Schnitt zwei – der Chor verstummte.
Er trat näher, seine Schulter streifte die mit gespenstischer Tinte verschmierten Roben, und rammte das erste Schwert direkt durch das schimmernde Symbol am Schlüsselbein. Funken sprühten in öligem violettem Licht. Der gesamte Titan verkrampfte sich, seine Roben verwandelten sich in federleichte Asche. Sein Rücken knickte ein, und die schwerfällige Masse zerfiel wie Papier, das mit schwarzem Feuer übergossen worden war.
Sylvanna hatte bereits den gepanzerten Riesen im Visier. Ihre Finger tanzten über die Sehne des Bogens und webten eine runenartige Kadenz. Der Schockpfeil, den sie gewählt hatte, leuchtete mit gezackten kobaltblauen Adern. Sie atmete einmal tief ein – ruhig, kontrolliert – und ließ dann los.
Der Pfeil schoss unter der Deckung des Soldaten-Titans hindurch und bohrte sich in eine Nahtstelle, wo die verbeulten Beinschienen auf den Oberschenkel trafen. Ein Blitz entlud sich, nicht nach außen, sondern nach innen, und überschwemmte das Amalgam mit disharmonischer Energie.
Helme klirrten, als die Kreatur ins Straucheln geriet, die Knie blockierten und die Hüften sich unnatürlich verdrehten.
Draven nutzte den Schwanken aus. Er duckte sich, rutschte über den aufgewühlten Boden und ließ sich von seinem Schwung mit dem rechten Stiefel neben dem rauchenden Kniegelenk zum Stehen kommen. Der folgenden Aufwärtsstoß durchbohrte die in das spröde Eisen eingravierte Rune. Die Wut eines ganzen Krieges entlud sich in einem explosiven Ausatmen.
Der Oberkörper des Titanen sackte nach innen zusammen und brach wie ein Scheiterhaufen zusammen, dem die Luft entzogen worden war. Seine Rüstung fiel in nutzlosen Fragmenten zu Boden.
Nur das Kind blieb zurück.
Es stand regungslos da, die Augen trüb vor Trauer, die kleinen Hände zitternd. Das Schluchzen ging in keuchendes Schlucken über, das Sylvanna wie Haken in die Brust bohrte. Sie senkte ihren Bogen ein wenig.
Das Kind streckte einen Arm aus, die Handfläche nach oben, und alle Lichter in der Kammer schienen zu flackern. Es wurde still, bedrückend und zerbrechlich zugleich.
Es sah Draven an – nein, es flehte ihn an. Selbst der Hain, urwüchsig und verwundet, hielt den Atem an.
Sylvanna flüsterte: „Draven, warte …“
„Nenn es nicht.“ Seine Stimme enthielt keinen Zorn, nur Befehl. „Namen lassen Dinge bestehen.“
Doch auch er zögerte. Einen halben Schritt. Dieser eine Herzschlag zog sich lautlos in die Länge. Das Schluchzen klang schmerzhaft menschlich – zu real, zu nah an Erinnerungen, die kein Schwert zerreißen konnte.
Sylvannas Knöchel ballten sich. Entschlossenheit sammelte sich in ihrer Brust. Sie zog den Eispfeil, den sie sich für die letzte Chance, für die letzte Grausamkeit aufgehoben hatte. Die Federn streiften ihre Wange, ihr Herz schlug zweimal, dann ließ sie los.
Blaues Feuer blühte auf dem geliehenen Fleisch des Kindes auf, vereiste die Tränen in der Schwebe und verwandelte die Trauer in Kristall. Die Gestalt erstarrte mit ausgestreckten Armen, in einer Haltung, als suche sie Trost.
Draven trat vor, atmete ruhig und hob sein Schwert. Sein Hieb war schnell – diesmal ohne Schnörkel, ohne zu zögern. Der Stahl zischte durch Glyphen und Trauer gleichermaßen. Das erstarrte Schluchzen zerbrach an der Nahtstelle der Realität. Als die Ankerrune zerbrach, hauchte der Titan ein einziges Wort, leise wie eine erlöschende Kerze.
„Vaerentis.“
Nicht als Lob.
Als Flehen.
