Aeliana fühlte sich … komisch.
Der Raum, die Stimmen, der strenge Blick ihres Vaters – nichts davon nahm sie richtig wahr. Es war, als hätte sich ihr Verstand in zwei Teile gespalten: Die eine Hälfte wiederholte immer wieder Madeleinas Worte, die andere konzentrierte sich auf Lucavions beunruhigende Gelassenheit, als er gesprochen hatte.
Madeleinas Stimme hallte immer noch in ihrem Kopf wider. „Sie hat genommen und genommen und genommen – bis nichts mehr von dir übrig war!“
Aeliana biss die Zähne zusammen.
Das stimmte nicht.
Nein – so einfach war es nicht.
Was hätte sie sonst tun können? Was hätte Madeleina getan, wenn sie diejenige gewesen wäre, die in diesem Krankenbett gefangen war? Wenn sie diejenige gewesen wäre, die jahrelang unter den Erwartungen aller erstickt war, unfähig, etwas zu ändern, unfähig, etwas anderes zu sein als das, was alle in ihr sahen?
Von außen war es leicht zu reden.
Leicht zu urteilen.
Aeliana atmete scharf durch die Nase aus und schüttelte die Last dieser Gedanken ab. Genug.
Sie würde sich doch nicht ausgerechnet von Madeleina aus der Fassung bringen lassen.
Und doch –
Ihr Blick huschte zur Seite.
Lucavion.
In diesem Moment hatte sie nicht reagiert – zu sehr war sie in ihren eigenen Gedanken versunken –, aber jetzt, im Nachhinein, gingen ihm seine Worte immer wieder durch den Kopf.
Die Art, wie er mit Madeleina gesprochen hatte.
Die Art, wie er sie auseinandergenommen hatte, als hätte er sie schon einmal gesehen.
Nicht nur als Manipulatorin. Nicht nur als Lügnerin.
Sondern als jemand, den er kannte.
„Du, die du noch nie den Verlust von jemandem gespürt hast, den du retten wolltest …“
Aelianas Finger zuckten.
Diese Gewissheit kam nicht von bloßer Beobachtung. Das sprach aus Erfahrung.
Und genau das beunruhigte sie.
Denn es gab bereits zu viele Unbekannte über Lucavion – zu viele Dinge, die sie nicht verstand.
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Aeliana hatte in den Jahren ihrer Gefangenschaft viele Bücher gelesen. Geschichtsbücher, Kriegsberichte, politische Strategien – alles, was die Welt außerhalb ihres Zimmers weniger wie einen Traum und mehr wie etwas Greifbares erscheinen ließ.
Und auf diesen Seiten gab es unzählige unheilvolle Namen.
Der Bluthund von Raviel. Der Schlächter von Hallow’s End. Der Phantom-Sensenmann.
Als sie zum ersten Mal „Schwertdämon“ hörte, war ihre erste Reaktion daher eher verhalten.
Ein solcher Titel konnte jedem gehören – einem halbwegs passablen Schwertkämpfer, der für etwas Ärger gesorgt hatte, aber irgendwann in Vergessenheit geraten würde. Wenn sie noch nie davon gehört hatte, dann war es entweder neu oder unbedeutend.
Aber als sie weiter zuhörte …
Als sie weiter beobachtete …
wurde ihr klar, dass etwas nicht stimmte.
Der Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters.
Sie hatte ihn schon wütend gesehen. Sie hatte ihn ernst gesehen, sie hatte ihn melancholisch gesehen.
Aber noch nie so.
Noch nie so gestresst.
Oder vielleicht –
ängstlich.
Die Art, wie sein Kiefer angespannt war. Die Art, wie sich sein Griff unmerklich verstärkte. Die Art, wie seine scharfen, unbeweglichen Augen sich mit etwas verdunkelten, das fast wie Furcht aussah.
Und dann –
Dann hörte sie es.
„Sternenfluch Gerald.“
Ihr stockte der Atem.
Dieser Name bedurfte keiner Vorstellung.
Ein Name, der in die Geschichte eingegangen war.
Ein Name, der so berüchtigt und legendär war, dass sogar sie – gefangen in den Mauern ihrer Krankheit – von ihm gelesen hatte.
Der einsame Schwertkämpfer, der ganze Armeen niedergemetzelt hatte.
Der Mann, der Schlachtformationen durchbrochen hatte, die als unüberwindbar galten.
Der Krieger, der einst einem Imperium die Stirn geboten und es zum Rückzug gezwungen hatte.
Aelianas Blick huschte zu Lucavion.
Die beiläufige Art, mit der er gesprochen hatte. Die Leichtigkeit, mit der ihm die Worte von den Lippen kamen.
Als wäre es nichts Besonderes.
Als wäre es ganz natürlich.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
Wenn Lucavions Meister er war –
wer zum Teufel war dann Lucavion?
„Was?“
Das Wort entfuhr Aeliana, bevor sie es zurückhalten konnte.
Es war nicht nur Überraschung – es war Erkenntnis.
Langsam, Stück für Stück, fügte sich alles zusammen.
Lucavions Stärke. Seine unnatürliche Präzision. Die Art, wie er kämpfte, als hätte er trotz seines Alters schon unzählige Schlachten gesehen.
Seine Energie.
Dieses seltsame schwarze Licht – fließend, wechselnd, durchzogen von funkelnden Sternen.
Niemand sonst hatte jemals so etwas gezeigt. Niemand sonst hatte jemals so etwas gesehen.
Und jetzt –
Jetzt wusste sie warum.
Denn es gab nur einen Mann in der Geschichte, der dafür bekannt war, etwas Ähnliches zu benutzen.
