„Ein Begräbnisgedicht“, bestätigte Draven. „Ein Versprechen, dass kein Same allein schläft.“ Sein Blick huschte über die leuchtenden Runen und suchte nach der Bedeutung in Mustern, die zu alt für menschliche Sprachen waren. Sein Gesichtsausdruck war sanft – die messerscharfe Aufmerksamkeit des Strategen war verschwunden und durch etwas wie wehmütige Erkenntnis ersetzt worden. Es dauerte nur einen Herzschlag, dann verbarg sich dieser Ausdruck wieder hinter seiner gewohnten Gelassenheit.
Mit nur noch drei Scheiben wurde die Hymne leiser, als würde sie den Atem für den letzten Refrain sparen. Sylvanna spürte, wie der Schweiß an ihren Schläfen kühlte. Die Luft hier oben war dünn und schmeckte leicht nach zerkleinerter Minze. Wenn sie die Augen schloss – nur für einen Moment, das schwor sie sich –, konnte sie sich vorstellen, die Plattformen seien Seerosenblätter auf einem See und ein falscher Schritt würde sie in etwas stürzen, das kälter war als Wasser.
Draven ließ keine Fantasien zu. „Letzte Takte“, warnte er. „Das Tempo wird langsamer.“
Er machte den ersten Schritt – Ferse runter, Zehen abrollen, Gewicht nach vorne verlagern – jede Bewegung so präzise, dass man sie in Noten schreiben könnte. Sylvanna folgte ihm und übersetzte seine Bewegungen in ihre eigenen längeren Schritte. Die Plattform summte einen Tenorton, der fast schon wehmütig klang. Ein weiterer Schritt: Alt, warm wie Rauch, der aus einem Kamin aufsteigt. Sie holte tief Luft und atmete den geisterhaften Duft der sternenberührten Blätter über sich ein.
Sie landeten zusammen auf der größten Scheibe, einer glatten, mondweißen Platte, die unter ihren Stiefeln pulsierte wie ein großes Herz unter Marmorrippen. Eine spiralförmige Glyphe entrollte sich in filigranem Gold über ihre Oberfläche und strahlte nach außen, bis die Ränder der Plattform in einem sanften Heiligenschein leuchteten. Weit unten löste sich der Nebel in einem anmutigen Wirbel auf und gab den Blick frei auf die runenartigen Texte auf dem Boden, die in perfekter Stasis festgehalten waren – die Hymne war vollendet.
Sylvanna lachte nervös. „Sag mir, dass dieses Symbol ein Segen ist. Ich brauche einen Sieg.“
Draven ließ seinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen und nahm die welken Ranken und die nachlassende Leuchtkraft der Sternbilder zur Kenntnis. „Ein Segen“, gab er zu, obwohl sich eine Ecke seines Mundes zu einem ironischen Lächeln verzog, „der gelegentlich auch als Überwachung dient.“
Sie strich sich eine lose Locke aus der Stirn und verschmierte dabei den Schweißfilm. „Natürlich tut es das. Elfen und ihre vielschichtigen Bedeutungen.“ Sie schüttelte ihren Kragen, um die Anspannung loszuwerden. „Als Nächstes erzählst du mir noch, dass ihre Gutenachtgeschichten als Geheimcodes für die Spionageabwehr dienen.“
„Nur bei geraden Mondphasen.“ Sein trockener Ton entlockte ihr ein widerwilliges Grinsen.
Die Marmorplattform hinter der letzten Scheibe senkte sich mit einem leisen Zischen und gab den Blick auf eine Treppe frei, die in ein schwaches grünes Leuchten hinabführte. Draven zögerte nicht, ging vorwärts, seine Stiefel flüsterten auf dem Stein, als wollten sie die Stille nicht stören, die ihre Musik geschaffen hatte. Sylvanna folgte ihm, streckte ihre steifen Knöchel und fand jeden Schritt seltsam alltäglich nach der sorgfältigen Choreografie.
Die Luft wurde kühler und roch nach Flussglas, das im Mondlicht lag. Sie kamen in eine versunkene Lichtung, die wie eine flache Schüssel geformt war und in der Bäume aus reinem Kristall in den Himmel ragten. Ihre Stämme waren Prismen, ihre Äste verzweigten sich in blattdünne Scheiben, die leise in einem nicht vorhandenen Windzug klirrten. Jede Oberfläche spiegelte das umgebende Licht und brach es in regenbogenfarbene Strahlen.
Als die Jäger die Schwelle überschritten, erwachsen Hunderte von Reflexionen auf der glasigen Rinde zum Leben – Bilder wie Öl auf Wasser, jedes Bild flackernd zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Draven holte fast lautlos Luft. Er kannte dieses Gebiet vom Hörensagen: den Garten der gläsernen Reue.