Das einzelne Wort glitt wie ein letzter Atemzug durch den Raum. Die kristallene Haut des Kind-Titans zerbrach, und jeder Splitter spiegelte einen anderen Moment der gestohlenen Zukunft des Hains wider – leere Betten, vor der Blüte abgeschnittene Äste. Dann sackte die Konstruktion zusammen, die Knie knickten nach innen ein. Sie krachte auf den mit Wurzeln übersäten Boden und verstreute Blütenblätter aus gefrorener Trauer, die an der Stelle, wo sie landeten, zischend zu Dampf wurden.
Einen Augenblick später stöhnte der Wald. Es war ein kehliges, markerschütterndes Geräusch, als hätten die Stämme selbst Blut geschmeckt. Die Saftlichter an der Decke flackerten, und in einem plötzlichen Windstoß blitzten bernsteinfarbene Flammen auf.
Vaerentis schrie.
Alle Masken, die an seiner rindenartigen Haut klebten, lösten sich auf einmal. Die Gesichter kräuselten sich wie brennendes Pergament und schwebten in grauen Locken davon. Claras schüchternes Lächeln löste sich als erstes auf und hinterließ Lichttropfen, die in der Luft zerplatzten. Roths schiefes Grinsen riss sich los, und das Lachen dahinter zerfiel in statisches Rauschen. Vaelariens Blick zerbrach in tausend smaragdgrüne Splitter, bevor er schwarz wurde.
Was in der Mitte dieses sich auflösenden Sturms zurückblieb, war abscheulich und einfach: ein Körper aus rohen Wurzeln und zuckenden Sehnen, umhüllt von Leere. Schwarze Leuchtkraft drang durch Risse im Holz und warf stroboskopartige Blitze über die Wände der Kammer. Er war eine Wunde auf Beinen. Ein negatives Echo des Lebens.
Diesmal verhandelte er nicht.
Er schlug zu.
Eine verfaulte Peitschenranke peitschte aus seinem Unterarm, nicht mehr mit Erinnerungen geschmückt – nur noch glitschige Verwesung. Draven parierte den Angriff mit einer einzigen Drehung. Sein linker Fuß stemmte sich in den Boden, sein Rücken streckte sich, und beide Schwerter verschwammen zu sich kreuzenden weißen Bögen. Das eine schlug die Peitsche zur Seite, Eisen klang, als die Fäulnis von der Klinge zischte.
Die zweite zog eine flache Diagonale über Vaerentis‘ ungeschütztes Brustbein und hinterließ eine Furche, aus der zähflüssiges schwarzes Licht sickerte.
Nicht tief genug. Draven spürte es in dem Ruck, der durch den Stahl bis in sein Handgelenk vibrierte. Zu viel Masse hinter dieser Holz-Knochen-Hülle.
Vaerentis schlug zurück und schleuderte ein Stück zerbrochene Wurzel von der Größe eines Schreibtisches.
Draven duckte sich unter dem splitternden Geschoss; Rindenstücke schossen über seine Schultern. Er veränderte seine Haltung und landete mit dem rechten Fuß auf einem hervorstehenden Vorsprung in Kniehöhe – ein von der Natur geschaffener Halt, halb verrottet, halb lebendig. Mit derselben Bewegung sprang er nach oben und verwandelte seinen Körper in eine Spirale aus Umhang, Muskeln und scharfer Entschlossenheit.
In der Luft nahm er in einem Augenblick die Kammer wahr. Der Boden war mit Harz glitschig geworden; jeder zweite Schritt würde ins Rutschen gehen. Die Decke hing auf der rechten Seite tiefer – Wurzeln hingen unter dem verrotteten Holz herab. Vaerentis‘ verdorbene Ranken tauchten in Schleifenmustern hinab und kreuzten sich alle zwei Herzschläge. Ein Rhythmus, der sich als Chaos tarnt.
Hoch, dann drehen.
Draven ließ die Physik die Drehung vollenden. Am höchsten Punkt blitzte seine zweite Klinge auf, als die Rune in der Nähe der Parierstange in silbernes Feuer ausbrach. Es war ein Zauber, den er genau für diesen Moment aufgespart hatte: ein Trennungszauber, der wie Origami im Stahl gefaltet war, bis er ausgelöst wurde. Licht schoss die Hohlkehle hinunter und ätzte Runenadern, die den übelriechenden Dampf wegbrannten, bevor er die Klinge berühren konnte.
