Die Dämmerung lichtete sich, die Schatten wurden länger, während der Boden unter ihnen bebte, als würde ein schlafender Riese sich regt. Vaelarien stolperte, blieb keuchend stehen, Schweißperlen bildeten silberne Streifen auf seiner blassen Stirn. Seine Finger krallten sich so fest um das Herzholzsiegel, als hätte er Angst, es könnte in seiner Hand zerbrechen.
„Keine Zeit“, keuchte er mit rauer, verzweifelter Stimme. Er schwankte auf den Beinen, seine Knie gaben unter der Anstrengung fast nach. „Sie sind nicht mehr inaktiv.“
Sylvanna wandte ihren Blick zurück zu dem riesigen Drachen, dem sie gerade entkommen waren. Die Kreatur beobachtete sie schweigend, ihre bernsteinfarbenen Augen leuchteten schwach in der Dunkelheit.
Obwohl es nicht mehr offen feindselig war, war klar, dass das Biest wachsam und angespannt war und seine Klauen unruhig gegen den Boden krallte. Sylvanna spürte, wie ihr ein unangenehmer Schauer über den Rücken lief.
„Wer …“, begann sie mit misstrauischer und drängender Stimme, aber Vaelarien brachte sie mit einer scharfen Handbewegung zum Schweigen.
„Folge mir. Sofort“, befahl er mit einer wilden Autorität, die seine offensichtliche Erschöpfung Lügen strafte.
Bevor Sylvanna weiter protestieren konnte, hatte Vaelarien sich bereits umgedreht und stürzte kopfüber in einen schmalen Seitengang, der aus lebendem Kristall und verflochtenen Wurzeln gehauen war. Sylvanna warf einen Blick auf Draven, dessen Augen sich leicht verengt hatten und der etwas berechnete, das sie noch nicht sehen konnte. Er nickte einmal, die Bewegung klar und entschlossen, und sie wusste, dass sie ihm ohne zu zögern folgen musste.
Die Kammer bebte erneut – ein tiefes, tektonisches Knurren hallte durch die Wände und ließ Staub und kleine Steinchen von der Decke regnen. Sylvanna spürte es in ihren Knochen: Das war kein Erdbeben. Das war kein Zufall.
Das war koordiniert.
Draven spürte die Unruhe noch deutlicher. Sein scharfer Blick huschte schnell durch den Raum und analysierte jede Ecke, jeden Schatten. Er erkannte die Muster in den Vibrationen und spürte die absichtlichen Verschiebungen unter seinen Stiefeln wie Wellen, die einen See aus festem Stein überkreuzen.
Eine subtile Bewegung, ein Flüstern der Luft, ließ ihn leicht zusammenzucken.
Vier Silhouetten regten sich gleichzeitig und tauchten aus den von Dunkelheit verborgenen Nischen auf. Jede Kreatur war massiv, jede Bewegung präzise und bedächtig.
Nicht ein Drache.
Vier.
Das waren nicht einfach Wächter – das waren Warden-Born. Wächter aus Stein und uralter Magie, erweckt durch das Eindringen in das Heiligtum des Samens. Dravens Gedanken rasten und registrierten jedes Detail, während sich die Drachen bewegten. Er bemerkte den synchronen Rhythmus ihrer Atmung, jedes Ein- und Ausatmen perfekt aufeinander abgestimmt.
Ihre Flügel bewegten sich vorsichtig, in genau abgestimmten Winkeln, die sich gegenseitig ausbalancierten. Sie bewegten sich nicht wie Tiere, sondern wie Krieger, die auf einem Schlachtfeld ihre Positionen einnahmen und sich auf einen Angriff vorbereiteten.
Sylvannas Finger zuckten nervös an ihrer Seite, ihre Muskeln spannten sich an, und ihre Augen huschten nervös zu Draven. Er war ihr Anker, ihr Kompass, und sie brauchte seine Gewissheit jetzt mehr denn je.
„Draven?“, fragte sie mit angespannter Stimme, die von einem leichten Zittern verraten wurde, das sie nicht ganz verbergen konnte.
