Während Lein und Nita die Pracht genossen, taten andere das Gleiche.
Auf der Westseite des Baumes schlenderte eine kleine Familie langsam dahin. Ein fünfjähriger Junge hielt sich fest an der Hand seines Vaters und ging mit kleinen, begeisterten Schritten.
„Papa, kommen wir bis ganz nach oben?“, fragte er mit funkelnden Augen, als wäre jeder Schritt ein großes Abenteuer.
„Hab Geduld, mein Sohn. Wir sind bald da“, antwortete sein Vater mit einem Lächeln und tätschelte ihm sanft den Kopf. Die Mutter folgte ihnen und trug ein paar Taschen mit Snacks für später.
Ihr sanfter Blick ruhte auf ihrem Kind und ihrem Mann, und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Schließlich blieben sie an einer ruhigen Ecke stehen, wo eine leichte Brise wehte und den frischen Duft der Blätter mit sich trug.
Die kleine Familie saß zusammen auf einem weiten Blätterteppich und bewunderte die atemberaubende Landschaft vor sich – den Himmel, der in Orange- und Violetttönen leuchtete, und den endlosen Horizont, der sich so weit das Auge reichte.
Nicht weit von ihnen entfernt, auf der Ostseite des Baumes, genoss ein Paar einen ebenso romantischen Moment. Sie saßen auf einem großen Blatt, unter ihnen eine kleine Plane, die ihnen etwas Komfort bot.
Die Frau lehnte sich an die Schulter ihres Partners, die Augen geschlossen, als würde sie die Ruhe genießen, die nur an diesem Ort zu finden war.
„Ich möchte, dass wir jedes Jahr hierher zurückkommen“, flüsterte sie mit einer Stimme, die so sanft war wie der Wind, der durch die Blätter strich.
Der Mann lächelte und streichelte ihr sanft über das Haar. „Wir werden diesen Ort immer haben, solange wir zusammen sind“, antwortete er. Sie sprachen über ihre Träume, die Meilensteine, die sie in Zukunft erreichen wollten, und tauschten unter dem orangefarbenen Schein, der über die Blätter tanzte, Versprechen aus.
Währenddessen stand in einer anderen Ecke ein älterer Mann allein am Rand des Baumkronendachs. Sein gebeugter Körper und seine müden Augen blickten weit in das unendliche Universum, als wolle er etwas begreifen, das nur er verstehen konnte.
Er bewegte sich nicht und sprach nicht, aber seine Anwesenheit strahlte eine Aura der Ruhe und Weisheit aus. Die Gedanken des alten Mannes wanderten weit in die Vergangenheit – in eine Jugend voller Turbulenzen, Kämpfe und Verluste.
Jetzt, in seinen letzten Lebensjahren, war er dankbar, dass er noch immer die sich wandelnde Schönheit der Welt erleben und den Frieden finden konnte, nach dem er so lange gesucht hatte.
Auf dem Gipfel des Baumes des Lebens waren alle in ihre eigene Welt versunken. Familien, Liebende und ein einsamer alter Mann – sie alle fanden unter dem Abendrot, das diese Welt umhüllte, einen Sinn im Leben.
***
Am nächsten Tag, nach der Vereinigung des Kosmos, begann für das himmlische Reich eine neue Ära, die bedeutende Veränderungen mit sich brachte. Das Leben fühlte sich leichter und freier an. Die Bürger, die zuvor innerhalb der Grenzen ihrer jeweiligen Reiche gelebt hatten, erlebten nun eine tiefe Verbindung zum unendlichen Kosmos. Diese neue Atmosphäre löste allgemeine Begeisterung und Freude aus.
Aber die Neugier blieb die treibende Kraft der Gesellschaft. Der Baum des Lebens wurde zu einem Anziehungspunkt für Familien, die mehr entdecken wollten. Schon früh am Morgen packten die Familien ihre Sachen, um sich auf die Reise zum legendären Baum zu machen, in der Hoffnung, dort unvergessliche Erlebnisse zu haben.
In den sozialen Medien gab’s lebhafte Diskussionen über die Veränderungen im Himmlischen Reich. Eines der Hauptthemen war der Status der Monsterinseln. Früher waren diese Inseln wichtige Orte, um seltene Materialien und Erfahrungen zu sammeln.
