Der Geruch von Pergament und Tinte lag in der Luft, und das flackernde Licht der Kerzen warf lange Schatten auf die hohen Stapel von Dokumenten.
Herzog Thaddeus saß an seinem Schreibtisch und überflog mit goldenen Augen die neuesten Handelsberichte. Seine Finger trommelten gedankenverloren auf das polierte Holz, während er die Zahlen, die stetigen Gewinne und die sich verändernden Machtverhältnisse in der Region in sich aufnahm.
Seit dem Kraken waren Monate vergangen.
Monate voller politischer Manöver, Handelsstörungen und unzähliger Stunden, die damit verbracht wurden, die Schäden zu reparieren – sowohl physische als auch diplomatische.
Zuerst war Chaos ausgebrochen.
Die Seewege waren gefährlich geworden, nicht wegen des Kraken selbst – der war schließlich verschwunden –, sondern wegen der Angst. Händler zögerten, Investoren zogen sich zurück und die Wirtschaft schwankte unter der Last der Unsicherheit.
Ein Kraken war kein gewöhnliches Seeungeheuer. Er war eine Naturgewalt, eine Katastrophe, die die Grundlagen des Handels und der Sicherheit in der Region erschüttert hatte. Selbst nach seinem Tod konnten die Menschen nur schwer glauben, dass er wirklich verschwunden war.
In den ersten Monaten herrschte Misstrauen auf den Märkten. Die Gerüchte waren unerbittlich: War er wirklich tot? Was, wenn ein anderer auftauchte? Was, wenn der Herzog ihn nur vertrieben und nicht getötet hatte?
Und so ging das Geschäft zurück.
Aber jetzt …
Thaddeus atmete tief aus und ließ seinen scharfen Blick auf ein anderes Dokument fallen. Den aktuellen Finanzbericht.
Es war nicht zu leugnen – die Lage hatte sich stabilisiert. Die Handelswege funktionierten wieder reibungslos, die Exporte liefen wieder auf Hochtouren und vor allem stiegen die Gewinne stetig an.
Denn es hatte sich herumgesprochen.
Der Kraken war tot.
Und er hatte ihn getötet.
Oder besser gesagt – das glaubte die Welt.
Thaddeus‘ Finger verharrten auf dem Pergament.
Lucavion.
Dieser Junge hatte ihm den letzten Schlag versetzt, sich in den Strudel geworfen und das Ungeheuer zerissen.
Aber er hatte die Ehre abgelehnt.
Thaddeus hatte das irgendwie erwartet. Lucavion war schon immer ein Sonderling gewesen – jemand, der unberechenbar handelte und sich nie um Status oder Anerkennung zu kümmern schien. Als es darum ging, den Sieg zu verkünden, hatte er es einfach abgewunken.
„Die Ehre gebührt Ihnen, Herr Herzog.“ Lucavion hatte es so beiläufig gesagt, als wäre es nichts Besonderes.
Thaddeus war gezwungen gewesen, an seiner Stelle vorzutreten.
Zuerst hatte es sich wie eine Last angefühlt. Ein notwendiger politischer Schachzug, der jedoch mehr Aufmerksamkeit auf sich zog, als ihm lieb war.
Doch jetzt, als er die Belohnungen betrachtete – Stabilität, Macht, eine Wirtschaft, die stärker wuchs als je zuvor –, konnte er die Ergebnisse nicht leugnen.
Die Welt brauchte einen Namen, hinter dem sie sich versammeln konnte.
Und ob er es nun beabsichtigt hatte oder nicht – Lucavion hatte ihm diesen Namen gegeben.
Thaddeus atmete durch die Nase aus und legte das Pergament beiseite. Sein Blick fiel auf die versiegelten Briefe, die ordentlich in der Ecke seines Schreibtisches gestapelt waren.
Briefe von Adligen. Investoren. Ausländischen Diplomaten.
Sie alle wollten dasselbe – in der Gunst des Mannes stehen, der „den Kraken getötet“ hatte.
Ein weniger bedeutender Mann hätte sich vielleicht an diesem neu gewonnenen Ansehen erfreut.
Aber Thaddeus?
Er fand es einfach nur langweilig.
Er griff nach seiner silbernen Glocke und läutete einmal.
Nach wenigen Augenblicken öffnete sich die Tür und Lysander trat ein, wie immer gelassen und effizient.
„Mein Herr“, grüßte der Butler mit einer Verbeugung.
Thaddeus deutete auf die Briefe. „Sortieren Sie sie. Handelspartner und militärische Verbündete haben Vorrang. Der Rest kann warten.“
Lysander nickte und trat vor, um die Dokumente einzusammeln.
Dabei wanderte sein Blick zum Gesicht des Herzogs. Eine subtile Veränderung in seinem Gesichtsausdruck, so klein, dass die meisten sie nicht bemerken würden.
