„Die Protokolle brechen zusammen! Sie sollen uns nicht jagen. Nicht so!“
Dravens scharfer Blick huschte zu dem Elfen, der Vaelarien auf die Worte achtete. Sollten nicht. Diese Formulierung machte ihn nervös. Jemand hatte mitten im Spiel die Regeln geändert und damit absichtlich alte Sicherheitsvorkehrungen außer Kraft gesetzt. Seine Gedanken rasten, analysierten mögliche Motive, Verdächtige, Konsequenzen – jeder Gedanke war wie eine Schachfigur, die er schnell auf dem Brett seines Bewusstseins bewegte.
Vor ihnen brannte ein leuchtend orangefarbenes Licht an den Wänden, als sie um eine Kurve sprinteten und plötzlich am Rand eines tosenden Flusses aus geschmolzenem Quarz auftauchten. Die Flüssigkeit brodelte und kochte wild, strahlte intensive Hitze aus und warf unheimliche, wogende Reflexionen an die Tunnelwände. Über der glühenden Oberfläche schwebten unregelmäßige Obsidianschuppen – dunkle, glatte Trittsteine, die durch Magie in der Schwebe gehalten wurden und unbeständig zwischen Stabilität und Instabilität schwankten.
Sylvanna zögerte nicht. Das tat sie nie. Mit einem schnellen Atemzug sprang sie auf die erste Obsidianplatte, die Augen vor Entschlossenheit zusammengekniffen. Sie bewegte sich schnell, ihr Gleichgewicht geschult durch jahrelange Erfahrung im Herstellen von Chimären und gefährlicher Feldarbeit. Ihre ersten drei Schritte landeten perfekt.
Doch beim vierten Sprung passierte das Unglück. Ihr Stiefel blieb an einer rutschigen Stelle auf dem Stein hängen. Ihr Fuß rutschte seitwärts weg und ihr Knöchel verdrehte sich schmerzhaft. Ihre Arme schlugen wild um sich, als sie gefährlich zur Seite kippte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als der geschmolzene Quarz unter ihr sich hungrig nach ihr auszudehnen schien.
Kurz bevor die Schwerkraft sie einholte, schloss sich ein fester Griff wie Eisen um ihren Kragen. Draven zog sie mit einer Leichtigkeit, die fast beleidigend war, nach oben und zog ihren aus dem Gleichgewicht geratenen Körper in die Sicherheit des nächsten Felsvorsprungs. Sylvanna befand sich in der Luft und war für einen Moment desorientiert, als die Welt wild um sie herum schwankte.
Sie krachte unsanft auf eine hängende Lianenleiter, wobei ihr der Atem stockte, als sie sich instinktiv an den Sprossen festklammerte.
Die Ranken kratzten an ihren Handflächen, aber sie klammerte sich verzweifelt fest, während das Adrenalin so stark durch ihren Körper schoss, dass ihre Sicht kurzzeitig verschwamm.
Keuchend und mit klopfendem Herzen drehte Sylvanna sich um und starrte Draven an, der einen Moment später elegant neben ihr auf demselben Vorsprung landete, sein Gesichtsausdruck so gelassen wie immer.
„Das nächste Mal“, keuchte sie, ihre Wut gemildert durch Erleichterung, „warnst du mich, bevor du mich wie einen Kohlkopf durch die Luft wirfst!“
Draven sah sie kurz an, seine Lippen zu einem leichten, kühl amüsierten Lächeln verzogen. „Du landest besser, als du denkst.“
Sylvanna öffnete den Mund, um eine scharfe Erwiderung zu geben, doch bevor sie antworten konnte, erschütterte ein weiterer heftiger Beben den Gang.
Ihre Finger krallten sich um die Ranken, die Leiter schwankte gefährlich unter ihr. Sie drehte sich um, gerade als ein weiterer Drache wild durch eine Seitenwand brach, sein steinerner Körper seltsam zitternd. Draven kniff die Augen zusammen, als er die unberechenbaren Bewegungen des Drachen registrierte, dessen Flügel unregelmäßig schlugen und dessen Atemzüge ungleichmäßig und stockend waren.
„Ferngesteuert“, murmelte Draven grimmig vor sich hin. Sein Verstand ging alle Möglichkeiten durch und analysierte jede Beobachtung schnell. Der Rhythmus der Kreatur stimmte nicht. Das war nicht bloße Panik oder ursprüngliche Aggression. Etwas Äußeres – etwas Präzises und Kalkuliertes – manipulierte den Wächter. Er speicherte diese beunruhigende Tatsache in seinem Gedächtnis und war entschlossen, ihre Bedeutung später zu entschlüsseln.
