„Sag mir, sieht sich das Haus Crane über den Gesetzen der königlichen Familie stehend? Oder ignoriert ihr sie einfach komplett?“
Selphine kniff die Augen zusammen, als sie den Jungen zu Ende reden sah, der nun unter freiem Himmel stand und hinter dem die sanft flackernden Lichter der Festlaternen lange Schatten warfen.
„Er … hat die ganze Situation in weniger als zwei Minuten aufgelöst“, murmelte sie, mehr beeindruckt als überrascht.
Aurelian nickte langsam und sagte leise: „Und das hat er geschafft, ohne jemanden anzurühren. Kein Manaschlag, kein Zauber, keine Waffe.“
„Aber was mich wirklich beeindruckt“, fügte Selphine hinzu, „ist, wie klar er die königliche Familie ins Spiel gebracht hat. Ohne zu zögern.“
Aurelian warf ihr einen Seitenblick zu. „Das trauen sich die meisten nicht mal zu flüstern. Vor allem nicht in der Öffentlichkeit. Es sei denn, sie haben das Blut oder die Frechheit, das zu untermauern.“
„Und doch hat er es getan.“ Sie verschränkte die Arme und runzelte leicht die Stirn. „Mit perfektem Timing.“
Währenddessen hatte sich die Stimmung auf dem Platz gewendet. Das Gemurmel war nun zugunsten des schwarzäugigen Jungen. Er war nicht mehr nur ein Passant. Er war zu einem Symbol geworden – wenn auch nur für kurze Zeit – für jemanden, der bereit war, die Privilegierten herauszufordern, und was für das Haus Crane noch schlimmer war: Er hatte dies im Namen des kaiserlichen Gesetzes getan.
Das bedeutete, dass er nicht nur den Thronfolger beleidigt hatte.
Er hatte sie an den Rand einer Beleidigung der Krone selbst gebracht.
Diese Grenze – dünn, empfindlich, tödlich – ließ die Menge zuschauen, als wäre sie eine mit Öl getränkte Schnur, die nur einen Funken davon entfernt war, in Flammen aufzugehen.
Der Anführer der Crane-Begleiter, sein Gesicht blass und schweißnass unter dem Kragen, trat erneut vor.
„Du wagst es, so zu reden? Du beschuldigst ein edles Haus, sich gegen den Thron zu stellen?“
Seine Stimme wurde lauter, während er verzweifelt versuchte, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen.
„Das ist Ketzerei! Wir haben natürlich keine solche Absicht – wie kannst du es wagen, das so zu verdrehen? Wer hat dir das Recht gegeben, im Namen der königlichen Familie zu sprechen?“
Bevor der schwarzäugige Junge antworten konnte, hallte ein Stöhnen über den Platz.
Der Erbe des Grafen, der immer noch kniete, aber nun aufrecht stand, zwang sich langsam, sich aufzurichten.
Sein Gesicht war rot – nicht nur von der Anstrengung oder den Nachwirkungen des Mana-Zusammenbruchs, sondern auch von Demütigung.
Wut hing wie Rauch um ihn herum.
„Du kleiner Wurm“, zischte er und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. „Glaubst du, das ändert irgendetwas? Du wirst schon bald wieder in die Gosse kriechen, aus der du gekommen bist. Dafür werde ich sorgen.“
Der schwarzäugige Junge drehte sich langsam um und fixierte ihn wieder mit seinen schwarzen Augen.
Nicht mit Bosheit.
Sondern mit Gelassenheit.
Mit Selbstvertrauen.
Und etwas Tieferem.
Er zuckte leicht mit den Schultern, und wieder erschien dieses schwache Lächeln – zu ruhig, zu bewusst.
„Ist das wirklich so?“, fragte er leise.
Dann hob er das Kinn und wandte sich leicht der murmelnden Menge zu.
„Dann vielleicht …“, sagte er mit gerade so lauter Stimme, dass man ihn hören konnte, „kann uns jemand, der direkt mit der königlichen Familie verbunden ist, antworten.“
Sein Blick schweifte über die Versammelten.
