„Pass dich meinem Rhythmus an“, sagte er und führte sie auf die Scheibe, die er gerade verlassen hatte. Die Plattform klingelte erneut, diesmal lauter; sie erkannte das Paar als Harmonie und nicht als Fehler. „Keine Abweichung. Wenn dein Puls ins Stocken gerät, bricht das Lied zusammen.“
„Kein Druck“, sagte sie mit ausdrucksloser Miene, aber die Stille in der Kammer nahm jeder ihrer Worte den Sarkasmus. Sie atmete ein, ließ die kühle Luft in ihre Lungen strömen und lauschte auf das leise Echo, das Draven mit seinem letzten Schritt hinterlassen hatte. Es war noch da – ein Nachhall, der in den Runen unter ihren Füßen nachhallte. Sie verlagerte langsam ihr Gewicht und lockte das Echo hervor, anstatt es zu übertönen. Die Scheibe antwortete mit einem schüchternen, mittleren Ton.
Dravens Blick huschte zur Seite – ein stilles „Okay“.
Er bewegte sich wieder, diesmal zu einer höheren Scheibe, die im Nebel verhangen war. Der Sprung sah mühelos aus, sein Mantel flatterte wie dunkle Flügel. Ein glockenähnlicher Tenoton schwebte herab. Sylvanna folgte ihm und sprang eine halbe Stufe hinter ihm auf eine Schwesterplattform. Ihre Landung erzeugte einen passenden Tenoton, und für einen Herzschlag verschmolzen die Töne in einem perfekten Intervall, zart wie gesponnenes Silber.
Der Raum antwortete.
Die an den kreisförmigen Wänden hängenden Ranken zitterten und glitten zurück, um die in den Stein gemeißelten Sternbilder freizulegen. Über ihnen hellten sich Sternenillusionen auf, als würde die Musik die Nacht dazu verleiten, ihre Augen zu öffnen.
Draven nahm die Veränderung mit einem leichten Nicken zur Kenntnis. „Die Halle hört zu. Bleib ruhig.“
Sie gingen weiter, einen Schritt nach dem anderen. Jede Scheibe erinnerte sich an den Ton der vorherigen und bildete Akkorde, die wie mehrschichtige Polarlichter über dem Nebel schwebten. Immer wenn Sylvannas Stiefel über den Boden scharrte, passte Draven seinen Rhythmus an, fügte hier eine Verzierung hinzu, dort eine verlängerte Pause, um die Melodie auszugleichen, bevor sie verstimmte. Zu ihrer Überraschung begann sie, sein Timing vorauszuahnen und spürte die Spannung in seinem Handgelenk einen Bruchteil bevor er zur nächsten Scheibe sprang.
Auf halbem Weg durch die Spirale wagte sie ein Gespräch – leise, um die Konzentration nicht zu stören. „Du spielst diese Rolle gut.“
„Welche?“, fragte Draven, ohne aus dem Takt zu kommen.
„Chorleiter. Ich dachte, du bevorzugst Klingen gegenüber Balladen.“
„Werkzeuge“, antwortete er. „Eine Melodie kann ein Schlachtfeld effektiver zum Schweigen bringen als Stahl, wenn sie richtig eingesetzt wird.“
Vor ihnen begannen die Plattformen steiler anzusteigen, sodass sie höher über den Nebel gelangten. Die Luft kühlte ab. Sylvannas Atem bildete sichtbare Wolken. Sie blickte nach unten; der Boden war in wirbelnden silbernen Dämpfen versunken, als wären sie in einen sternenübersäten Himmel geklettert.
Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug – Höhen waren nicht gerade ihre Lieblingsarena. Die nächste Scheibe wackelte leicht unter Draven’s Ferse und vibrierte warnend. Er blieb stehen und schätzte ihre Anspannung ein, so wie andere Leute vielleicht Schlagzeilen lesen würden.
„Du zögerst“, stellte er fest.
Der Nebel trug diese Bemerkung wie ein Gerücht um sie herum. Sylvanna schluckte. „Es ist ein langer Fall.“
„Dieser Raum ist nicht zum Töten gedacht“, sagte er mit leiserer Stimme, als sie erwartet hatte. „Nur zum Korrigieren. Vertrau dem Lied.“
Leichter gesagt als geglaubt. Dennoch atmete sie die Erinnerung an Laethiels Wiegenlied ein – das sanfte, dreiteilige Summen, das sich in der Halle der Blütenblätter in ihren Knochen festgesetzt hatte. Sie passte ihren Puls an diesen Rhythmus an. Das Zittern in ihren Gliedern ließ nach.
