„Elara, warum machst du nicht mal eine Pause?“ Die Stimme ihres Vaters durchbrach die Stille und ließ sie zusammenzucken. Er stand in der Tür, sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Sorge und Frustration. Seine große Gestalt warf einen Schatten über die Türschwelle und erinnerte an die Autorität, die er sowohl im Haushalt als auch darüber hinaus ausübte. „Du bist schon seit Stunden dabei.“
„Mir geht es gut, Vater“, antwortete sie, ohne von den verstreuten Pergamenten vor sich aufzublicken. Ihr Tonfall war schroff, ihre Worte ein Schutzschild gegen die Einmischung.
„Vielleicht kann ich dir helfen“, beharrte er und trat in den Raum. „Ich habe mich während meiner Zeit an der Akademie intensiv mit magischen Kreisen beschäftigt.“ Seine Stimme klang stolz, als könnten seine früheren Errungenschaften irgendwie ihr gegenwärtiges Dilemma lösen.
„Ich brauche keine Hilfe“, sagte Elara eiskalt. „Ich brauche Ruhe.“ Die Atmosphäre im Raum wurde kälter, ihre Worte waren eine klare Abfuhr. Sie spürte die Anspannung in der Haltung ihres Vaters, den Konflikt zwischen seinem Wunsch, ihr zu helfen, und dem Schmerz ihrer Ablehnung.
Ihr Vater seufzte, sichtlich ratlos. „Manchmal bist du zu stur für dein eigenes Wohl, Elara.“
Seine Stimme wurde sanfter, die Frustration wich einer vertrauten, hilflosen Sorge. „Du kannst nicht immer alles alleine machen.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, erschien ihre Mutter und legte eine sanfte Hand auf den Arm ihres Mannes. Ihre Anwesenheit wirkte beruhigend, ihr gelassenes Auftreten stand im Gegensatz zu der Intensität ihres Mannes. „Liebling, lass sie in Ruhe. Sie weiß, was sie tut.“
Ihr Vater öffnete den Mund, um zu widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. Mit einem letzten frustrierten Blick auf Elara verließ er den Raum und murmelte leise etwas über jugendliche Arroganz und die Torheit des Stolzes.
„Danke, Mutter“, sagte Elara leise, den Blick immer noch auf ihre Arbeit gerichtet. Das Eingreifen ihrer Mutter hatte sie vor einem weiteren langwierigen Streit bewahrt, für den sie weder die Energie noch die Lust hatte.
Ihre Mutter lächelte traurig und verständnisvoll. „Du bist ihm so ähnlich, weißt du. Du verlangst immer so viel von dir.“ Sie ging zu Elara hinüber und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. „Aber denk daran, auch die Stärksten brauchen mal eine Pause.“
Elara sagte nichts. Stattdessen sammelte sie ihre Papiere ein und stopfte sie in ihre Tasche.
Die Geste war fast gewalttätig, ein körperlicher Ausdruck ihrer inneren Unruhe. „Ich gehe zurück ins Wohnheim“, verkündete sie und stand auf. Ihre Stimme war fest und ließ keinen Raum für Widerrede.
„Bist du sicher? Du bist gerade erst nach Hause gekommen“, sagte ihre Mutter und runzelte besorgt die Stirn. Die Sorgenfalten in ihrem Gesicht vertieften sich, ein stilles Zeugnis der vielen Nächte, die sie um das Wohlergehen ihrer Tochter gebangt hatte.
„Ja“, sagte Elara, ohne auf eine Antwort einzugehen. „Ich muss mich konzentrieren, und das kann ich hier nicht.“ Sie vermied den Blick ihrer Mutter, weil sie wusste, dass die Sorge in ihren Augen ihre Schuldgefühle nur noch verstärken würde.
Ihre Mutter nickte verständnisvoll. „Pass auf dich auf, Elara.“ Die Worte waren mit einer unausgesprochenen Bitte verbunden, der Hoffnung, dass ihre Tochter nicht nur die Antworten finden würde, die sie suchte, sondern auch den Frieden, den sie so dringend brauchte.