„Ich könnte sie besiegen“, antwortete Draven mit tonloser Stimme, klinisch und trotz der monströsen Übermacht, die ihnen gegenüberstand, absolut selbstbewusst. „Aber noch nicht.“
Sylvanna blinzelte, ihren Mund leicht geöffnet vor Unglauben, während Panik ihr Herz heftig gegen ihre Rippen hämmern ließ. „Du zögerst. Warum?“
Dravens Antwort kam sofort und unbeeindruckt. „Ich zögere nicht“, erklärte er ruhig, seinen Blick immer noch auf die herannahende Bedrohung gerichtet, Winkel, Timing und Fluchtwege berechnend. „Ich denke voraus.“
In Wahrheit erkannte er etwas – ein Echo aus seinem früheren Leben, einen Teil einer Strategie aus einem Szenario, das er schon einmal erlebt hatte. „Die Vier-Beben-Wächter“, erinnerte er sich innerlich. Das war ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Hains gewesen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Das passte nicht zu dem Drehbuch, an das er sich erinnerte. So sollte sich das Szenario nicht entwickeln.
Das war anders. Falsch.
Das war gefährliche Improvisation.
Vaelarien stürmte durch den engen Tunnel, Sylvanna und Draven dicht hinter ihm, ihre Schritte klangen wie rhythmische Trommelschläge auf dem Kristallboden. Sylvanna beobachtete fasziniert und zunehmend beunruhigt, wie Vaelarien leise zu summen begann, eine eindringliche Melodie, durchdrungen von leisen Impulsen der Blutmagie. Als seine Stimme an- und abschwoll, reagierten die kristallinen Wurzeln und teilten sich wie Vorhänge, kurz bevor sie sie direkt getroffen hätten.
Sylvanna wurde schnell klar, was auf dem Spiel stand. Ein Fehltritt, ein falscher Ton, und sie wären gefangen – Knochen würden zerschmettert, Leben in einem Augenblick ausgelöscht.
Doch Vaelarien bewegte sich, als würde er nur von seinem Instinkt geleitet, ohne einen Blick nach vorne zu werfen. Es war blindes Vertrauen in die uralte Magie des Siegels und seine Blutlinie, das ihn vorantrieb. Sylvannas Vertrauen war weniger sicher; ihr Herz schlug wie ein wildes Tier in ihrer Brust, das verzweifelt nach Luft rang.
Die Wände hinter ihnen bebten heftig, und das Geräusch von zerreißendem Stein hallte wie fernes Donnergrollen wider. Die Drachen durchbrachen Barrieren aus Erde und Kristall und setzten ihre Verfolgung unerbittlich fort.
Sylvanna blickte gerade noch rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie das nächste Tier durch eine nahegelegene Wand brach und Splitter wie tödlicher Regen nach außen schleuderte. Sie schnappte nach Luft, duckte sich tief und spürte, wie die verdrängte Luft wie ein messerscharfes Flüstern an ihrer Wange vorbeirauschte.
Der Gang wurde enger und verlief chaotisch, die Wände drehten sich in unnatürlichen Spiralen. Plötzlich spürte Sylvanna, wie sich die Schwerkraft unter ihren Füßen verschob und moosbedeckte Steine sie abrupt nach oben schleuderten. Ihr Magen setzte sich zusammen, und ein erschrockener Schrei entrang sich ihren Lippen, als die Decke auf ihr Gesicht zuraste. Reflexartig drehte sie sich um, griff blind nach etwas und schlug panisch um sich.
Eine kräftige Hand packte ihren Gürtel mit eisernem Griff.
Sie blieb mitten in der Luft stehen und hing einen Moment lang gefährlich, bevor Draven sie mit seiner Kraft sicher zurück auf den Boden des Ganges schleuderte. Sie stolperte, atmete scharf und zitternd, während Adrenalin durch ihre Adern schoss.
„Du warst schon immer eine ungeduldige Schurkin“, murmelte Draven trocken, ohne dass seine Stimme Anzeichen von Anstrengung oder Panik verriet, nur ruhige, kontrollierte Belustigung, überlagert von unerschütterlicher Effizienz.
Sylvanna warf ihm einen ungläubigen Blick zu, strich sich die Haare aus dem geröteten Gesicht und spürte, wie ihr Herz wie wild gegen ihre Rippen hämmerte. „Und du sparst dir deine Witze immer für den Moment auf, in dem wir fast tot sind“, erwiderte sie atemlos, während ein halbes Lächeln sich durch die noch immer vorhandene Angst kämpfte.
Sie drängten weiter vorwärts, jeder Schritt ein Akt des Vertrauens, jeder Atemzug eine weitere Chance, ihre erschütterte Fassung wiederzugewinnen. Hinter ihnen brüllten die Drachen und schlugen mit unerbittlicher, berechnender Präzision mit ihren Klauen um sich. Vaelariens Summen wurde hektischer, lauter, verzweifelte Töne entrangen sich seinen Lippen. Seine Stimme zitterte, brach fast, während Schweiß seine blasse Haut durchnässte.
