeborenen Limetten spiralförmig nach außen, um zum ersten Mal die saubere Luft zu schmecken. Biolumineszente Fäden, die im Moos versteckt waren, leuchteten auf, eine Galaxie aus smaragdgrünen Punkten, die sich über den Boden ausbreitete. Der Saft, einst dickflüssig und schwarz, floss klar wie Bergquellwasser und zeichnete flüssige Sternbilder auf jeden Stamm.
Der Geruch veränderte sich. Asche und Eisen verflüchtigten sich und wurden ersetzt von grünem Zimt, nassem Stein und einer Süße, die Sylvanna trotz der Schmerzen in ihren Rippen die Augen schließen ließ. Sie holte zitternd Luft und stand wackelig auf, lehnte aber die Hand ab, die Draven ihr halb entgegenstreckte. Stolz oder vielleicht Dankbarkeit, die sich als Stolz tarnt.
„Alles okay?“ Seine Stimme war wie immer emotionslos, aber seine Augen entging nichts: das Zittern in ihrem linken Bein, ihr zusammengebissener Kiefer, die winzige Risse in ihrem Bogen.
Sylvanna zwang sich zu einem schiefen Grinsen. „Besser als gut.“ Ihre Stimme brach. Ein Husten entrang sich ihr – halb Lachen, halb Restangst – und sie wischte sich den Mund am Ärmel ab.
„Ich nehme dich lieber lebendig und aufrecht.“
Draven akzeptierte die Antwort und drehte sich um, ohne ihrer Schwäche mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als sie sich selbst schenkte. Der Samen leuchtete zwischen seinen Fingerknöcheln, als er ihn in eine Innentasche steckte, die für Fläschchen und Zündschnüre genäht war. Seine Wärme drang durch das Leder und war wie ein leises Metronom lebendiger Magie.
Sie durchquerten die Kammer mit gemächlichen Schritten. Es gab keinen Grund zu rennen; hier jagte nichts mehr. An der Schwelle seufzte der massive Wurzelbogen und schloss sich hinter ihnen, wobei er die Narbe mit geschmeidiger neuer Rinde versiegelte. Ein einziger Atemzug – leichter als eine Brise – hallte durch die Höhle, wie der letzte Atemzug des Waldes vor dem Einschlafen.
Der Aufstieg über die Wurzelstufen kam ihnen auf dem Rückweg kürzer vor. Ohne dass Fäulnis an den Knochen nagte, richtete sich die Treppe unter ihrem Gewicht auf, die Stufen wurden breiter und die Winkel flacher. Draven landete mit seinen Stiefeln ohne zu rutschen, und Sylvannas Schritte, die zuvor unregelmäßig gewesen waren, fanden einen gleichmäßigeren Rhythmus. Grünes Licht zeichnete ihren Weg nach und beleuchtete jede neue Stufe eine Sekunde bevor sie sie erreichten, als würde der Hain sie nach Hause führen.
Auf halber Höhe blickte Sylvanna zurück. Wo zuvor Dunkelheit und Verzweiflung geherrscht hatten, ragten nun Lichtsäulen empor – dünne Leuchtfeuer, die Heilungsknoten markierten. Sie schluckte, die Kehle war ihr wie vor Ehrfurcht zugeschnürt. „Ich habe noch nie etwas so schnell zurückkommen sehen“, murmelte sie.
„Die Natur hat eine enorme Widerstandskraft“, antwortete Draven. „Man muss nur die Fäulnis entfernen.“
Sie dachte darüber nach. „Ich wünschte, mehr Leute würden so arbeiten.“ Die Bemerkung war leise, aber darunter klang Bitterkeit durch. Er antwortete nicht, und sie ließ die Stille stehen.
Auf der letzten Stufe ging die Decke in ein Dach aus ineinander verschlungenen Ästen über. Die Luft fühlte sich frisch gewaschen an – leichter, als hätte die Trauer eine Masse gehabt und der Hain sie endlich abgelegt. Eine Säule mondlosen Zwielichts fiel durch schmale Spalten herein.