„Du scheinst in Gedanken versunken zu sein, mein Herr“, bemerkte Lysander.
Thaddeus antwortete nicht sofort. Seine Finger klopften erneut gegen das polierte Holz, und das leise, rhythmische Geräusch erfüllte die Stille.
Dann stand er mit bedächtiger Gelassenheit auf.
Lysander sagte nichts, als sein Herr den Stuhl zurückschob und das Gewicht seiner Präsenz die Luft im Arbeitszimmer veränderte. Das goldene Licht der Kerzen flackerte über seine Gesichtszüge und fiel auf seine scharfe Kinnlinie und den kalten Glanz seiner zusammengekniffenen Augen.
Der Herzog atmete langsam aus, als wolle er die Last der Berichte, der Handelsrouten und der Politik abschütteln. Doch etwas in seiner Haltung blieb angespannt – voller einer stillen, zurückhaltenden Energie, die Momente zuvor noch nicht da gewesen war.
„Ich werde ausgehen“, sagte Thaddeus schließlich mit ruhiger, bedächtiger Stimme.
Lysander hob leicht die Augenbrauen. Der Herzog verließ sein Arbeitszimmer nur, wenn es unbedingt nötig war. Und doch ließ die Art, wie er sprach – so knapp, so endgültig – keinen Raum für Fragen.
Der Butler neigte den Kopf. „Soll ich die Wachen bitten, eine Eskorte vorzubereiten, Mylord?“
Thaddeus schüttelte den Kopf. „Nein.“
Lysander zögerte nur einen Bruchteil einer Sekunde, bevor er sich erneut verbeugte. „Verstanden.“
Ohne ein weiteres Wort schritt Thaddeus an ihm vorbei, seine Stiefel schlugen in einem gleichmäßigen, gemächlichen Rhythmus auf den Marmorboden.
Um diese Uhrzeit waren die Flure still. Die meisten Angestellten hatten sich bereits zur Nachtruhe begeben, bis auf die Nachtwache, deren Patrouillen in disziplinierten Abständen vorbeizogen.
Die flackernden Wandleuchter warfen lange, flackernde Schatten, die sich mit jedem seiner Schritte verlängerten und verschoben.
Aber Thaddeus schwankte nicht.
Er wusste genau, wohin er ging.
*****
Als erstes schlug ihm der Geruch von feuchtem Stein entgegen.
Die Luft war hier kälter – weit entfernt von der Wärme des Anwesens über ihm, von den polierten Sälen und vergoldeten Gemächern, wo Macht mit Tinte und geflüsterten Bündnissen ausgeübt wurde.
Hier war Macht viel einfacher.
Es war das Gewicht der Ketten. Die beißende Stille. Der langsame, unvermeidliche Abstieg in die Bedeutungslosigkeit.
Thaddeus stieg die letzten Stufen hinab, seine Haltung unverändert, obwohl die Luft immer dichter von Staub und Eisen roch. Der Wächter am Eingang richtete sich sofort auf, als er näher kam, sein Gesichtsausdruck unter dem Helm unlesbar.
„Mein Herr.“ Ein knapper Gruß. „Soll ich Eure Ankunft ankündigen?“
„Nicht nötig.“ Thaddeus‘ Stimme zerschnitt die Dunkelheit wie ein Messer. „Öffne.“
Der Wachmann zögerte nur einen Moment, bevor er nickte und nach dem schweren Eisenschlüssel an seinem Gürtel griff. Mit geübter Bewegung schloss er die Tür auf, und das Knirschen des Metalls hallte durch den Raum.
Mit einem dumpfen Knall öffnete sich die Tür.
Thaddeus trat ein.
Sie wartete auf ihn.
Selbst im schwachen Schein der Fackeln leuchteten ihre silberblauen Augen scharf und entschlossen.
Sie saß auf der einfachen Holzbank, die ihr zur Verfügung gestellt worden war – nicht zusammengesunken, nicht niedergeschlagen, sondern aufrecht. Als wäre sie nur eine Beobachterin all dessen, als hätte sie diesen Moment schon die ganze Zeit erwartet.
Die Ketten um ihre Handgelenke und Knöchel konnten ihre Präsenz kaum schmälern. Wenn überhaupt, verstärkten sie nur das surreale Bild von ihr – gefesselt und doch vollkommen gefasst.
Madeleina rührte sich nicht, als er näher kam.
Sie sagte kein Wort.
Sie sah ihn nur an.
Und zum ersten Mal seit ihrer Inhaftierung – seit ihre ganze Welt unter dem Gewicht ihrer eigenen Taten zusammengebrochen war – sah Herzog Thaddeus sie endlich an.
Er sah sie wirklich an.
Die Frau, der er einst mehr als alles andere vertraut hatte.