„Wären die nicht die besten Richter hier?“
Eine Welle ging durch die Menge – langsam drehten sich die Köpfe. Geflüsterte Namen. Fragen. Gab es hier jemanden mit Verbindungen zum Königshaus? Einen Zeugen? Eine höhere Stimme?
Die Stille, die folgte, war zerbrechlich – fast heilig.
Dann –
Eine leise Bewegung in der Menge. Eine subtile Spaltung. Das Flüstern verstummte wie Atem, der in der Kehle stecken geblieben war.
Und dann … drehten sich alle Augen.
Denn jemand hatte die Herausforderung gehört.
Und jemand stand bereits da.
Keine fünf Schritte entfernt, beobachtete sie die Szene mit einer gelassenen Ruhe, die nun unmöglich zu ignorieren war.
Sie stand im Schatten einer gewölbten Promenade, unberührt von der Spannung, als hätte das Chaos sie nie wirklich erreicht. Ihr langes weißes Haar – wie Strähnen aus Sternenlicht – fiel in mühelosen Wellen bis zur Taille, jede Strähne schien unter dem goldenen Laternenlicht sanft zu leuchten. Ein zarter Reif lag auf ihrer Stirn, unauffällig, aber unverkennbar.
Und ihre Augen –
Sie hatten die Farbe des königlichen Wappens: tiefes Purpurrot, leuchtend und klar wie das Herz eines von Feuer geküssten Rubins. Ruhig. Beurteilend.
Unbestreitbar.
Um sie herum bildeten vermummte Begleiter in königlicher Livree einen stillen Halbkreis, ihre Haltung angespannt, die Hände in der Nähe ihrer Waffen, aber regungslos. Einer trug das Wappen des Imperialen Schreiberkorps, ein anderer das der Schattenwache der Krone.
Und an ihrer Kehle –
ein Anhänger glänzte im schwindenden Licht: das unverkennbare Abzeichen des Lysandra-Geschlechts – flammenumrankte Flügel über einem offenen Buch. Das Wappen der königlichen Familie Arcanis.
Es bedurfte keiner Ankündigung.
Aber die Menge gab ihr trotzdem eine.
Keuchen. Gemurmel. Knie, die nachgaben.
Und dann –
Als hätten alle gleichzeitig eingeatmet –
„Wir begrüßen Ihre Hoheit, Prinzessin Priscilla Lysandra.“
Die Menge auf dem Platz verbeugte sich wie eine Welle, die an den Strand rollt. Selbst Selphine, die sonst so selbstbewusst und stolz war, senkte ihren Kopf mit einer Anmut, die ihrem Rang angemessen war. Aurelian zögerte – dann tat er es ihr gleich, während seine Gedanken schneller rasten, als sein Körper reagieren konnte.
Eine Welle der Ehrerbietung schwappte über den Platz – aber es war keine Ehrerbietung für sie.
Sie galt dem Namen.
Dem Blut.
Der Lysandra-Linie.
Die Menschen verneigten sich, ja – aber ihre Bewegung war angespannt. Ein Zögern lag darin. Eine Steifheit, die nicht aus Ehrfurcht herrschte, sondern aus Politik. Aus einer Art unangenehmer Loyalität, die aus Pflichtgefühl und nicht aus Respekt gehorchte.
Denn obwohl der Anhänger an ihrem Hals das Siegel der königlichen Familie Arcanis trug und obwohl das Purpurrot in ihren Augen sie unbestreitbar als Nachfahrin von Lysandra der Ersten auswies …
Ihr Name – Priscilla Lysandra – trug das Gewicht eines Skandals mit sich.
In vornehmen Kreisen wurde hinter vorgehaltener Hand und mit versteckter Verachtung über sie getuschelt. Das Ergebnis einer Affäre, hieß es. Ihre Mutter, eine Bürgerliche aus einer vergessenen Provinz, war nicht durch politische Intrigen oder familiäre Beziehungen zur Konkubine des Kaisers aufgestiegen, sondern durch Gunst. Durch Liebe, wagten einige zu behaupten.