Die Dringlichkeit trieb sie voran, und sie kletterten aus dem erstickenden Tunnel und gelangten plötzlich auf eine weite, offene Hochebene. Draven überblickte blitzschnell die Gegend und verschaffte sich sofort einen Überblick über die prekären Plattformen, die wie zerklüftete Platten aus altem Granit aus dem Boden ragten und durch schwebende Wurzelbrücken verbunden waren, die von flackernder Magie gehalten wurden. Die Brücken schwankten gefährlich, hin- und hergeworfen von Nachbeben, die bedrohlich unter ihren Füßen rollten.
Einen Herzschlag lang hielt Draven inne, überlegte sich eine neue Strategie und suchte nach alternativen Routen – dann brach über ihnen das Chaos aus.
Eine Kakophonie aus kristallklaren Rufen ertönte, als Hunderte von Vögeln aus der unterirdischen Lichtung unter ihnen hervorbrachen, ihre Körper schimmerten wie Prismen und streuten das Licht. Sie zogen schimmernden Staub in spiralförmigen Wolken hinter sich her – Hexenstaub, erkannte Draven sofort und kniff instinktiv die Augen zusammen, um sich so wenig wie möglich dem Staub auszusetzen.
Er wusste nur zu gut, was mit denen passierte, die zu tief einatmeten: Ihre Gedanken wurden in lebhafte und lähmende Halluzinationen gestürzt.
Sylvanna stolperte neben ihm, blinzelte verwirrt und leicht benommen. Ihr Atem ging schneller, ihr Puls schlug unregelmäßig. Panik huschte kurz über ihr sonst so selbstbewusstes Gesicht.
„Hat diese Wurzel gerade mit mir gewinkelt?“, fragte sie mit einer Stimme, die vor Angst und Unsicherheit zitterte.
Draven antwortete sofort, seine Stimme war wie ein beruhigender Anker, kühl und konzentriert, selbst inmitten des psychedelischen Chaos, das um sie herum tobte.
„Augen nach vorne. Kontrolliere deine Atmung. Der Staub löst Herzrhythmusstörungen aus.“
Vaelarien verschwand plötzlich, seine Gestalt wurde von einer sich verändernden Landschaft aus kristallinen Reflexionen verschluckt. In einem Moment war er noch da, im nächsten schloss sich das gebrochene Gelände wie ein lebendes, atmendes Puzzle um ihn herum und sperrte ihn hinter Schichten aus Verzerrungen ein.
Draven hielt kurz inne und atmete kontrolliert aus. Ruhig und methodisch beschwor er einen halben Manapuls herauf – eine subtile Beschwörung, die nicht zum Angriff, sondern zum Aufspüren gedacht war. Seine Sinne streckten sich nach außen, Fäden seiner Essenz schlitterten durch das neblige Labyrinth. Fast augenblicklich spürte er eine schwache Reaktion – ein geisterhaftes Echo, das Vaelariens Weg markierte.
Sylvanna blieb neben ihm stehen, atmete schnell und flach, ihre Brust hob und senkte sich rasch unter ihrer schweißnassen Tunika. Ihre Augen waren hell, weit aufgerissen und glänzten vor Unruhe und kaum unterdrückter Panik, während sie vergeblich versuchte, ihren verlorenen Führer durch den wirbelnden Nebel zu erblicken.
„Draven, wo …?“, begann sie, doch ihre Worte verstummten in vorsichtiger Verwirrung.
„Er ist vor uns“, antwortete Draven knapp und ging schon wieder weiter. Die Luft pulsierte rhythmisch um sie herum, und er spürte eher als dass er sie sah, die vier massigen Gestalten der Drachen. Sie jagten nicht, stellte er fest. Ihre riesigen Körper bewegten sich in berechneten Bögen und kreisten in vorsichtigem Abstand. Instinktiv schätzte er ihren Abstand, während seine Augen ihre Schatten durch den Dunst verfolgten – weite Schwünge, vorsichtige Drehungen, ohne sich jemals zu kreuzen.
Sie waren keine Jäger. Keine Raubtiere, die Beute jagten.
„Sie treiben uns zusammen“, sagte Sylvanna plötzlich und sprach Draven damit aus der Seele. Ihr Tonfall war scharf, voller Schock und wachsender Angst.
Draven nickte, zu spät, und für einen Moment blitzte Ärger in seiner sonst eisigen Gelassenheit auf. Er verfluchte sich selbst, weil er die Strategie nicht früher erkannt hatte. Er hatte sich zu sehr an vorhersehbare Muster gewöhnt – Muster, die in dieser verdrehten Situation nicht mehr zuverlässig waren.
Gerade als ihm verschiedene Szenarien durch den Kopf schossen, zerriss ein Drachengebrüll die Luft, ein Laut voller uralter Wut. Der Boden unter ihren Füßen explodierte mit dem ohrenbetäubenden Krachen von zerbrechendem Granit. Sylvanna schrie auf und stolperte rückwärts, als sich die Erde öffnete und eine monströse Spalte das Gelände durchzog, als würde sich unter ihnen ein gigantischer Kiefer aufreißen.
