Der Stoff fiel wie flüssige Seide über Aelianas Körper, glatt und schwerelos, ein krasser Gegensatz zu den schweren Roben und tristen Kleidern, die sie jahrelang getragen hatte. Das Kleid schmiegt sich gerade so an, dass sie sich daran erinnert, dass sie lebt, dass ihr Körper nicht mehr zerbrechlich ist, nicht mehr von Schatten und dem Flüstern der Krankheit eingeschränkt wird.
Aeliana macht einen Schritt nach vorne, ihre Bewegungen sind mühelos, die leichte Berührung der Luft auf ihrer nackten Haut ist ein überraschendes Gefühl.
Wie lange hatte sie so etwas nicht mehr gefühlt? Seit wann hatte sie etwas so Elegantes, so unverhohlen Gewagtes getragen?
„Zu lange …“
Der große Spiegel spiegelte ein ungewohntes Bild wider. Die Frau, die ihr entgegenblickte, war nicht mehr das erbärmliche Wesen, das einst hinter Schleiern und verschlossenen Türen gelauert hatte. Keine eingefallenen Wangen, keine zerbrechlichen Glieder, die sich mühsam aufrecht hielten.
Kein Zögern.
Aeliana fuhr mit den Fingern leicht über die Stickereien auf dem Stoff und genoss das Gefühl von etwas Schönem auf ihrer Haut. Die kühle Berührung des Stoffes, die Art, wie er sich mit ihr bewegte, nicht gegen sie – es war ein Gefühl der Freiheit, das sie fast vergessen hatte.
Sie drehte sich um und ihr Blick schweifte durch den Raum, wo sie die subtilen Veränderungen in den Gesichtern der Dienstmädchen bemerkte. Bewunderung. Unsicherheit. Ein Hauch von Ehrfurcht.
Sie sahen sie jetzt anders an.
Nicht als zerbrechliches Mädchen, das zu einem stillen, tragischen Ende bestimmt war.
Nicht als Geist einer Vergangenheit, die man besser vergessen sollte.
Sondern als Aeliana.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen, wissenden Lächeln.
„Das habe ich wirklich vermisst.“
Sie hatte es vermisst, gesehen zu werden. Sie hatte das Gefühl vermisst, etwas so Einfaches wie Seide auf ihrer Haut zu spüren, die Art, wie die Luft frei um sie herum strömte, anstatt durch dicke, erstickende Vorhänge gefiltert zu werden. Sie hatte das Gewicht der Erwartungen und der Präsenz vermisst, anstatt Mitleid und gedämpfte Stimmen.
Sie atmete langsam aus und wandte sich den großen Türen zu, die auf sie warteten.
Ja, das war richtig. So sollte es sein.
„Meine Dame … wie geht es Ihnen?“
Die Frage kam zögernd, mit einer leisen, vorsichtigen Besorgnis. Die Hände der Magd waren fest vor ihr verschränkt, die Knöchel blass gegen den weichen Stoff ihrer Uniform. Sie zitterte nicht – nicht wirklich –, aber ihre Haltung verriet eine deutliche Vorsicht, eine unausgesprochene Vorbereitung auf einen Schlag.
Aeliana wusste warum.
Das Gewicht ihrer vergangenen Taten hing noch immer in den Wänden dieses Herrenhauses, in der Art, wie die Bediensteten ihre Worte wählten, bevor sie mit ihr sprachen, in dem flüchtigen Ausdruck zwischen Angst und Erwartung in ihren Augen.
Wie viele hatte sie in der Vergangenheit weggeschickt? Wie viele waren wegen ihrer scharfen Worte, ihrer ungezügelten Frustration, ihrer Wutausbrüche in diesen hilflosen, fiebrigen Tagen entlassen worden?
Sie war nie ein fügsames Wesen gewesen.
Aeliana warf einen Blick auf die Magd und nahm die Anspannung in ihren Schultern wahr, das nervöse Flackern in ihrem Blick.
Für einen kurzen Moment überlegte sie, die Rolle zu spielen, die alle von ihr erwarteten. Eine Augenbraue hochzuziehen, die Stille ausdehnen zu lassen, bis die Nerven des Mädchens zerbrachen, ihr zuzusehen, wie sie sich windete, nur weil sie es konnte. Der Gedanke war fast verlockend.
Fast.
Stattdessen atmete Aeliana langsam und gleichmäßig aus.
„Wie fühle ich mich?“, wiederholte sie und neigte leicht den Kopf. Ihre Stimme klang leichter, als die Magd wohl erwartet hatte, ohne die sonst so deutliche Schärfe.
Dann lächelte sie.
„Frei.“
Das Wort hing zwischen ihnen in der Luft, einfach und doch tiefgründig. Es hatte Gewicht. Es enthielt die Wahrheit.
Die Magd blinzelte, sichtlich überrascht. „Frei, meine Dame?“
Aeliana summte zustimmend, wandte sich wieder dem Spiegel zu und fuhr erneut mit den Fingern über den Stoff ihres Kleides.