Jetzt waren nur noch wenige Monsterinseln aufgetaucht, und selbst diese waren von niederen Kreaturen bewohnt, die für Kämpfer kaum von Wert waren. Diese Knappheit stellte eine große Herausforderung dar, insbesondere bei der Deckung des täglichen Bedarfs an Energiekristallen.
—
Währenddessen war die Atmosphäre in der Haupthalle von Leins Residenz ruhiger. Das Morgenlicht fiel durch die Vorhänge und tauchte den langen Tisch, an dem Lein und Nita saßen, in ein warmes Licht.
Wie immer saß Lein am Ende des Tisches, während Nita neben ihm saß. Vor ihnen standen Teller mit einfachen, aber leckeren Gerichten.
„Bruder, was ist mit dem Geschenk, von dem du gestern gesprochen hast?“, fragte Nita mit neugierig funkelnden Augen. Sie nahm langsam einen Löffel voll Essen und wartete auf Leins Antwort.
Lein lächelte leicht. Er sah Nitas ausdrucksstarkes und neugieriges Gesicht an, ein seltener Anblick, seit sie das Himmlische Reich betreten hatten. In seinem Herzen wurde ihm klar, dass er Nita noch nie ein Geschenk gemacht hatte. Kein Wunder, dass sie so gespannt war.
Nach einem Moment hob Lein die Hand und zog einen schimmernden Kristall aus seinem Raumring. Der Kristall strahlte ein sanftes Leuchten aus, wie ein kleiner Stern, der den Raum erhellte. „Das“, sagte er und ließ den Kristall zu Nitas Händen schweben.
Nita fing den Kristall sofort mit beiden Händen auf und ihre Augen weiteten sich vor Staunen. Der Glanz des Kristalls war so wunderschön, sein Design so makellos, dass er wie ein Kunstwerk wirkte.
„Was ist das?“, fragte sie mit neugieriger Stimme, während ihre Augen die filigranen Details des eleganten und scheinbar teuren Kristalls musterten.
Nita hielt den Kristall fest umklammert und las mit ernster Miene die Beschreibung, die vor ihr erschien:
(Talentkristall):
Ein seltener Gegenstand, der die Möglichkeit bietet, ein Talent zu erwerben oder zu verbessern. Wenn der Benutzer bereits über ein Talent verfügt, wird dieses verbessert.
– Erfolgsrate: 25 %.
Bevor sie die Beschreibung zu Ende gelesen hatte, hielt Nita inne. Ihr Mund öffnete sich leicht und sie sah Lein an, als hätte sie etwas Unfassbares gesehen. Ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Schock und Ungläubigkeit wider.
„Bruder … was ist das für ein Gegenstand?“, fragte sie mit leerer Stimme, die wie von selbst aus ihr herauskam.
Aber eigentlich hat Nita das gar nicht gefragt. Sie wusste schon, was der Kristall war. Sie kannte seinen Zweck und wusste, wie wertvoll er war. Ihre Worte waren eher ein Ausdruck ihrer Ungläubigkeit angesichts der Realität, die sich ihr bot.
Leins Lächeln blieb warm, sein Tonfall ruhig, aber voller Vorfreude.
„Es ist ein Geschenk.
Komm schon, probier ihn jetzt aus“, sagte er und ermutigte Nita sanft, den Kristall sofort auszuprobieren. In seinen Augen blitzte Aufregung auf, als könne er es kaum erwarten, zu sehen, was passieren würde.
Nita starrte Lein weiterhin mit ausdruckslosem Gesicht an. Ihr Körper war wie erstarrt, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Und dann, ganz plötzlich, begannen Tränen aus ihren Augen zu fließen. Die klaren Tropfen fielen lautlos, aber sie drückten eine überwältigende Tiefe von Emotionen aus.
Dann brachen ihre Tränen hervor. Sie weinte unkontrolliert, wie ein Kind, das endlich sein lang ersehntes Geschenk bekommt. Ihr Körper zitterte leicht, und sie versuchte nicht einmal, ihre Tränen zurückzuhalten.
„Danke, Bruder“, sagte sie mit heiserer Stimme, voller Emotionen. Nachdem sie einen Moment lang darum gekämpft hatte, sich wieder zu fassen, wischte Nita sich schließlich mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht.
Sie sah Lein mit einem sanften Blick voller Dankbarkeit an.