Für die Eliten … machte das ihr Blut unrein.
Unrein.
Unwürdig.
Also verneigten sich die Adligen, ja – aber sie lächelten nicht.
Am wenigsten die Gefolgschaft des Grafen Crane, deren finstere Blicke sich zu Masken gezwungener Ehrerbietung verengten und deren Erbe sich kaum davon abhalten konnte, vor Wut zu zittern, als er steif den Kopf neigte und dabei deutlich mit den Zähnen knirschte.
Selphines Verbeugung war scharf und klar, aber ihr Blick blieb hart.
Aurelian hielt seinen Blick gesenkt, aber nicht aus Verachtung – sondern aus Kalkül. Aus der Art von Kalkül, die man an den Tag legt, wenn sich die Lage gerade komplett geändert hat und niemand weiß, wie die Münze fallen wird.
Und unter all diesen Leuten …
Ein Mann verbeugte sich nicht.
Er stand still da.
Ohne Angst.
Unbeeindruckt.
Der schwarzäugige Junge blieb, wie er war, die Hände in seinem Mantel, eine weiße Katze schnurrte auf seiner Schulter wie eine schneebedeckte Krone.
Und Priscilla … sah ihn direkt an.
Keine Verärgerung.
Kein Lächeln.
Nur diese durchdringenden roten Augen, ruhig und ohne zu blinzeln unter den frostfarbenen Wimpern, die ihn musterten, wie man eine Zeile aus einem alten Text studiert, den nur man selbst lesen kann.
Als sie endlich sprach, war ihre Stimme nicht laut – aber sie trug weit. Klar. Gemessen. Scharf wie Frostglas.
„… Du verbeugst dich nicht.“
Die Worte hingen wie eine Klinge in der stillen Luft.
Ihr Blick schwankte nicht. Ihre purpurroten Augen, kälter als Flammen, waren auf den Jungen gerichtet, als würde sie nicht einen Menschen anstarren, sondern eine verkörperte Herausforderung. Der Wind drehte und strich ihr eine silberweiße Haarsträhne über die Wange, aber sie blinzelte nicht. Nicht ein einziges Mal.
Der Junge zuckte nicht.
Seine Haltung versteifte sich nicht, er spannte sich nicht an.
Er blieb einfach stehen, still, fest auf dem Boden, als wäre ihm eine Verbeugung nie in den Sinn gekommen.
Die Katze auf seiner Schulter hob träge den Kopf, blinzelte einmal in Richtung der Prinzessin, streckte sich dann und kuschelte sich wieder zurück, völlig unbeeindruckt.
Und für einen Moment hielt der Platz wirklich den Atem an.
Selphines Lippen pressten sich zu einer dünnen Linie zusammen. Aurelians Kiefer spannte sich an.
Sogar das Gemurmel – vor allem das Gemurmel – verstummte.
Denn sich nicht zu verbeugen war nicht nur ungewöhnlich.
Es war gefährlich.
Die Prinzessin des Arcanis-Reiches stand weniger als zehn Schritte entfernt. Die lebende Erbin der Lysandra-Linie. Die Verkörperung der imperialen Präsenz in dieser Stadt.
Sich nicht zu verbeugen war eine Aussage. Eine Herausforderung.
Und sie sah es.
Sie musterte den Jungen jetzt – nicht mit sofortiger Wut, sondern mit etwas Schärferem. Wie ein Bildhauer, der einen rohen, unförmigen Stein betrachtet und entscheidet, ob es sich lohnt, ihn zu zerbrechen oder zu bearbeiten.
Ihre Begleiter rührten sich nicht. Noch nicht. Aber ihre Hände zuckten in der Nähe ihrer Klingen, und die Spannung in der Luft verdichtete sich wie Feuchtigkeit vor einem Sturm.
Und dennoch – er sagte nichts.
Er tat nichts.
Ihre Augen verengten sich. Nur leicht.
Kälte kroch in ihre Stimme.
„Erkennst du das Siegel, das ich trage, nicht?“