Sylvanna rollte mit den Schultern, um zu sehen, ob sie irgendwelche blauen Flecken hatte. Draven hielt inne, die Augen halb geschlossen, und spürte ein leichtes Zittern in dem magischen Summen um sie herum. Der Puls des Waldes hatte sich zu zwei langsamen Schlägen beruhigt – gesunder Stamm, gesundes Herz.
Sylvannas Blick wanderte zurück zur Treppenöffnung, die jetzt mit frischer Rinde verschlossen war. „Ist es vorbei?“, fragte sie. Die Frage hing zerbrechlich zwischen ihnen, wie Tau vor der Morgendämmerung.
Er kostete die Frage, ließ sie nachklingen. Die Stille antwortete zuerst: ruhige Wurzeln, erholsamer Saft, ein lebender Hain, der unbeschwert atmete. Er neigte den Kopf.
„Dieser Hain?“ Sein Tonfall war sicher. „Ja.“
Dann drehte er sich um und blickte mit zusammengekniffenen Augen nach Norden – hinter die Baumstämme, vorbei an fernen Bergkämmen, die durch das Laubwerk nicht zu sehen waren. In Gedanken zeichnete er eine Karte: Punkte, die andere heilige Wälder markierten, verbunden durch böse Nähte.
Verderbnis kam selten allein.
„Aber andere haben bereits begonnen zu verrotten.“
Die Worte waren leise, aber die Blätter über ihnen raschelten, als würden sie zustimmen. Eine sanfte Brise wehte durch das Blätterdach und wirbelte neue Blätter wie Münzen durch die Luft. Irgendwo tiefer im Wald schreckte ein Vogel aus seinem Nest auf und zwitscherte zum ersten Mal, seit die Schreie der Dämonen den Gesang der Natur übertönt hatten.
Sylvanna wischte sich Ruß von der Schläfe und verschmierte ihn zu Streifen, die sie wie eine Kriegerin aussehen ließen. Sie folgte seinem Blick, obwohl sie nicht sehen konnte, was er sah – Muster der Pest, die sich unsichtbar ausbreiteten. „Dann schneiden wir weiter“, sagte sie.
Dravens Hände ballten sich unbewusst zu Fäusten. Balance: unverändert. Griff: fest.
Die momentane Verletzlichkeit, die er sich im Kampf mit dem Kind-Titan erlaubt hatte, war zu frischem Stahl geschmolzen. Er nickte einmal.
Er betrat den Pfad, der sich zum Rand des Hains schlängelte, jeder Schritt selbstbewusst, aber ohne Eile. Sylvanna hielt mit ihm Schritt, obwohl sie ihre verletzte Seite schonte. Keiner von beiden sprach; der Wald lieferte die Unterhaltung – das Knarren von sich setzendem Holz, das Seufzen von getrockneten Ranken, das nasse Plätschern von klarem Saft, der auf das Moos tropfte.
Am Schwellenbogen – jetzt hell von neuem Wachstum – hielt Draven gerade so lange inne, um über eine Schulter zu blicken. Licht fiel aus geöffneten Blütenblättern entlang der Wurzelwände und warf schwache Lichthöfe, wo noch Stunden zuvor nur Fäulnis gekrochen war. Er hielt dieses Bild fest – nicht sentimental, sondern als Information: als Beweis für Heilung und als Vorlage für das, was als Nächstes kommen musste.
Ein letztes Knarren hinter ihnen signalisierte, dass alles fertig war. Die Rinde des Bogens faltete sich wie schließende Flügel zusammen, die Ränder verschmolzen in einem schwachen Schimmer. Es wurde still, so still, dass es ewig hätte dauern können.
Einen Herzschlag später teilte sich das äußere Blätterdach und gab den Blick auf den Wind frei. Die Blätter zitterten, und die neu entstandene Stille verwandelte sich in ein leises Rascheln – die Waldversion von sanftem Applaus.
Draven verstand das Zeichen. Er trat erneut vor, seine Stiefel versanken in einem Teppich aus smaragdgrünem Moos. Seine Stimme war gerade laut genug, dass die Frau an seiner Seite und – vielleicht – auch die Bäume, die sich zum Lauschen vorbeugten, ihn hören konnten.
„Jetzt“, sagte er mit ruhiger, aber eiserner Stimme, „kehren wir zu den Elfen zurück.“
Und der Hain schloss sich hinter uns.