Elara nickte kurz und ging, die schwere Tür fiel mit einem leisen Knall hinter ihr zu. Der Weg zurück zum Wohnheim war wie im Nebel, ihre Gedanken kreisten um den magischen Kreis und die philosophischen Zusammenhänge, die sie nicht ganz begreifen konnte.
Sie betrat ihr Zimmer, warf ihre Tasche auf das Bett und ließ sich in den Stuhl an ihrem Schreibtisch sinken, wo sie mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung auf die Pergamentstücke starrte.
Die Stunden vergingen, die Stille im Zimmer wurde nur durch gelegentliche frustrierte Seufzer oder gemurmelte Flüche unterbrochen. Schließlich schob Elara die Papiere beiseite und rieb sich die Schläfen. „Das hat keinen Sinn“, murmelte sie. „Ich brauche eine Pause.“
Sie stand auf, schnappte sich ihren Umhang und verließ den Schlafsaal. Die kühle Nachtluft schlug ihr ins Gesicht und wirkte erfrischend und belebend. Die Straßen waren belebt, das übliche Treiben des Nachtmarktes war eine willkommene Ablenkung.
Elara besuchte den Markt selten, da sie ihn für unter ihrer Würde hielt, aber heute Abend brauchte sie etwas anderes.
Der Duft von gebratenem Fleisch und exotischen Gewürzen lag in der Luft und zog sie tiefer in die Menschenmenge hinein. Sie schlenderte von Stand zu Stand, die Augen vor Neugier weit aufgerissen. Trotz ihrer Zurückhaltung fand sie das Erlebnis seltsam aufregend. Sie blieb vor einem Stand stehen, an dem Fleischspieße verkauft wurden, und wurde von dem fröhlichen Lächeln des Verkäufers überrascht.
„Guten Abend, Fräulein! Probieren Sie doch mal! Die besten auf dem Markt!“, verkündete er mit lauter Stimme.
Elara zögerte, nickte dann aber. „Ich nehme eins.“
Als sie in den Spieß biss, explodierten die herzhaften Aromen in ihrem Mund. Sie schloss die Augen und genoss den Geschmack. Für einen Moment schmolzen Frust und Stress dahin und machten Platz für ein einfaches Vergnügen, das sie sich selten gönnte.
Doch ihre Ruhe wurde plötzlich durch einen Tumult in der Nähe gestört. Als sie die Augen öffnete, sah Elara ihre Rivalin Amberine, die jemandem hinterher rannte.
Elaras Augen verengten sich vor Verärgerung und Neugier. „Was macht diese Idiotin jetzt schon wieder?“, murmelte sie und warf den halb aufgegessenen Spieß beiseite.
Entschlossen, Amberines neueste Dummheit aufzudecken, schlängelte sich Elara mühelos durch die drängelnde Menge. Ihre flinken Bewegungen standen im Kontrast zu dem Chaos um sie herum. Als sie um die Ecke in eine schmale Gasse bog, schlug ihr Herz schneller, als sie Amberine umringt von Schlägern sah.
„Amberine, du Dummkopf!“, zischte Elara, wobei ihre Wut von einer überraschenden Spur von Besorgnis durchsetzt war. Instinktiv hob sie die Hand und sprach einen Lichtzauber. Der plötzliche Lichtblitz erhellte die dunkle Gasse, erschreckte die Schläger und blendete sie für einen Moment.
Aber die Schläger waren schneller als Elara erwartet hatte.
Einer stürzte sich auf sie und schlug ihr mit der Faust gegen den Kiefer. Sie taumelte, schmeckte Blut, schlug aber mit einem Wasserstrahl zurück und riss ihn zu Boden. Ein anderer Schläger packte sie von hinten, und sie wehrte sich heftig, wobei ihre Magie wild umherflog. Trotz ihres Talents fehlte Elara echte Kampferfahrung, und das zeigte sich jetzt.
Ihre Zauber waren mächtig, aber unkonzentriert, ihre Bewegungen eher von Verzweiflung als von Strategie geleitet.
