Der riesige Ewige Baldachin kam langsam runter, sein massiver Stamm knarrte, als er auf den zerstörten Boden von Sektor 8 fiel. Trotz der Geschwindigkeit seines Sturzes schien er sich in Zeitlupe zu bewegen, als ob die Zeit selbst langsamer geworden wäre.
Für die Leute von Sektor 8, die in der Luft schwebten, hochgehalten von Magnus‘ knisternden Blitzranken oder anderen übermenschlichen Fähigkeiten, fühlte es sich wie das Ende der Welt an.
Gebäude waren zu Staub zerfallen. Ganze Gemeinden lagen in Trümmern, ihre Häuser waren zu Schutt und Schutt geworden. Der Zusammenstoß zwischen Atticus und Blackgate war nichts weniger als katastrophal gewesen.
Doch trotz der Verwüstung waren alle Blicke auf den fallenden Baum gerichtet.
Ihre Gesichter waren vor Entsetzen und Unglauben wie erstarrt. Aber es waren nicht die zerstörten Häuser oder die unzähligen verlorenen Leben, die ihre Gedanken erfüllten. Es war der Ewige Baldachin.
Der Baum stand seit Generationen da, ein Symbol für Stabilität, Stärke und Leben. Für die Leute von Sektor 8 war er ewig, etwas, von dem sie glaubten, dass es sie alle überleben würde.
Jetzt fiel er um.
Die schiere Unmöglichkeit dieser Situation traf sie wie eine Welle. Es fühlte sich unwirklich an, wie ein Albtraum, aus dem sie nicht aufwachen konnten.
Und dann spürten sie es.
Eine plötzliche Welle der Trauer, die wie eine Flutwelle über ihre Seelen hereinbrach.
Es war nicht ihre eigene.
Sie kam von den Geistern.
Unzählige ätherische Wesen strömten aus ihren Körpern und materialisierten sich als schimmernde Gestalten in der Luft.
Sie weinten.
Die Schreie der Geister waren eindringlich, hohe Klagelaute vermischten sich mit traurigem Summen, jeder Ton hallte mit unbeschreiblicher Trauer wider.
Die Trauer war so tief, dass sie die Menschen ergriff, ihre Verbindung zu den Geistern zog die Emotionen in sie hinein. Tränen liefen ihnen über die Gesichter, ohne dass sie es bemerkten.
Sie weinten, als der Baum herabkam, überwältigt von einer Traurigkeit, die nicht ihre eigene war.
Aber es hielt nicht lange an.
Plötzlich erstarrte die Trauer.
Die Gesichtsausdrücke der Menschen veränderten sich. Ihre Tränen trockneten und wurden durch etwas Heißeres ersetzt.
Wut.
Wie auf ein Stichwort drehten sich alle Geister um und richteten ihre ätherischen Augen auf eine einzige Gestalt, die hoch in der Luft schwebte.
Atticus.
Ihre Blicke brannten vor Urhass, ihre Wut kochte über, als eine erstickende Welle von Tötungsabsicht den Sektor überschwemmte.
Der Druck war atemberaubend. Die Luft wurde schwer, erstickend, drückte auf jedes Lebewesen. Der Himmel verdunkelte sich, die Atmosphäre war voller Spannung.
Magnus, Oberon und die anderen Vorbilder kniff die Augen zusammen. Sie spürten es sofort.
Die Mordlust war unbestreitbar.
Eine weitere Schlacht stand bevor.
Magnus‘ und Oberons Blicke huschten zu Seraphina, ihre Gesichter waren angespannt. Unter allen Anwesenden war nur sie eine echte Bedrohung, sollte eine Schlacht beginnen. Der Rest war Kanonenfutter.
Aber Seraphina … sie schien nichts zu bemerken.
Ihr Blick war auf den fallenden Baum gerichtet, ihr Gesichtsausdruck war abwesend.
Sie war dazu erzogen worden, den Ewigen Baldachin zu verehren. Er war die Quelle der spirituellen Energie in Eldoralth, die Lebensader der Macht der Familie Starhaven.
Ohne ihn … würde die spirituelle Energie in dieser Welt aufhören zu existieren? Würde die Familie Starhaven ihre Kräfte verlieren? Würde das Vermächtnis ihrer Familie, das über unzählige Generationen hinweg aufgebaut worden war, mit ihr enden?
Passierte das wirklich?
Der Gedanke ließ ihr Herz pochen. Ihre Gedanken waren durcheinander, verloren in einem Sturm aus Ängsten und Fragen, ohne dass sie die brodelnde Spannung um sie herum wahrnahm.
Und jetzt waren alle Augen auf Atticus gerichtet.
