Theo salutierte kurz, sein Gesicht war blass, aber entschlossen. „Verstanden, Captain.“
Als sich die beiden Gruppen trennten, wurde die Spannung immer größer. Die Straßen waren menschenleer, ihre Schritte hallten unheimlich laut in der Stille wider. Sophies Herz pochte, als sie ihr Team durch die verwinkelten Gassen führte, jeder Schatten ließ ihre Nerven flattern. Sie fühlte sich ungeschützt und verletzlich. Die Kälte war nicht nur körperlich – es war, als würde die Stadt selbst sie beobachten und darauf warten, dass sie einen Fehler machten.
Sharon, immer wachsam, suchte die Dächer und Gassen ab. „Meine Dame, erinnert Sie das nicht an die Geistergeschichten, die man uns als Kinder erzählt hat?“, fragte sie mit etwas zu leichter Stimme, als wolle sie die Spannung auflockern. „Sie wissen schon, die Geschichten, in denen Menschen verschwinden und nur ihre Schatten zum Leben erwachen und die Macht übernehmen?“
Sophie rang sich trotz allem ein schwaches Lächeln ab. „Ich habe nie an diese Geschichten geglaubt, Sharon.“
„Ich auch nicht, bis jetzt“, murmelte Sharon und warf einen nervösen Blick in eine nahegelegene Gasse. „Dieser Ort macht mir zu schaffen.“
Sophie umklammerte ihr Schwert fester. „Bleib konzentriert. Wir dürfen nicht unachtsam werden.“
Sie gingen weiter in Richtung Marktplatz, wo die einst belebten Stände nun nur noch leere Hüllen waren, deren Waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt waren. Sophie duckte sich neben einen der Stände und untersuchte den Boden. Keine Fußspuren. Keine Anzeichen von kürzlicher Aktivität. Es war, als wäre die ganze Stadt in der Zeit eingefroren.
„Hier ist nichts“, flüsterte Sharon. „Es ist, als wären sie einfach … verschwunden.“
Sophies Unbehagen wuchs. Es musste etwas geben – einen Hinweis, eine Erklärung für diese unnatürliche Stille. Aber je länger sie suchte, desto größer wurde ihre Angst. Die Schatten schienen dunkler zu werden und mit jedem Schritt näher zu kommen.
Gerade als sie die Suche abbrechen wollte, hörte sie ein Geräusch. Ein leises Rascheln, als würde Stoff über Stein streifen. Sie sprang auf und gab ihrer Truppe ein Zeichen, wachsam zu sein.
„Hier ist jemand“, flüsterte sie, ihre Stimme kaum hörbar über dem Heulen des Windes.
Die Truppe zog ihre Waffen, das metallische Geräusch der Klingen hallte durch die enge Gasse. Ihre Augen huschten in alle Richtungen, auf der Suche nach der Quelle der Störung. Die Straße war totenstill, getaucht in das schwache Licht eines von Wolken verdeckten Mondes.
Schatten tanzten über die Steinhäuser, verdrehten sich und streckten sich, als wären sie lebendig.
Einen Moment lang bewegte sich nichts. Die Stille war dicht wie der Atem vor einem Sturm. Dann tauchten aus den Schatten einer nahe gelegenen Gasse Gestalten auf – gehüllt in dunkle, schwere Roben, ihre Gesichter unter Kapuzen und Masken verborgen. Es waren drei, die mit unheimlicher, gemächlicher Anmut aus der Dunkelheit traten.
Sophie kniff die Augen zusammen und griff instinktiv nach dem Griff ihres Schwertes. Wer auch immer diese Leute waren, sie waren keine gewöhnlichen Stadtbewohner. Ihre Haltung, ihr lautloses Herannahen, die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen – alles deutete auf Gefahr hin.
Die Spannung war greifbar und verdichtete die Luft, als die beiden Gruppen sich auf der Straße gegenüberstanden. Sophies sechsköpfige Truppe bildete eine enge Reihe neben ihr, die Waffen erhoben. Die Fremden blieben regungslos stehen, und einen langen Moment lang machte keine der beiden Seiten eine Bewegung. Es war, als hätte die Nacht selbst innegehalten und hielte in Erwartung den Atem an.