„Zum ersten Mal seit langer Zeit“, gab sie zu. „Ich fühle mich frei.“
Die Anspannung in den Schultern der Zofe verschwand nicht ganz, aber sie ließ nach. Sie suchte Aelianas Gesichtsausdruck ab, als wollte sie herausfinden, ob dies ein Moment der Ruhe vor einem unvermeidlichen Sturm war.
Das war es nicht.
Aeliana hatte keine Stürme mehr, die sie an Leute verschwenden wollte, die sie nicht verdienten.
„Sollen wir gehen?“, fragte sie und ging mit einer mühelosen Anmut, die jahrelange Krankheit und Schweigen unter sich begraben hatten, zur Tür.
Die Zofe zögerte, nickte dann aber schnell und trat beiseite, um sie vorbeizulassen. „Natürlich, meine Dame.“
Aeliana bemerkte kaum, wie die anderen Dienstmädchen subtil Blicke austauschten, wie ihre Ehrfurcht mit anhaltender Beklommenheit kämpfte.
Sie hatte kein Bedürfnis, sie zu beruhigen.
Das würden sie schon bald sehen.
Die Vergangenheit bestimmte nicht mehr ihr Leben.
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Und bald würde das auch für sie nicht mehr gelten.
Aeliana ging durch die großen Säle, wobei ihr Kleid bei jedem Schritt leise raschelte. Die Dienstmädchen folgten ihr, ihre Bewegungen routiniert, respektvoll und vorsichtig. Sie spürte, wie ihre Blicke auf ihren Rücken huschten und dort kurz verweilten, bevor sie sich wieder abwandten, sobald sie auch nur den Kopf leicht drehte.
Es war genau wie früher.
Die gleiche Ehrerbietung. Die gleiche vorsichtige Distanz. Das gleiche leise Flüstern hinter behandschuhten Händen, Stimmen, die zu leise waren, um sie zu verstehen, aber nie leise genug, um sie zu ignorieren.
Genau wie damals, als sie jung und unnahbar gewesen war, die Erbin des Herzogtums, die Tochter eines der mächtigsten Adelshäuser des Reiches.
Und doch …
Etwas fehlte.
Aelianas Schritte wurden etwas langsamer.
Es war so subtil, dass es niemand bemerkte, aber sie spürte es. Das Fehlen von etwas, das hier sein sollte.
Ihre Finger strichen gedankenverloren über ihr Handgelenk, ihre Fingernägel streiften ihren Puls, als suchten sie nach etwas Greifbarem, an dem sie sich festhalten konnten.
Respekt. Ehrerbietung. Sogar Angst. Sie hatte all das zurückerobert.
Warum fühlte es sich dann so … hohl an?
Ihre Augen folgten den vertrauten Gesichtern der Menschen um sie herum, die sie umgeben hatten, bevor sie erkrankt war. Steif stehende Diener, flüsternde Adlige, eine sorgfältig gezogene Grenze zwischen ihr und allen anderen.
Das hätte reichen müssen.
Früher hatte es gereicht.
Aber jetzt, inmitten dieser Vertrautheit, spürte sie, wie sich das Gewicht der Abwesenheit auf ihrer Brust niederließ.
Früher war da noch etwas anderes gewesen. Etwas Wärmeres, etwas, das jenseits des Schleiers aus Pflicht und Erwartungen existiert hatte.
Aber sie konnte es nicht genau benennen.
Sie atmete langsam ein und zwang ihre Gesichtszüge zu ruhiger Gelassenheit. Es war in Ordnung. Alles war in Ordnung.
Die Hallen, die Blicke, das Gemurmel – all das bedeutete nur eines.
Sie war zurückgekehrt.
Sie hatte wieder Macht.
Und doch –
Sie atmete aus und presste kurz die Lippen aufeinander.
„Was ist das für ein Gefühl?“
Aeliana atmete leise aus und schüttelte ganz leicht den Kopf. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit flüchtigen, unerklärlichen Gefühlen zu beschäftigen.
Sie hatte Wichtigeres zu tun.
Sie straffte die Schultern und setzte ihren Weg fort, jeder Schritt brachte sie näher zum Herzen des Anwesens – dem Büro des Herzogs. Die Korridore erstreckten sich vor ihr, groß und imposant, und das Gewicht des Herzogtums legte sich wie ein vertrauter Mantel auf sie.
Ihr Vater würde warten.
Und sie war kein Mädchen, das andere warten ließ.
Als sie die schweren Eichentüren erreichte, zögerte sie nur einen Bruchteil einer Sekunde – so kurz, dass es niemand bemerkt haben konnte. Dann hob sie mit derselben ruhigen Selbstsicherheit, die sie immer auszeichnete, die Hand und klopfte an.
Es folgte ein Moment der Stille.
Dann –
„Eintreten.“
Die Stimme aus dem Inneren war tief und fest, ein Tonfall, der Befehlscharakter hatte, ohne dass die Stimme erhoben werden musste. Genau wie immer.
Aeliana öffnete die Tür und trat ein.
Das Arbeitszimmer war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte – Wände mit hohen Bücherregalen, der Geruch von Pergament und Tinte lag in der Luft, das Nachmittagslicht fiel durch die hohen Fenster herein. Und an dem großen Schreibtisch, umgeben von ordentlich gestapelten Dokumenten und Briefen, saß ihr Vater.
Der Herzog.