„Lauft!“, befahl Draven, seine Stimme schneidend durch das Chaos. Sylvanna brauchte keine weitere Aufforderung. Ihre Reflexe waren sofort geschärft, Training und Adrenalin verschmolzen zu fließender Eile, als sie vorwärts sprintete und der gezackten Spalte auswich, gerade als sie sich weiter aufriss. Sie spürte die seismische Schockwelle unter ihren Stiefeln, Beben erschütterten den ohnehin schon instabilen Boden.
Hinter ihnen zerfiel die Brücke, die sie gerade überquert hatten, und zerbrach in einen Hagel aus messerscharfen Splittern. Sylvanna duckte sich instinktiv und schützte ihr Gesicht, als Fragmente an ihren Ohren vorbeizischten und wie wütende Hornissen durch die Luft schossen.
Vaelariens Stimme drang aus dem dichten Nebel vor ihnen, leise, aber eindringlich: „Gleich hinter dem verspiegelten Felsen!“
Sylvanna hätte beinahe bitter gelacht über diese vage Anweisung, während sie sich zunehmend desorientiert fühlte. Das Gelände selbst widersprach jeder Logik – Granitplatten verschoben sich ohne Vorwarnung, rutschten und falteten sich wie ein zerbrochenes Puzzle unter ihren hektischen Schritten. Draven blickte entschlossen vor sich hin, seine stählerne Entschlossenheit verbarg die schnellen Berechnungen, die hinter seinem Blick abliefen. Sylvanna kannte diesen Blick nur zu gut; er bedeutete, dass er sich anpasste, neu kalkulierte und angesichts des Chaos eine neue Strategie entwickelte.
Sie sprinteten vorwärts, ihre Füße hämmerten auf den Boden, ihr Atem ging stoßweise, ihre Sinne waren bis zum Äußersten angespannt. Granitplatten neigten sich steil unter ihnen und zwangen sie zu plötzlichen Sprüngen über sich ausweitende Lücken. Sylvannas Gleichgewicht wurde auf eine harte Probe gestellt, ihre Muskeln protestierten bei jeder Drehung und jedem Sprung. Jede Landung war ein Glücksspiel, jeder Schritt war gefährlich unsicher.
Draven sprang vor, seine Bewegungen flüssig und doch bedächtig, jeder Schritt mit gnadenloser Effizienz gesetzt. Seine Augen huschten schnell hin und her, kartierten ständig den sich verändernden Boden, markierten stabile Punkte und führten Sylvanna durch subtile Zeichen und Gesten. Sie verstand ihn perfekt, das Vertrauen war aus Dutzenden von früheren Begegnungen entstanden. Sie bewegten sich in stiller Harmonie, ihre Instinkte waren selbst inmitten des Chaos eng miteinander verzahnt.
Schließlich verengte sich die Hochebene dramatisch und trieb sie auf eine einzige schmale Lücke zu. Sylvanna stürmte voran, den Blick fest auf die plötzliche Öffnung gerichtet, die hell vor ihnen leuchtete und goldenes Licht in die Dunkelheit strahlte. Ihr Puls beschleunigte sich – Hoffnung flammte in ihrer Brust auf, gedämpft von dem Misstrauen, das aus ihrer Erfahrung geboren war.
Sie stürzten abrupt durch die Öffnung, atemlos und stolpernd, und kamen plötzlich zum Stillstand.
Der Anblick, der sich ihnen bot, verschlug Sylvanna den Atem. Warmes, goldenes Sonnenlicht fiel sanft durch ein durchscheinendes Blätterdach und warf ätherische Muster auf einen spiegelglatten See. Blüten schwebten ruhig und leuchteten sanft auf dem stillen, gläsernen Wasser. Feiner Blütenstaub schwebte träge durch die Luft und funkelte sanft, als wäre er in Bernstein eingeschlossen.
Sylvanna machte ein paar zögerliche Schritte vorwärts, ihre Augen weiteten sich und ihre Lippen öffneten sich ungläubig. Sie drehte sich langsam um, wie verzaubert, und ihre Verwirrung wich kurz der Ehrfurcht. „Es ist … wunderschön“, flüsterte sie mit leiser, zögerlicher Stimme, als hätte sie Angst, diese zerbrechliche Perfektion durch lautes Sprechen zerstören zu könnten.
Draven hingegen war wie angewurzelt stehen geblieben. Jede Faser seines Körpers war voller instinktiver Wachsamkeit. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er kniff die Augen zusammen und analysierte die Szene mit gnadenloser Präzision. Er bemerkte die exakte Symmetrie der Blüten, die unnatürlich makellosen Spiegelungen im Wasser, die Stille, die zu tief war, um natürlich zu sein.
„Zu symmetrisch“, murmelte er leise, und seine Stimme klang düster. „Zu sauber.“