Unten bäumte sich Vaerentis auf und bereitete einen neuen Schlag vor. Sein maulloses Gesicht verzog sich zu einem stummen Knurren, und dicke Stränge von Verwesung schossen empor, um den fallenden Schwertkämpfer aufzuspießen.
Sylvannas Stimme durchdrang den Lärm: „Links!“ – und ein Pfeil zischte an Draven vorbei. Frost explodierte über den aufsteigenden Ranken und verlangsamte sie zu einem kriechenden, knarrenden Eis. Draven änderte seinen Fall um eine Handbreite, sein Umhang flatterte wie ein zerrissenes Segel. Er sprang durch eine Lücke, die nur einen Wimpernschlag lang existierte.
Er holte mit der leuchtenden Klinge aus.
Ein Schwert – fest in seiner anderen Hand – fing Vaerentis‘ letzten verzweifelten Gegenangriff ab. Es war weniger ein Geräusch als eine Empfindung: eine Vibration des Hasses, die entlang der parierenden Klinge glitt. Das verdorbene Glied schlug seitwärts ab und schlug mit einem hallenden Knall auf den Stein.
Das zweite Schwert bohrte sich direkt in den Seelenkern.
Licht brach hervor, nicht heiß, sondern reinigend. Weiße Splitter strahlten von der Eintrittsstelle aus, wirbelten über verbogene Rippen und rasten wie ein Lauffeuer über trockenes Gras entlang jeder transplantierten Wurzel. Die Runenflammen krochen durch Vaerentis‘ Gitterwerk der Sünde, lösten Magie aus den Erinnerungen, Erinnerungen aus den Muskeln, bis nichts mehr zusammenhielt.
Es gab keinen Explosionsknall. Keine Feuerflut. Vaerentis brach einfach in sich zusammen, wie ein Zelt, dessen Mittelstange verschwunden war. Wurzelglieder knickten ein, Rindenplatten lösten sich in nassen Platten und das schreckliche Leuchten verblasste allmählich. Ein Turm, der seinen Schlussstein verlor.
Draven landete in der Hocke, die Knie gebeugt, um den Schwung abzufangen. Harz zischte unter seinen Stiefeln. Er zog die Trennklinge heraus und beobachtete, wie schwarz geädertes Licht aus der Wunde im Seelenkern tropfte, wie Tinte, die sich in Wasser auflöst.
Kein Drama. Nur das leise Zittern von etwas, das beendet war.
Der Hain atmete.
Es war hörbar – jeder Baumstamm in der Kammer ließ in einem Chor aus Knarren die Spannung entweichen. Eine Brise kam aus dem Nichts und trug den Duft von Regen auf trockener Erde mit sich. Dünne Wolken aus silbernen Partikeln – befreite Erinnerungen – hoben sich von den Trümmern und schwebten nach oben zu unsichtbaren Baumkronen.
Die Wurzeln, die sich um Draven gewunden hatten, um ihn einzukäfigen, zogen sich nun zurück. Sie glitten mit einem leisen Rascheln zurück, ihre Kanten glätteten sich, und die Fäulnis blätterte ab wie alte Rinde. Die Wände, die sich einst unter dem Gewicht des Parasiten gewölbt hatten, richteten sich wieder auf. Das Laub hellte sich von einem kränklichen Graugrün zu einem satten Smaragdgrün auf, als Farbe in jedes Blatt sickerte.
Sylvannas Knie gaben nach; sie stützte sich auf ihren Bogen. Der letzte Pfeil, nun leblos, zerbrach unter seinem eigenen Gewicht und fiel zu Boden, wobei der Frost zu Nebel wurde. Ihr Atem ging stoßweise, aber ihre Augen leuchteten beim Anblick des Waldes, der sich wieder zusammenfügte.
Draven stand auf und wischte mit einem bereits von früheren Schnitten geschwärzten Stofffetzen Dämonenreste von einer Klinge. Er steckte die Schwerter zurück in ihre Scheiden – zuerst das linke, dann das rechte – und jedes Klingen von Stahl auf Leder klang wie ein Satzzeichen am Ende eines langen, brutalen Kapitels.
Der Hain ächzte erneut, aber diesmal war der Ton tiefer, fast erleichtert.