Starscourge Gerald.
Ein Mann, der sich über Konventionen hinweggesetzt hatte. Ein Krieger, der einst allein gegen ein Imperium gestanden hatte.
Seine Kraft war eine Anomalie, etwas, das Gelehrte, Magier und Historiker gleichermaßen nicht verstehen konnten.
Und Lucavion –
Seine Kraft war dieselbe.
Diese Erkenntnis ließ sie erschauern.
Sie hatte es schon einmal gespürt, oder? Dieses unheimliche Gefühl, als sie ihn zum ersten Mal kämpfen sah. Dieses Bauchgefühl, dass etwas an ihm anders war, etwas, das über bloße Fähigkeiten oder Talent hinausging.
Und jetzt verstand sie, warum.
Lucavion – dieser Mann, der so lässig vor ihnen saß und grinste, als wäre das alles nur ein Spiel –
war von dem einzigen Menschen ausgebildet worden, der einst die Regeln der Kriegsführung neu geschrieben hatte.
Lucavion lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grinste noch breiter. Er strahlte Gelassenheit aus, als würde das Gewicht seiner Worte nicht wie ein Sturm in dem Raum lasten.
„Was? Bist du überrascht, kleine Ember?“
Aeliana spürte, wie ihr Mund zuckte. Dieser Typ –
Selbst jetzt, nachdem er diese Enthüllung in den Raum geworfen hatte, benahm er sich immer noch so? Als hätte er ihr gerade das Wetter angesagt, anstatt alles, was sie zu wissen glaubte, auf den Kopf zu stellen?
Sie wollte ihn nicht so einfach davonkommen lassen.
„Das ist eine ziemlich gewagte Behauptung“, sagte sie und hob leicht das Kinn. „Es gab unzählige Leute, die behaupteten, sie seien Bekannte von Starscourge Gerald gewesen. Keiner von ihnen hat die Wahrheit gesagt.“
Sie ließ die Worte hängen und beobachtete ihn aufmerksam.
„Nimm diesen Ausdruck aus deinem Gesicht, du Mistkerl.“
Lucavion summte, völlig unbeeindruckt. Wenn überhaupt, wurde das Belustigte in seinen dunklen Augen nur noch größer.
„Hmm? Das macht Sinn. Es gibt unzählige Blutsauger, die das tun würden.“
Er versuchte nicht einmal, zu widersprechen. Er versuchte nicht, sich zu verteidigen. Er nahm die Aussage einfach zur Kenntnis, als wäre es eine beiläufige Bemerkung.
Das irritierte sie mehr, als es hätte sein sollen.
„Dann …“, begann sie, aber …
„Ich habe es dir schon gesagt, aber ich wiederhole mich gerne.“
Lucavion unterbrach sie geschickt, seine Stimme wurde leiser und ruhiger.
„Ich lüge nicht.“
Aeliana erstarrte leicht.
Da war etwas in seinem Tonfall.
Etwas Unerschütterliches.
Etwas, das die Luft schwerer werden ließ.
Sein Grinsen war nicht verschwunden, aber es war jetzt anders – weniger verspielt, entschlossener.
Wie ein Mann, der niemanden überzeugen musste.
Weil er die Wahrheit bereits kannte.
Und so sehr Aeliana auch zurückdrängen wollte –
sie hatte das Gefühl, dass sie diesmal nicht gewinnen würde.
„Dann … wenn das wahr ist …“, Aeliana kniff die Augen zusammen, ihre Stimme war bedächtig und vorsichtig. „Was genau machst du hier?“
Sie spürte, wie der Blick ihres Vaters zwischen ihnen hin und her huschte, still, aber beobachtend. Berechnend.
„Du bist die Schülerin eines der stärksten Männer der Welt. Warum bist du hier?“ Ihre Finger krallten sich leicht in den Stoff ihres Kleides. „Und“, sie neigte den Kopf, „war Starscourge Gerald nicht mit dem Loria-Imperium verbündet?“
Lucavion sagte nichts, hörte nur zu. Sein Gesichtsausdruck war jetzt unlesbar.
„Warum hast du gedacht, es wäre eine gute Idee, hierher in das feindliche Land zu kommen und diese Tatsache preiszugeben?“ Ihre bernsteinfarbenen Augen blitzten. „Glaubst du nicht, wir werden dich gefangen nehmen, um Starscourge Gerald zu erpressen?“
Stille.
Zum ersten Mal seit Beginn ihres Gesprächs grinste Lucavion nicht sofort und gab keine spöttische Bemerkung von sich.
Er blieb einfach still stehen.
Die Verspieltheit in seinen dunklen Augen verblasste ein wenig.
Dann –
„Nun … Das ist nicht nötig.“
Seine Stimme war jetzt leiser, ohne jede Belustigung.
Der Raum fühlte sich plötzlich kleiner an.
Aeliana bemerkte eine winzige Veränderung in seinem Gesichtsausdruck.
Es war keine Traurigkeit.
Aber es war etwas Ähnliches.
„Da der Meister nicht mehr hier ist.“
Die Worte lagen schwer in der Kammer.
Schwer. Unerbittlich.
Aeliana stockte der Atem.
Ihr Vater, der so still und angespannt gewesen war, atmete scharf durch die Nase aus. Seine Finger, die sich immer noch um die Stuhllehne krallten, verkrampften sich noch mehr.
Und Lucavion –
Lucavion saß einfach da, ohne sein übliches Grinsen.
Er trauerte nicht. Er war nicht traurig.
Er stellte nur eine Tatsache fest.
Sternenpest Gerald – der Mann, der einst den Verlauf des Krieges neu geschrieben hatte.
War tot.