Lein erwiderte ihren Blick, diesmal mit einem stolzen Lächeln im Gesicht. „Schon gut, schon gut … es ist ein Geschenk. Benutz es ruhig“, sagte er und ermutigte sie mit neckendem Tonfall.
Nita nickte, holte tief Luft und konzentrierte sich wieder auf den Kristall in ihren Händen. Sie öffnete die Beschreibung des Kristalls erneut, jetzt ernster als zuvor.
[Möchtest du den Talentkristall benutzen? Ja/Nein]
„Ja“, antwortete Nita, ihre Stimme zitterte noch leicht, eine Spur ihrer Freudentränen war noch zu hören.
Der Kristall in ihren Händen begann zu schweben. Ein sanftes Licht strahlte von seiner Oberfläche und drehte sich langsam wie ein kleiner, lebender Planet.
Die Drehung wurde schneller und erzeugte ein Schimmern, das den Raum zu füllen begann. Ein silbernes Licht hüllte den leeren Raum um sie ein, wie ein Tanz der Sterne, die das Universum begrüßen.
Lein stand regungslos da und starrte auf den Kristall. Das Licht, das von ihm reflektiert wurde, zeigte die Hoffnung und Zuversicht, die er in diesen Moment setzte.
[Talentkristall erfolgreich benutzt …]
[Suche nach einem passenden Talent …]
Vor Nita erschien ein Fortschrittsbalken, eine kleine Linie, die sich langsam nach rechts bewegte. Die Prozentzahlen stiegen allmählich an: Finde weitere Abenteuer auf mvl
20 % … 45 % … 60 % …
Nita hielt den Atem an. Sie blinzelte nicht, als ob jeder steigende Prozentsatz mit ihrem eigenen Herzschlag verbunden wäre. Die Spannung erfüllte den Raum und machte die Atmosphäre stiller denn je.
Lein stand ruhig neben ihr, doch seine Augen verrieten seine Erwartungen. Tief in seinem Inneren hoffte er, dass Nita das bestmögliche Talent erhalten würde.
98…
Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt. Der Raum schien für einen Moment still zu stehen und auf das endgültige Urteil zu warten.
[Neues Talent nicht gefunden…]
Nita starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf die Meldung. Ihre Augen, die zuvor voller Hoffnung gewesen waren, waren nun trüb. Ihr Körper erstarrte, als hätte sie die Fähigkeit zu reagieren verloren.
Die Stille, die den Raum erfüllte, ließ das Geräusch ihres unregelmäßigen Atems schmerzhaft deutlich werden. Sie konnte nicht sofort begreifen, was geschehen war.
Langsam stiegen ihr Tränen in die Augen. Enttäuschung überkam sie wie eine dunkle Wolke, die plötzlich die Sonne verdeckte. Ihre Hände, die den Kristall gehalten hatten, senkten sich langsam und spiegelten die Schwere in ihrem Herzen wider, während sie darum kämpfte, diese Realität zu akzeptieren.
Doch bevor ihre Tränen vollständig fallen konnten, unterbrach Lein sie mit einer lässigen Geste. Er griff in seinen Raumring, holte einen weiteren Kristall heraus und warf ihn Nita zu.
„Weine nicht. Versuch es noch einmal“, sagte er beiläufig, als wäre der vorherige Fehlversuch nichts Besonderes.
Der Kristall schwebte durch die Luft, bevor er in Nitas zitternden Händen landete.
Sie sah den Kristall mit gemischten Gefühlen an – Erleichterung, Dankbarkeit und überwältigende Dankbarkeit. Wie jemand, der kurz vor dem Ertrinken steht und im letzten Moment gerettet wird, hellte sich ihr zuvor verzogener Gesichtsausdruck wieder auf.
„Danke, Bruder“, sagte Nita mit heiserer Stimme, die vor Emotionen bebte.
Diese einfachen Worte hatten so viel Bedeutung.
Nita wusste, wie selten und teuer Talentkristalle waren. Aber dann hätte sie fast etwas vergessen – Lein hatte eine außergewöhnliche besondere Gabe: die Fähigkeit, Gegenstände zu duplizieren. Er hatte wahrscheinlich Tausende dieser Kristalle.
Als ihr das klar wurde, beruhigten sich Nitas Gefühle allmählich. Ihre anfängliche Enttäuschung begann zu schwinden.