Die Gestalten waren geheimnisvoll. Ihre Roben waren dunkel und verschmolzen fast mit den Schatten, die an ihnen zu haften schienen. Sie bewegten sich mit einer bedächtigen, berechnenden Geschmeidigkeit, die deutlich machte, dass es sich um ausgebildete Kämpfer handelte, nicht um die verängstigten Dorfbewohner, die Sophie und ihre Truppe in ihren Häusern versteckt gesehen hatten. Selbst die Art, wie sie dastanden – entspannt und doch bereit, sofort zu handeln – zeugte von ihrer gefährlichen Kompetenz.
„Wer sind die?“, flüsterte Sharon mit starrem Blick auf die Gruppe.
Sophie antwortete nicht. Ihr Instinkt sagte ihr, dass diese Leute keine gewöhnlichen Feinde waren, und etwas an ihrer Art, sich zu bewegen, wie sie mit der Dunkelheit zu verschmelzen schienen, weckte eine längst vergessene Erinnerung. Sie umklammerte ihr Schwert fester und suchte mit den Augen nach erkennbaren Details.
Plötzlich trat eine der Gestalten vor. Er bewegte sich mit der Anmut eines Raubtiers, wie ein Panther, der seine Beute verfolgt. Er war groß, sein Körper in eine Assassinenrobe gehüllt – eine schwarze Lederrüstung, die mit leichten Stahlplatten verstärkt war, die beim Gehen kaum Geräusche machten. Sein Gesicht war zur Hälfte von einer Maske verdeckt, und seine Kapuze war tief ins Gesicht gezogen, sodass man die meisten seiner Gesichtszüge nicht erkennen konnte.
Aber seine Augen – scharf und konzentriert – leuchteten unter dem Schatten seiner Kapuze und fingen das schwache Licht ein.
Die gekrümmten Klingen, die er in jeder Hand hielt, reflektierten das schwache Licht und waren gefährlich scharf. Er bewegte sich selbstbewusst, seine Schritte waren gemächlich, als hätte er alle Zeit der Welt und wüsste, dass ihm niemand etwas anhaben konnte. Er musterte sie, studierte sie, und Sophie konnte spüren, wie sein Blick über ihre Truppe wanderte, sie einschätzte und berechnete.
Ihr stockte der Atem, als ihr plötzlich ein Gedanke kam.
„Dravis“, flüsterte sie, und der Name kam ihr ungläubig über die Lippen.
Ihre Augen weiteten sich, als sie die unverkennbare Präsenz vor sich wahrnahm. Sie hatte die Geschichten gehört, die Geschichten über das berüchtigte Schattengebundene Duo – Dravis und Sylvanna, das tödliche Paar, das sich unmöglichen Aufgaben stellte und überlebte. Sie hatte sie schon mal gesehen und mit ihnen gekämpft, während des Aufstands des Goblin-Königs, als ihr Ruf gefestigt und ihre Legende mit Blut und Schatten geschmiedet wurde.
Der Blick des Assassinen traf ihren, und für einen kurzen Moment flackerte etwas in seinen Augen. Erkennen? Überraschung? Es war schwer zu sagen. Er blieb still, seine Haltung unbewegt, als würde er darauf warten, dass sie den ersten Schritt machte.
Neben ihm trat eine Frau vor, deren Kapuze gerade so weit zurückgeschlagen war, dass ein spöttisches Grinsen zu sehen war. „Na, na, na“, sagte sie mit amüsierter Stimme.
„Was macht eine königliche Ritterin hier draußen? Das ist nicht gerade Ihr Zuständigkeitsbereich, Eure Ehren.“
Sophies Herz pochte. Sylvanna. Der scharfe, spöttische Tonfall der Waldläuferin war unverkennbar. Auch sie hatte Geschichten über sie gehört – Geschichten über ihre tödliche Treffsicherheit mit dem Bogen und ihre scharfe Zunge. Und dann kam es in ihr Blickfeld.
Der Magmabär aus den Gerüchten.