Sylvanna blieb zwei Schritte vor ihm stehen, ihre Stiefel quietschten auf dem polierten Quarzpfad. Ihre Pupillen weiteten sich und fixierten einen einzelnen Baum am Rand der Lichtung. In seinem klaren Stamm spielte sich eine Szene ab, als wäre sie in Eis gemeißelt: Sylvanna selbst kniete neben einer zotteligen Chimäre mit Löwenkörper, deren Flanke blutrot war. Mit zitternden Fingern drückte sie Verbände auf die Wunde.
Dann sackten ihre Schultern zusammen, und alle Hoffnung war dahin. In der Reflexion stand sie da, schüttelte den Kopf und ging zurück, während die leuchtenden Augen der Bestie ihr folgten. Sie verschwand hinter den Bäumen. Augenblicke später hauchte die Chimäre ihren letzten Atemzug aus.
Die echte Sylvanna presste lautlos die Kiefer aufeinander. Ihre Finger krallten sich in ihre Hüften, ihre Fingernägel bohrten sich in das Leder ihrer Handschuhe. „Das war nicht meine Schuld“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Ich hatte kein Gegengift mehr. Ich – ich wusste nicht, dass sie schwanger war.“
Glasblätter klirrten über ihren Köpfen, als würden sie ihre Ausreden verspotten.
„Erinnerungen kümmern sich nicht um Absichten“, sagte Draven leise. Er rührte sie nicht an – das Risiko, dass eine zu vertraute Geste zu einem Rückstoß führen könnte, war zu groß –, aber seine Anwesenheit gab dem Moment Halt, fest und unerschütterlich.
Auch sein Spiegelbild war aufgetaucht. In der zentralen Laube entfaltete sich eine Vision: ein weiterer Hain, verkohlte Wurzeln, zerbrochene Runen. Ein Herzenssamen pulsierte weißglühend auf einem Steinsockel, sein Leuchten flackerte wie eine Kerze im Sturmwind. Eine Gestalt – Dravens eigenes Spiegelbild – stand davor, zwei Klingen in den Scheiden, den Blick düster.
Risse zogen sich über die Hülle des Samens, bis er zerbrach; ein brodelnder Schatten brach hervor, und lautes Gelächter hallte in stiller Verspottung wider. Das Spiegelbild – Draven – tat nichts, zog kein Schwert, sprach keinen Zauber, sondern sah nur zu, wie die Dunkelheit junge Bäume, Ranken und die Luft verschlang. Das Scheitern, eingefangen in Bernstein.
Der echte Draven neigte den Kopf und untersuchte jeden Riss und jeden Rußfleck, als wolle er sich die Fehlerlinien einprägen. Er zuckte nicht mit der Wimper. Er verteidigte sich nicht. Nach einem langen Moment neigte er den Kopf – nicht aus Scham, sondern in Anerkennung, wie ein Krieger, der den Preis seiner Fehleinschätzung akzeptiert.
Die Kristallrinde beschlug sich, das Bild löste sich in einem blassen Leuchten auf. Die Akzeptanz war spürbar; der Garten gewährte in Stille Absolution.
Sylvanna schwebte unterdessen am Rand ihrer Szene und atmete flach und schnell. Tränen traten ihr in die Augen und glänzten auf ihrer verschwitzten Haut. Sie hob eine behandschuhte Hand, deren Fingerspitzen nur wenige Zentimeter von der geisterhaften Mähne der Chimäre entfernt zitterten. Glasiger Frost strahlte von der Erinnerung aus, kalt wie vergessene Versprechen.
„Nicht“, warnte Draven, und dieses eine Wort war so scharf wie jede Klinge, die er schwang. „Reue muss man tragen, man darf sich nicht daran festklammern. Wenn du sie berührst, lässt du sie Wurzeln schlagen.“
Ihre Hand sank zitternd an ihre Seite. Das Bild des Baumes verblasste und verschwand in neutraler Durchsichtigkeit. Die Umrisse der Chimäre gaben sich dem blassen Sternenlicht hin und hinterließen nur noch einen schwachen Abdruck von Ästen hinter ihren Augen.
Stille legte sich über die Lichtung, als würden Dutzende unsichtbarer Herzen gleichzeitig ausatmen. Ein Weg aus winzigen Kristallsteinen – nicht höher als die Schienbeine – führte zwischen den Bäumen hindurch zu einem dunklen Bogen. An seinen Rändern öffneten sich runenartige Blüten, die in einem sanften Korallenton leuchteten und einen sicheren Durchgang versprachen.
„Praktisch“, murmelte Sylvanna und wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen.
„Therapeutisch“, korrigierte Draven und machte sich bereits auf den leuchtenden Pfad. Er hatte keine Geduld, an einem Ort zu verweilen, an dem Geister zu Wort gekommen waren. Sylvanna schloss sich ihm nach einem Herzschlag an, jeder ihrer Schritte klang wie eine Glasglocke. Kein Echo ihrer Reue folgte ihnen; der Garten behielt, was er geerntet hatte.
