Lin Mu schaute sich erst mal die Regale voller Dokumente an, auf der Suche nach Infos über die Inquisitoren. Er ging von einem Regal zum nächsten, überflog die Titel, fand aber nichts Brauchbares. Unter seiner ruhigen Fassade brodelte die Frustration.
„Hmm … vielleicht ist es in diesen Regalen?“, überlegte Lin Mu und schaute zu einem Schreibtisch in der Nähe.
Dahinter saß ein alter Mann in einer prächtigen Robe, dessen Finger über Pergament glitten, während er arbeitete. Eine dreireihige Halskette mit dem Symbol des Obersten Gottes lag auf seiner Brust. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass dieser Mann eine hohe Position innerhalb des Ordens innehatte.
„Wenn man diese Halskette bedenkt … sollte er wohl das sein, was man einen Bischof nennt, oder?“ Lin Mu erinnerte sich, das Design in einem der Bücher gesehen zu haben, die er gelesen hatte.
Der Göttliche Orden der Osteri hatte ein Rangsystem, das sich von dem anderer Welten unterschied und eher wie eine religiöse Hierarchie aufgebaut war. Die Ränge stiegen von Diakon über Priester, Bischof, Erzbischof und Kardinal bis hin zum Papst.
Die meisten Arbeiter, die Lin Mu in dem Gebäude beobachtet hatte, gehörten zum Rang eines Diakons. Sogar der Angestellte in der Herberge für Reisende war ein Diakon gewesen. Allerdings gab es auch ein paar Priester, die über die Halle verteilt waren und sich durch ihre etwas reichhaltiger verzierten Roben auszeichneten.
Lin Mu fragte sich auch, wie diese Ränge mit ihrem Kultivierungsgrad zusammenhingen.
„Oder haben sie überhaupt etwas mit der Kultivierung zu tun?“, überlegte er. Ohne aktiv nachzuforschen, war das schwer zu sagen.
Bisher hatte er nur Personen im Dao-Embryo-Reich wahrgenommen, aber darüber hinaus? Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt jemanden im Unsterblichen Reich entdecken konnte, ohne sich zu verraten. Im Gegensatz zu den niedrigeren Reichen manifestierte sich das Unsterbliche Reich nicht unbedingt durch sichtbare physische Veränderungen – es sei denn, man setzte aktiv Qi ein.
Lin Mu schob diese Gedanken beiseite und bewegte sich mit geübter Heimlichkeit, um sicherzustellen, dass nicht einmal die geringste Spur seiner Aura wahrgenommen werden konnte. Er schlüpfte an dem Bischof vorbei und warf einen Blick auf die Dokumente, die auf dem Regal hinter ihm aufbewahrt wurden. Sein unsterblicher Sinn huschte schnell über die Seiten, und dann – da war es.
„Hier werden sie also aufbewahrt … Die Inquisitoren residieren in der Inquisitionsfestung.“
Er suchte schnell nach weiteren Details und fand eine Adresse. Technisch gesehen lag die Festung innerhalb der Hauptstadt, aber sie wurde unabhängig verwaltet. Trotz ihres Namens war sie weniger eine Festung als vielmehr eine weitläufige Stadt, die sich in alle Richtungen über zwanzig Kilometer erstreckte.
Am Rande der Hauptstadt gelegen, war sie ein Ort, der sowohl gefürchtet als auch respektiert wurde. Das einfache Volk und sogar Mitglieder des Klerus fürchteten sie. Die Inquisitoren verfügten über unabhängige Autorität und waren in der Lage, nicht nur das Volk, sondern sogar hochrangige Geistliche, die gegen die Gesetze des Ordens verstießen, zu untersuchen und zu bestrafen.
„Sieht so aus, als wüsste ich, wo ich als Nächstes hin muss“, dachte Lin Mu, aber er ging noch nicht.
Er durchforstete die Dokumente akribisch und nahm jedes Detail auf, das er finden konnte. Die Inquisitoren waren von Geheimhaltung umgeben, doch hier lagen ihre Namen, Aufgaben und früheren Operationen offen. Einige der bemerkenswertesten Fälle betrafen hochkarätige Verhaftungen, darunter die eines korrupten Bischofs.