Jetzt, wo sie ihm gegenüberstand, verspürte Sophie eine seltsame Mischung aus Anspannung und Vertrautheit. Sie hatte ihn schon einmal getroffen, aber irgendetwas an seiner Gegenwart war beunruhigend … vertrauter, als sie gedacht hatte.
Sharon trat vor, die Hand an ihrem Schwert. „Pass auf, was du sagst, du …“
Sophie hob die Hand und unterbrach sie. „Schon gut, Sharon“, sagte sie leise. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Dravis zu und sah ihn fest an. „Was machst du hier?“
Dravis‘ Antwort war kurz, seine Stimme leise und kalt. „Das Gleiche wie du. Ich ermittele.“
Sylvanna kicherte und lehnte sich lässig gegen eine frostbedeckte Wand. „Sieht aus, als hätten wir eine kleine Party.
Aber ich muss mal fragen, was die königlichen Ritter in einer verfluchten Stadt machen? Habt ihr euch verlaufen?“
Sophie ignorierte ihre Neckerei und konzentrierte sich weiterhin auf Dravis. Etwas an seiner Art zu sprechen und sich zu bewegen kam ihr bekannt vor. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie das schon einmal gesehen hatte. Die kalte, berechnende Art, wie er sie beobachtete, seine scharfen, prägnanten Worte. Es erinnerte sie an …
Nein. Das konnte nicht sein. Oder doch?
Sophie schüttelte den Gedanken ab. Jetzt war nicht die Zeit für Spekulationen. Sie brauchte Antworten. „Wir sind hier, um die Schattenplage zu untersuchen“, sagte sie mit fester Stimme. „Diese Stadt steht unter königlichem Schutz.“
Dravis‘ Augen huschten wieder hin und her, aber er sagte nichts. Es war Sylvanna, die als Nächste sprach, ihr Grinsen wurde breiter. „Eine Plage, was?
Klingt spannend. Aber ich glaube nicht, dass du hier viel finden wirst, Euer Ehren. Die Stadt ist seit Tagen leer.“
Sophie zögerte und wägte ihre Optionen ab. Sie schienen beide dasselbe zu wollen. Und wenn Dravis und Sylvanna hier waren, bedeutete das, dass das, was in dieser Stadt vor sich ging, gefährlicher war, als sie gedacht hatte.
„Dann sollten wir vielleicht zusammenarbeiten“, sagte Sophie vorsichtig und beobachtete ihre Reaktionen. „Wir sind hinter derselben Sache her, und es ist klar, dass dieser Ort nicht sicher ist.“
Dravis warf Sylvanna einen Blick zu, die eine Augenbraue hob, ohne ihr Grinsen zu verlieren. „Ein königlicher Ritter, der um Hilfe bittet? Das hätte ich nie gedacht.“
Sophie presste die Kiefer aufeinander. „Ich bitte nicht um Hilfe. Ich schlage eine Zusammenarbeit vor. Gemeinsam können wir mehr erreichen.“
Einen Moment lang herrschte Stille, während die beiden Parteien sich erneut musterten. Dann nickte Dravis knapp, seine Stimme so kalt wie zuvor. „Na gut. Aber komm uns nicht in die Quere.“
Die Nacht brach herein, und die Schatten, die am Rande ihres Blickfeldes lauerten, wurden dunkler und bedrohlicher. Die Kälte schien sich zu verstärken und sie wie ein Leichentuch zu umhüllen. Sophie und ihre Truppe schlugen ihr Lager in der Nähe des Stadtzentrums auf, während Dravis und Sylvanna für sich blieben, ihre Augen stets wachsam, stets berechnend.
Während das Feuer zwischen ihnen knisterte und lange Schatten auf den frostbedeckten Boden warf, konnte Sophie das Gefühl nicht abschütteln, dass sie beobachtet wurden. Etwas Dunkles. Etwas Uraltes. Und als sie über das Feuer zu Dravis blickte, der schweigend dasaß und seinen Blick auf den Horizont geheftet hatte, fragte sie sich unwillkürlich, ob er es auch spürte.
Die Stadt war nicht sicher. Die Schatten wurden immer stärker. Und was auch immer kommen würde, sie würden sich dem gemeinsam stellen müssen – ob sie wollten oder nicht.