Draven las weiter die Muster, die subtilen Verschiebungen und Schwingungen darunter. Seine Augen verengten sich, sein Verstand durchging rasend alle Möglichkeiten. Das waren nicht nur Wächter, die durch das Eindringen alarmiert worden waren. Sie handelten nicht einfach nach Verteidigungsprotokollen. Sie wurden von einer äußeren Kraft gelenkt und koordiniert – von einem unsichtbaren Puppenspieler, der ihre Verfolgung mit tödlicher Präzision orchestrierte.
Er dachte wieder an Vaelarien, an die verzweifelte Dringlichkeit in den Gesichtszügen der Elfe. War Vaelarien eine Führerin oder eine Schachfigur? Draven schob die Frage zur späteren Analyse beiseite, denn jetzt ging es ums Überleben.
Sylvanna sprintete voraus und hielt mit Draven Schritt. Der Gang wurde immer chaotischer, die Schwerkraft verzerrte sich erneut, warf sie zur Seite und zwang Sylvanna, mitten im Lauf ihre Schritte anzupassen, um das Gleichgewicht zu halten. Ihr Bogen schlug gegen ihre Schulter, jeder Aufprall war ein Ruck, jeder Schritt ein kleiner Sieg gegen das sich verändernde Terrain.
Von hinten hallte ein weiteres Brüllen – diesmal kam ein Drache näher. Sylvanna wagte einen weiteren kurzen Blick zurück.
Durch Lücken in den verwinkelten Wänden sah sie riesige, steinige Kreaturen, die hinter ihnen her waren, und ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ihre Flügel schlugen wild und wirbelten Staub und Kristallfragmente wie Trümmer in einem Wirbelsturm auf. Sie waren zu nah, viel zu nah.
Vaelarien schrie vor sich hin, die Worte kamen ihm schwer über die Lippen. „Schneller! Der Hain – er bricht auseinander!“
Sylvanna verstand kaum, doch sie spürte deutlich, was er meinte. Die Drachen sollten nicht so jagen. Die Verteidigungsanlagen des Hains versagten – oder schlimmer noch, sie wurden absichtlich missbraucht.
Sie sah zu Draven und bemerkte, dass sein Kiefer vor Anstrengung angespannt war – die kalte Wut eines Strategen, dessen sorgfältige Pläne plötzlich in sich zusammenbrachen.
„Was jetzt?“, keuchte sie mit rauer Stimme.
„Jetzt“, antwortete Draven, der selbst inmitten des Chaos völlig ruhig blieb, „passen wir uns an. Schnell.“
Sylvanna schnaubte atemlos, und selbst durch die adrenalingeladene Panik hindurch traf sie die Absurdität seiner Untertreibung. „Anpassen, sagt er“, murmelte sie leise, während sie über ein weiteres Hindernis aus verwundenen Wurzeln und Kristallspitzen sprang. „Immer so selbstsicher.“
Dravens Blick huschte kurz zu ihr, gerade lange genug, dass sie ein leichtes Grinsen um seinen Mundwinkel erkennen konnte. Dann wandte er sich wieder nach vorne und führte sie tiefer in den gewundenen Gang, während das Dröhnen der Drachen näher kam und durch die Kristallwände vibrierte.
„Und du sparst dir deine Witze immer für den Moment auf, in dem wir fast tot sind“, wiederholte sie atemlos, wohl wissend, dass er sie gehört hatte, auch wenn er nicht weiter darauf reagierte.
Sie erreichten die knarrende Wurzelbrücke, gerade als die Welt unter ihnen explodierte. Sylvannas Herz schlug ihr bis zum Hals, als ein weiterer Drache gewaltsam durch den Höhlenboden brach. Sein Maul war weit aufgerissen, Flammen schossen hervor und flüssiger Stein tropfte wie Wachs von seinen Reißzähnen.
Sie spürte eine Hitzewelle an ihren Knöcheln, als sie losrannte und fast stolperte, als die Wurzelbrücke nach oben sprang – nicht, um zu brechen, sondern um sich wie ein lebendes Wesen vor den Flammen zurückzuziehen.
Vaelarien warf nicht einmal einen Blick über seine Schulter, sein Gesicht war blass, seine Augen weit aufgerissen, voller Angst und Unglauben. „Die Protokolle versagen! Sie sollen uns nicht jagen. Nicht so!“