Als sie zur nächsten Scheibe sprang, empfing sie ein ruhiger Alt, ohne jede Schwankung.
Draven drängte sie weiter und führte sie in einem Sprung- und Schrittmuster, das sich spiralförmig zum unsichtbaren Zentrum der Kammer hinaufschraubte. Unter seiner Anleitung begann sie, die Hymne in ihrer ganzen Fülle zu hören – nicht nur einzelne Töne, sondern eine vollständige, traurig anmutende Melodie, die sich wie warmer Seidenstoff um ihren Kopf legte.
Traumhafte Bilder flackerten am Rande ihres Blickfelds: Elfen, die Kristalle wiegten, Blütenblätter, die über stille Teiche schwebten, mondhelle Nachtwachen für junge Bäume, die mit silbernem Tau gekrönt waren.
Ein plötzlicher violetter Lichtblitz riss sie zurück in die Realität. Eine Plattform vor ihr leuchtete in der falschen Farbe – indigo statt perlweiß – und ihre Rune flackerte wie eine Kerze im Wind.
„Unstimmigkeit“, warnte Draven kaum hörbar. Er drehte sich in der Luft um und flog zu einer sichereren Plattform zwei Schritte weiter links. Sylvanna tat es ihm gleich, rutschte jedoch einen Zentimeter aus. Der folgende Ton schwankte und versuchte sich zu korrigieren. Sie spürte mehr als sie hörte, wie die Melodie unter der Anspannung nachgab, wie ein schiefer Turm.
Nebel wirbelte in neugierigen Strähnen nach oben und suchte nach Fehlern.
„Hier kommen bei Beerdigungen Zweifel zum Ausdruck“, sagte Draven und hielt ihr Handgelenk fest, um ihr Gleichgewicht zu stabilisieren. „Die Trauer hinterfragt sich selbst. Halte trotzdem den Herzschlag aufrecht.“
„Wie philosophisch“, murmelte sie, aber ihr Blick wurde schärfer. Sie berührte mit ihrer freien Hand das Fläschchen an ihrem Hals – in dem die flüssige Chimärenessenz schwappte – und schien aus dessen Gewicht Mut zu schöpfen.
Sie setzten ihren Aufstieg fort. Draven erhöhte das Tempo, sprang diagonal über jeweils zwei Scheiben und zwang ihre Reflexe, mitzuhalten. Jeder erfolgreiche Akkord ließ die Rosettenkonstellation über ihnen heller leuchten; jeder Beinahe-Treffer ließ einen Stern für einen Herzschlag erlöschen, bevor er wieder aufleuchtete, vergebend, aber wachsam.
Schweißperlen bildeten sich an Sylvannas Haaransatz. Bei jedem Sprung stieß ihr Bogen leicht gegen ihren Rücken.
Sie fragte sich, ob Pfeile in diesem Raum überhaupt den Gesetzen der Physik gehorchen würden oder mitten im Flug in Harfensaiten zerbrechen würden. Besser, das nicht herauszufinden.
Sie erreichten eine schmale Stelle, an der drei Scheiben nur wenige Zentimeter voneinander entfernt eine Triade bildeten. Draven landete auf dem Scheitelpunkt; zwei fast gleichzeitige Töne spiralförmig umeinander in perfekten Quinten. Er drehte sich um und streckte nun seine andere Hand aus. „Schneller Schritt“, wies er sie an. „Links, rechts, heben.“
Sylvanna gehorchte: linke Scheibe, rechte Scheibe, auf seine. Der dreifache Puls der Töne entfaltete sich zu einem Akkord, der so resonant war, dass sie ihn hinter ihren Zähnen spürte – eine kleine Sexte, die sich auflöste, bittersüß und seltsam beruhigend. Die Ranken an den Wänden entwirrten sich weiter und strömten wie Bänder, die bei einer Zeremonie losgelassen wurden, nach unten. Wo sie den Nebel berührten, kristallisierten sich Tröpfchen zu winzigen Blumenformen, die auf unsichtbaren Strömungen schwebten.