Eine Klinge blitzte in der Dunkelheit auf, schnitt ihr in den Ärmel und streifte ihren Arm. Elara schrie vor Schmerz, ihr Zauber stockte. Panik ergriff sie, als die Schläger näher kamen, ihre bedrohlichen Gesichter vor grausamer Absicht verzerrt. Sie sammelte all ihre Kraft und sprach einen Schildzauber, eine schimmernde Lichtbarriere, die die Schläger vorübergehend zurückdrängte.
Aber die Anstrengung zehrte an ihren Kräften, und sie spürte, wie ihre Energie schwanden.
Elara kämpfte weiter, sprach einen Zauber nach dem anderen und war entschlossen, sich nicht kampflos geschlagen zu geben. Sie beschwor einen Windstoß, der Trümmer auf ihre Angreifer schleuderte, und ließ daraufhin eine Salve Eissplitter folgen, die im trüben Licht gefährlich glitzerten. Ein Schläger schrie auf, als ein Eissplitter in seiner Schulter stecken blieb, und ein anderer fiel zu Boden und umklammerte sein Bein, wo ein Splitter ihn durchbohrt hatte.
Trotz ihres heftigen Widerstands formierten sich die Schläger neu und waren ihr zahlenmäßig überlegen. Sie griffen von allen Seiten an, und Elara sah sich überfordert. Ein schwerer Schlag auf den Rücken schleuderte sie zu Boden, ihr Schild flackerte und erlosch. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte aufzustehen, wurde aber erneut zu Boden getreten.
Als sich ihre Sicht verdunkelte, sah Elara Amberine, bewusstlos und schutzlos, von einem Schläger weggezerrt werden. Eine Welle von Beschützerinstinkt und Wut durchflutete sie und trieb sie zu einem letzten verzweifelten Zauber. Flammen schossen aus ihren Händen, ein feuriger Bogen, der die Schläger vorübergehend zurückweichen ließ.
„Zurück!“, schrie Elara mit heiserer Stimme. Die Schläger zögerten, verunsichert durch die Intensität ihrer Magie, aber nur für einen Moment. Sie formierten sich schnell neu, und einer von ihnen versetzte ihr einen brutalen Schlag gegen die Schläfe. Sterne explodierten vor ihren Augen, und sie brach zusammen, ihr Körper konnte nicht mehr.
Gerade als die Schläger sich bereit machten, sie zu erledigen, erfüllten die Rufe der Wachen die Gasse. Das plötzliche Eintreffen von Verstärkung ließ die Schläger in alle Richtungen fliehen. Elara lag auf dem Boden, ihr Blick verschwamm, sie war kaum noch bei Bewusstsein. Sie sah, wie Amberine bewusstlos von einem Wachmann weggetragen wurde, und brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Dumm“, murmelte sie, zufrieden, dass Amberine in Sicherheit war.
Die nächsten Stunden verschwammen zu einem einzigen Brei. Elara fand sich am Wachposten wieder, wo eine streng dreinblickende Frau ihre Wunden versorgte. Die Frau hatte sanfte, aber feste Hände, als sie Elaras Verletzungen reinigte und verband.
„Du hast Glück gehabt“, sagte die Frau mit rauer Stimme, die jedoch von einem Hauch von Besorgnis gemildert wurde. „Das hätte viel schlimmer kommen können.“
Elara nickte, zu erschöpft, um zu antworten. Ihre Gedanken schweiften zurück zu dem magischen Kreis, zu der Aufgabe, die ihr so unmöglich erschienen war. Aber jetzt, wo sie hier lag, zerschlagen und verletzt, verspürte sie ein seltsames Gefühl der Klarheit. Vielleicht ging es gar nicht darum, das Problem alleine zu lösen. Vielleicht brauchte sie Hilfe, so sehr sie es auch hasste, das zuzugeben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde sie losgelassen, ihre Wunden verbunden und ihr Stolz verletzt. Langsam und bedächtig machte sie sich auf den Weg zurück zum Schlafsaal. Als sie sich dem Gebäude näherte, sah sie Amberine, die entschlossen in die entgegengesetzte Richtung ging.
„Elara …“, sagte sie mit großen Augen, vielleicht weil sie Elara in demselben Zustand sah, in dem sie sich befand.
„Idiotin“, schnaubte Elara.