Die Frau, die auf ihre eigene verdrehte Weise behauptet hatte, alles für ihn getan zu haben.
Die Frau, die versucht hatte, seine Tochter auszulöschen.
Und trotz der kalten Wut, die unter seiner Haut brodelte, trotz des stillen, brodelnden Gewichts des Verrats, das auf seine Rippen drückte –
Als er endlich sprach, war seine Stimme ruhig.
Der Grund für seine Ruhe war einfach.
Es war Monate her, seit er das letzte Mal hier gestanden hatte.
Monate, seit er ihr Schicksal in Aelianas Hände gelegt hatte.
Damals hatte es sich wie die richtige Entscheidung angefühlt. Nein – es war die richtige Entscheidung gewesen. Seine Tochter, die Madeleina am meisten Unrecht getan hatte, war die Einzige, die das Recht hatte, über sie zu urteilen.
Und doch –
Jetzt, wo Aeliana fort war, sich im Training stählte und über den Schatten wuchs, der sie einst gefangen gehalten hatte, blieb Madeleina zurück.
Hier zurückgelassen.
Von allen vergessen, außer von der Zeit selbst.
Thaddeus ließ seinen Blick auf ihr ruhen, seine goldenen Augen unlesbar.
Madeleina hielt seinem Blick stand, ohne zu zucken, ihre silberblauen Augen so fest wie eh und je.
Nicht gebrochen.
Nicht flehend.
Sie war immer eine Frau mit Überzeugungen gewesen, und selbst in Ketten hatte sich daran nichts geändert.
„Ich bin nicht gekommen, um dir die Freiheit zu schenken“, sagte Thaddeus schließlich. Seine Stimme war ruhig und fest. „Dein Leben liegt nicht mehr in meinen Händen.“
Eine Feststellung, keine Drohung.
Eine Tatsache, kein Urteil.
Madeleina reagierte nicht.
Das wusste sie natürlich schon.
Er war nicht gekommen, um irgendwas zu entscheiden.
Warum war er dann gekommen?
Die Stille zwischen ihnen wurde dichter, nicht wegen der Spannung, sondern wegen etwas Schwererem. Etwas Unausgesprochenem.
Schließlich atmete Thaddeus aus, veränderte leicht seine Haltung und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
„Und doch bin ich hier.“
Ein flüchtiger Ausdruck huschte über Madeleinas Gesicht, war aber sofort wieder verschwunden.
Neugier.
Sie sprach es nicht aus, aber sie hörte aufmerksam zu.
Das zumindest hatte sich nicht geändert.
Thaddeus musterte sie, als suche er nach etwas – nach einer Antwort, die er in sich selbst noch nicht gefunden hatte.
Dann sprach er endlich.
„Aeliana ist zu ihrer Ausbildung aufgebrochen.“
Madeleinas Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Zunächst nicht.
Aber dann öffneten sich ihre Lippen einen Spalt breit.
Nicht vor Schock.
Nicht vor Erleichterung.
Nur in stiller Erkenntnis.
„Du bist hier“, flüsterte sie, „weil du neugierig bist.“
Keine Frage. Eine Feststellung.
Thaddeus bestätigte es weder, noch leugnete er es.
Aber sie hatte Recht.
Er war neugierig.
Nicht über die Vergangenheit – nein, die verstand er gut genug.
Nicht über ihre Schuld – darüber hatte er schon vor langer Zeit sein Urteil gefällt.
Sondern über etwas anderes.
Etwas Grundlegenderes.
Etwas, das er sich bisher nicht zu fragen erlaubt hatte.
Langsam trat Thaddeus vor und verringerte den Abstand zwischen ihnen.
„Du hast behauptet, du hättest das für mich getan.“
Madeleinas Atem ging ruhig.
„Du hast behauptet, es sei für das Herzogtum gewesen.“
Dennoch blieb sie standhaft.
Thaddeus‘ Blick wurde schärfer.
„Dann sag es mir.“
Seine Stimme wurde leiser, seine goldenen Augen bohrten sich in ihre.
„Was hast du erwartet, was passieren würde?“
Die Worte hingen in der Luft, durchschnitten die Stille und verlangten nach etwas Tieferem als den Rechtfertigungen, die sie zuvor gegeben hatte.
Glaubte sie wirklich, er würde das akzeptieren?
Glaubte sie, dass Aeliana einfach verschwinden würde, dass die Last ihrer Abwesenheit keine Spuren hinterlassen würde?
Dachte sie auch nur für eine Sekunde, dass sie sie ersetzen könnte?
Madeleina atmete leise aus und neigte ihren Kopf ganz leicht zur Seite.
Und dann, zum ersten Mal, seit er diesen Raum betreten hatte,
lächelte sie.
Ein kleines, wissendes Lächeln.
Und ohne zu zögern sagte sie:
„Ich habe erwartet, dass du weitermachst.“