Er schwebte am Himmel, schwache Blitze beleuchteten seine Gestalt. Sein kalter, unnachgiebiger Gesichtsausdruck ließ ihn weniger wie einen Jungen, sondern eher wie eine Gottheit erscheinen.
Donner grollte über ihnen, als würde der Sturm selbst seine Wut anerkennen.
Atticus war sauer.
Nein, er war mehr als sauer, er kochte vor Wut.
Er war so nah dran gewesen, Blackgate zu erledigen. So nah. Und trotzdem war der Paragon ihm entkommen.
Sein Hass brodelte, seine Brust schnürte sich zusammen unter der Last seines Versagens.
Das war nicht das erste Mal.
Zuerst Carius. Jetzt Blackgate. Beide waren ihm entkommen. Beide waren Feinde, die viel zu gefährlich waren, um am Leben gelassen zu werden. Und beide, weil er nicht stark genug gewesen war, um sie aufzuhalten.
Schwäche.
Das Wort brannte in seinem Kopf und wiederholte sich immer wieder. Seine Finger umklammerten sein Katana, die Klinge zitterte leicht unter dem Druck seiner Hand.
Trotz der überwältigenden Mordlust, die die Geister und Menschen unter ihm auf ihn richteten, reagierte Atticus nicht. Es war, als wäre ihnen ihr Hass egal.
Seine Gedanken waren woanders.
Ozeroths Stimme hatte gerade Worte gesprochen, die ihn in der Luft erstarren ließen.
„Jede Handlung hat Konsequenzen“, dröhnte Ozeroths tiefe, befehlende Stimme in Atticus‘ Kopf. „Und diese ist keine Ausnahme.“
Atticus‘ Griff um sein Katana lockerte sich leicht, seine Wut schwand, während die Worte in seinem Kopf widerhallten. Seine Gedanken rasten.
„Ich muss sagen“, fuhr Ozeroth fort, „deine Erinnerungen sind … faszinierend. Je mehr ich sehe, desto aufgeregter werde ich. Die Zukunft wird sehr unterhaltsam werden.“
Ein dunkles, grollendes Lachen erschütterte Atticus bis ins Mark.
„Wir sehen uns in ein paar Monaten“, schloss Ozeroth.
Dann herrschte Stille.
Atticus stockte der Atem. Seine Gedanken kreisten, um einen Sinn in den rätselhaften Worten zu finden. Doch bevor er sie verarbeiten konnte, überkam ihn eine intensive Schwäche.
Es war nicht nur Müdigkeit.
Nein, das war etwas ganz anderes.
Sein Körper fühlte sich hohl an. Seine Kraft schwand, die überwältigende Macht, die er noch vor wenigen Augenblicken ausgeübt hatte, entglitt ihm wie Sand zwischen den Fingern. Die paragonartige Energie, über die er verfügt hatte, war verschwunden.
Seine Glieder wurden schwer, seine Sicht verschwamm und ein scharfer Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, als würde sein Innerstes zerreißen.
„Was …?“, kreisten seine Gedanken und versuchten zu begreifen, was geschah.
Bevor er reagieren konnte, kippte die Welt. Seine Augen fielen zu und sein Körper stürzte in die Tiefe.
Schnell.
Die Luft schrie an ihm vorbei, als er bewusstlos vom Himmel fiel.
Und dann, als hätte jemand ein stilles Signal gegeben, brach Chaos aus.
Ein blendendes Licht brach aus Seraphinas Brust hervor und strahlte wie ein Leuchtfeuer, das das Schlachtfeld durchdrang.
„Nein!“, rief Seraphina, ihre Stimme zitterte vor Schock, als das goldene Licht hervorbrach.
Aus dem Licht heraus materialisierte sich schnell eine Gestalt in der Luft.
Ismara.
Sie tauchte auf, strahlend und gebieterisch. Ihre großen, goldenen Augen brannten vor Wut. Lichtranken wanden sich um ihre leuchtende, ätherische Gestalt, und ihre durchsichtigen Flügel waren weit ausgebreitet und schimmerten vor roher Kraft.
„Verfluchter Junge!“, hallte Ismaras scharfe, wütende Stimme über das Schlachtfeld.
Ihre Wut war greifbar und brach wie eine Flutwelle über den Sektor herein. Ohne auf Seraphinas Befehl zu warten, raste Ismara mit erschreckender Geschwindigkeit auf Atticus zu, ihre erdrückende Aura senkte sich auf das Schlachtfeld.
Seraphina stockte der Atem. „Halt!“, schrie sie mit zitternder Stimme.
Ihre großen, entsetzten Augen waren auf Ismara geheftet. Sie hatte dem Geist nicht befohlen, anzugreifen.
Ismara handelte auf eigene Faust.