„Fast geschafft“,
hauchte Draven, obwohl sein Puls so ruhig wie immer blieb.
Sie sprangen über drei kleinere Scheiben, die wie Kerzendochte flackerten. Jeder Ton war unglaublich leise – die Stille kurz bevor ein Wiegenlied in Schlaf übergeht. Sylvanna war fast wie hypnotisiert und hätte fast vergessen, ihre Knie auf der Landefläche zu beugen. Aber Draven drückte ihr still die Hand, und sie sank mit dem Ton eher hinab, als dass sie ihn anschlug, sodass der Akkord eher seufzte als knallte.
Schließlich verjüngte sich die Spirale zu einer einzigen Linie aus fünf breiten Plattformen, die zu einem blassen Marmorpodest führten. Von unten schien das Podest im Mondlicht zu schweben. Draven landete als Erster; seine Scheibe summte einen tiefen, hohlen Bass, der die ganze Kammer in Resonanz versetzte. Er winkte ihr, weiterzukommen: drei Schritte, jeder niedriger als der vorherige, wie die letzten Takte eines Liedes, das in Stille versinkt.
Sie trat vor, Scheibe für Scheibe. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Kinnlade, ihr Atem bildete kleine Eiskristalle in der Luft. Die Hymne umhüllte sie nun vollständig und leuchtend, nicht mehr durch ihre Schritte erzeugt, sondern sie wie eine sanfte Flutwelle tragend. Mit jedem Pulsschlag zog sich der Nebel zurück und gab den Blick auf in den Boden gemeißelte Runen frei – spiralförmige Liedtexte, die zu alt waren, als dass sie sie hätte lesen können.
Auf halbem Weg blieb eine Splitter in ihrem Stiefel an der Holzplattform hängen. Sie schwankte ein wenig zur Seite – gerade genug.
Der Ton schwankte.
Sylvannas Stiefel rutschte nur um die Breite eines Fingernagels, doch die Scheibe reagierte, als hätte sie versucht, ein Loch hinein zu stampfen. Die Saite riss, ihre hohen Töne kreischten wie Metall, das über Stein gezogen wurde, und ein Hauch eisiger Luft wehte aus dem Nebel herauf. Alle schwebenden Plattformen im Umkreis von drei Schritten zitterten und neigten sich gerade so weit, dass man meinen konnte, bei einem weiteren Fehler würden sie wie aufgeschreckte Vögel auseinanderfliegen.
Draven umklammerte ihren Unterarm, bevor die Schwerkraft das Spiel beenden konnte. Sein Griff war fest und kühl, der Puls unter seinem Handschuh verriet keine Spur von Alarmbereitschaft.
„Zentriere dich“, sagte er mit einer Stimme, die nur für ihre Ohren bestimmt war. „Denk an Laethiels Wiegenlied. Lass es den Takt vorgeben.“
Die Erinnerung traf sie wie ein Schlag. Sylvanna atmete tief ein und suchte nach der Erinnerung an die silberne Melodie, die der Junge mit seiner Aura in ihre Knochen gewoben hatte. Eins … zwei … drei – sanftes Schwanken, leiser Rhythmus. Sie passte ihren Atem daran an und spürte, wie das Hämmern in ihrer Brust von einem wilden Galopp zu einem entschlossenen Trab verlangsamte. Die Scheibe unter ihrer Ferse wurde ruhiger, die Rune flackerte wieder in Perlweiß auf.
Eine neue Note erklang von Dravens Plattform – tief, beruhigend, wie eine beruhigende Hand auf ihrem Rücken. Er ließ ihren Arm erst los, als er spürte, dass sich ihr Gewicht verlagert hatte.
„Besser“, murmelte er.
Gemeinsam nahmen sie die nächste Scheibe. Die Harmonie kehrte mit dem befriedigenden Klicken eines Schlosses, das in den Schlüssel passte, zurück. Der Nebel unter ihnen lichtete sich und gab den Blick auf Schnitzereien auf dem Boden der Kammer frei – spiralförmige Liedtexte, die in altem Hochelfisch eingraviert waren, Zeilen, die so fein waren, dass sie wie Haare aussahen, die über Marmor gelegt waren.
„Sind das Liedtexte?“, flüsterte Sylvanna und blickte zwischen ihren Füßen und den Schriftzeichen hin und her, die sich unter dem Nebel entfalteten.
„Grabverse“,