„Also haben sogar sie ihre Sünden“, stellte Lin Mu grimmig fest. „Egal, wie gerecht sie sich geben.“
Der betreffende Bischof hatte eine ganze Reihe von Verbrechen begangen: Korruption, Erpressung, Mord und Schlimmeres. Es war offensichtlich, dass er jahrelang im Verborgenen operiert hatte und zahlreiche rangniedrigere Geistliche in seine Machenschaften verwickelt waren. Als der Skandal ans Licht kam, erschütterte er den gesamten Orden.
Obwohl sich der Vorfall in einer anderen Stadt ereignet hatte, waren die Schockwellen bis in die Hauptstadt zu spüren. Für Lin Mu war dies eine Erinnerung daran, dass diese Leute unter ihrer heiligen Fassade genauso fehlerhaft waren wie alle anderen auch.
Das war seltsamerweise beruhigend.
„Sieht so aus, als wäre meine Arbeit hier erledigt“, schloss Lin Mu und machte sich bereit, sich davonzuschleichen.
Doch dann fiel ihm etwas ins Auge.
„Hm?“ Lin Mus Blick fiel auf das Dokument, das der Bischof gerade schrieb.
Ein Name sprang ihm ins Auge.
„Inquisitor Bernard?“, las Lin Mu leise. „Moment mal, ist das nicht derselbe Inquisitor, der in den letzten Bischofsskandal verwickelt war?“
Bernard hatte eine wichtige Rolle beim Sturz des korrupten Bischofs gespielt. Nach dem, was Lin Mu herausgefunden hatte, war Bernard kein gewöhnlicher Ermittler – er war hochrangig und hatte fast so viel Macht wie ein Bischof.
Lin Mus Neugierde wurde geweckt. Er las heimlich weiter.
„Moment mal … Moment mal …“ Je weiter er las, desto mehr Alarmglocken läuteten in seinem Kopf.
In dem Brief stand:
„Inquisitor Bernard, ich schreibe dir, um dich über die Liste der Reisenden zu informieren, die diesen Monat angekommen sind. Ich wurde darüber informiert, dass sich unter ihnen Verdächtige befinden könnten, und überlasse die Angelegenheit deinen fähigen Händen.“
Darunter folgte eine lange Liste mit Namen und mehreren detaillierten Anweisungen.
Lin Mus Puls beschleunigte sich, als seine Augen die Namen überflogen – und dann sank ihm das Herz in die Hose.
Sein Name stand auf der Liste.
Ebenso wie die Namen seiner Begleiter.
Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich gerade bestätigt, und es würde nur noch schlimmer werden.
„Sie ermitteln gegen uns.“ Lin Mu biss die Zähne zusammen, während sein Verstand mögliche Szenarien durchspielte. Wenn dieser Brief Bernard erreichte, könnte das eine direkte Konfrontation bedeuten. Vielleicht sogar eine sofortige Verhaftung.
Er hatte zwei Möglichkeiten: den Brief vernichten oder seiner Spur folgen.
Lin Mu traf seine Entscheidung sofort.
„Ich kann diesen Brief nicht zu Bernard gelangen lassen, ohne mehr zu wissen.“
Mit präzisen, kontrollierten Bewegungen prägte er sich jedes Detail des Briefes ein, bevor er sich schnell zurückzog. Während er sich entfernte, aktivierte er seinen Kommunikationstalisman und schickte eine Nachricht an seine Begleiter.
„Wir haben ein Problem. Die Geistlichen ermitteln gegen alle Reisenden der letzten Zeit. Unsere Namen stehen auf der Liste. Seid auf mögliche Verhöre vorbereitet – oder Schlimmeres.“
Die Antwort kam sofort.
„Sie sind hinter uns her?“, fragte Daoist Chu mit zitternder Stimme.
Lin Mu antwortete nicht sofort. Stattdessen atmete er tief durch und bereitete sich auf den bevorstehenden Sturm vor.
Denn jetzt war er nicht mehr nur ein Reisender in einem fremden Land.
Er war ein gejagter Mann, ebenso wie seine Begleiter, die keine Schuld trugen.
Ihre einzige Sünde?
Sie hatten sich für die kürzere Route entschieden.