An der Schwelle des Bogens verdichtete sich die Luft – warmer Stein nach winterlichem Glas.
Irgendwo vor ihnen pulsierte ein fernes, langsames und schweres Dröhnen, als würde ein Felsen sich daran erinnern, wie man atmet. Draven erkannte das Geräusch: Die Kammer des Atems und des Steins wartete.
Aber die lag noch vor ihnen. Vorerst verblasste die Spiegelwiese hinter ihnen und verschloss ihre Geheimnisse unter der Stille des gebrochenen Sternenlichts, und Draven trug das stille Gelübde, das sich unter seinen Rippen formte, weiter: Manche Zukunft würde, anders als Erinnerungen, nicht zerbrechen.
Draven senkte den Kopf, eine einzige, bewusste Bewegung, die zu einer bereits verblassenden Erinnerung sagte: Ich sehe dich.
Der verspiegelte Stamm beschlug, spinnennetzartige Risse vernetzten sich, bis der Kristall nur noch das verzerrte Leuchten der Runen in der Nähe zeigte. Der Garten nahm seine Anerkennung an wie Erde, die Regenwasser aufnimmt, ohne Triumph, ohne Vorwurf – einfach still.
Auf der anderen Seite der Lichtung stand Sylvanna immer noch regungslos da, die Hand vor den Augen. Durch die zerklüftete Rinde sah sie ihr jüngeres Ich, das von der sterbenden Chimäre wegtaumelte, jeder Schritt voller Schuldgefühle, die sie jahrelang mit Tapferkeit überspielt hatte. Der Anblick raubte ihr den Atem; ihre Schultern zitterten vor Anspannung.
Ein Herzschlag, zwei.
Dravens Stimme glitt durch die Stille, leise, aber mit einem Befehlston. „Genug.“
Sie zuckte zusammen, ihre Finger streiften das Glas. Frost bildete sich dort, wo ihr Handschuh das Glas berührte, und feine Risse rannten auf das Bild zu, als würde die Reue selbst den Baum zerbrechen wollen. Er überbrückte die Distanz mit drei geräuschlosen Schritten. Mit der Präzision eines Chirurgen fing er ihr Handgelenk auf, bevor ihre Haut das kalte Glas berühren konnte.
„Reue muss man tragen“, sagte er mit steinerner Miene, „man darf sich nicht daran festklammern. Behalte sie hier“, er tippte leicht auf ihr Brustbein, „und geh weiter.“
Sylvanna stockte der Atem. Die sterbenden Augen der Chimäre flackerten ein letztes Mal, dann verblasste das Bild und zerfiel zu klarem Kristall, der nur ihr eigenes erschrockenes Gesicht widerspiegelte. Erleichterung kribbelte auf ihrer Haut, gefolgt von einem Nachgeschmack der Scham. Sie riss ihre Hand los, trat aber nicht zurück.
Die Blätter des Baumes – dünne Glasscheiben – raschelten, als würden sie seufzen. Reflektiertes Sternenlicht fiel in Strömen auf sie herab, und in diesem Glitzern entstand ein schmaler Pfad: sich überlappende, lilienförmige Fliesen, die tiefer in den Hain führten. Jede Fliese leuchtete in einem gedämpften Rosa, einladend, aber nicht aufdringlich.
„Praktisch“, murmelte Sylvanna und rieb sich das Handgelenk.
„Therapeutisch“, korrigierte Draven. Er drehte sich um, ohne einen weiteren Blick auf die Bäume zu werfen, sein Umhang raschelte über dem Quarzgras. Seine Haltung signalisierte: Vorwärts oder zurückbleiben.
Sie folgte ihm, ihre Stiefel klirrten, als sie auf die kristallinen Blütenblätter trafen. Das Echo der Chimäre flatterte hinter ihren Augen, aber das Gewicht auf ihrer Brust fühlte sich leichter an – als hätte der Garten zugestimmt, für eine Weile die Hälfte davon zu tragen.
Der Weg wurde schmaler, Äste bildeten einen dunklen Korridor über ihren Köpfen. Mit jedem Schritt wurde das Licht schwächer, bis sie auf eine kleinere, kreisförmige Lichtung traten. Hier roch die Luft nach Granitstaub und fernen Gewittern.
Vor ihnen ragten massive Steintore empor, aus dunklem Basalt mit silbernen Adern. Hunderte von Namen bedeckten die Oberfläche, viele waren so verwittert, dass nur noch Rillen zu erkennen waren – Erinnerungen, die unter dem langsamen Tropfen der Jahrhunderte erodiert waren.
Ein Satz blieb an der Krone des Bogens klar lesbar, die Runen erneuerten sich jedes Mal, wenn ein Stück Stein verblasste:
Um zu passieren, sprich den Namen, der sich an dich erinnert.
Sylvanna runzelte die Stirn. „Sehr geheimnisvoll.“