„Vater.“
Dem Herzog stockte der Atem.
Vor ihm stand ein Mädchen.
Ihr Rücken war gegen den kalten Stein gedrückt, ihr zierlicher Körper ruhte auf dem Boden der Höhle. Ihr langes, wallendes schwarzes Haar fiel wie seidene Strähnen der Mitternacht herab und bildete unter ihr einen Tintenfleck.
Und ihre Augen.
Helle bernsteinfarbene Kugeln – scharf, durchdringend, lebendig.
Augen, die von Krankheit getrübt und von Schwäche gedämpft sein sollten.
Aber das waren sie nicht.
Sie brannten.
Sie leuchteten.
Und ihre Haut.
Sie strahlte.
Ein sanftes, strahlendes Leuchten, wie poliertes Elfenbein, das das Licht des Mondes reflektierte. Die kränkliche Blässe, die blassen Narben, die Makel, die ihren Körper bedeckt hatten, waren verschwunden.
Die Male.
Der Fluch.
Alles.
Die Höhle schien still, bis auf das stetige Tropfen von Wasser, das in ihrer Tiefe widerhallte. Das Leuchten der biolumineszenten Kristalle warf wechselnde Schatten an die Wände, deren sanfte Farbtöne die beiden Gestalten in ihrer Mitte beleuchteten.
Herzog Thaddeus stand regungslos da, atmete schwer und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Sein Verstand versuchte zu begreifen, was er sah, aber sein Körper reagierte, bevor er nachdenken konnte.
„… Aeliana …“
Der Name kam wie ein Hauch über seine Lippen, rau und ungläubig.
Dann stürmte er ohne zu zögern vorwärts.
Sein Umhang wehte hinter ihm her, während seine Stiefel über den Höhlenboden kratzten. Seine normalerweise gemessenen Schritte, präzise und gelassen, waren jetzt hastig, sogar rücksichtslos. In dem Moment, als er sie erreichte, packte er ihre Schultern und zog sie zu sich heran, als könnte sie wieder verschwinden, wenn er sie losließe.
„Du bist in Sicherheit …“
Die Worte kamen als leises Flüstern, kaum hörbar, doch voller Emotionen, die er sich seit Jahren nicht mehr erlaubt hatte.
Und dann – hielt er sie fest.
Herzog Thaddeus, der Mann, der für seine unerschütterliche Disziplin, für das Gewicht seiner Autorität und für seine furchteinflößende Präsenz bekannt war, die ein ganzes Schlachtfeld zum Schweigen bringen konnte – umarmte seine Tochter.
Nicht als Herrscher. Nicht als Herzog des Ostens. Sondern als Vater.
Seine Arme schlossen sich um ihren zierlichen Körper und hielten sie fest an sich gedrückt. Er spürte ihre Wärme, ihren Herzschlag an seiner Brust, den unbestreitbaren Beweis, dass sie da war. Dass er sie nach einer Woche der Verzweiflung, in der er den Abgrund nach der kleinsten Spur abgesucht hatte, nachdem er sich fast in Trauer und Wut verloren hätte, gefunden hatte.
Aeliana erstarrte.
Das hatte sie nicht erwartet.
Sie hatte Wut erwartet – Vorwürfe, Belehrungen, ein Verhör. Sie hatte erwartet, zurückgeschleppt und gezwungen zu werden, sich für ihre Leichtsinnigkeit zu verantworten.
Aber das hier – das war anders.
Ihr Vater, ein Mann, den sie immer als kalt, distanziert und kontrolliert erlebt hatte, hielt sie fest, als hätte er fast alles verloren.
Denn das hatte er.
Langsam löste sich die Anspannung in ihrem Körper, und ihre Arme hoben sich zögernd. Sie hatte ihren Vater noch nie umarmt – nicht so, nicht auf eine Weise, die sich echt anfühlte. Aber etwas an diesem Moment – diese überwältigende Erleichterung, diese Wärme – ließ sie ihren üblichen Groll vergessen.
„… Vater“, flüsterte sie, ihre Stimme kaum hörbar.
Aber Herzog Thaddeus ließ sie nicht los.
Noch nicht.
Denn zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit war nichts anderes mehr wichtig.
Nicht die Tatsache, dass sie geheilt war.
Nicht das Geheimnis des Wirbels.
Nicht einmal die seltsame Präsenz, die tiefer in der Höhle verweilte.
Nichts davon war wichtig.
Denn nach all der Suche, nach all den Misserfolgen und hoffnungslosen Nächten war seine Tochter wieder in seinen Armen.
Die Höhle blieb still, eingehüllt in die stille Wärme einer Umarmung, die keiner von beiden erwartet hatte.
Aeliana spürte das gleichmäßige Heben und Senken des Atems ihres Vaters, das Gewicht seiner Arme um sie herum, die sich nicht bewegten.
Sie wusste nicht, wie lange sie so dastanden.
Sekunden.
Minuten.
Die Zeit verschwamm zu etwas Unbedeutendem.
Zum ersten Mal seit Jahren dachte Herzog Thaddeus nicht an seinen Titel. An seine Pflicht. An das Reich.
Er dachte nicht an Strategien oder Macht oder die Zukunft.
Er hielt einfach nur seine Tochter fest.
Die Tochter, die er für verloren gehalten hatte.
Die Tochter, die zurückgekommen war, lebendig.
Unversehrt.
Aber –
Langsam kehrten die scharfen Sinne des Herzogs zurück.
Da war noch etwas anderes.
Jemand.
Herzog Thaddeus‘ Griff um Aeliana lockerte sich. Die Wärme der Erleichterung, des Wiedersehens, kühlte schnell ab, als etwas anderes – jemand anderes – endlich seine Sinne erreichte.
Sein Blick schoss zur Seite.
An die Höhlenwand gelehnt, die Arme verschränkt, stand mit der lässigen Arroganz von jemandem, der alle Zeit der Welt hatte, ein junger Mann.
Sein leicht gewelltes Haar, dunkel wie der Abgrund selbst, umrahmte ein Gesicht, das weder Angst noch Ehrfurcht zeigte. Seine schwarzen Augen, tief und undurchschaubar, trafen ohne zu zögern den durchdringenden Blick des Herzogs. Es gab keine Verbeugung, kein Zeichen von Respekt – nur Belustigung.
Und dann – lächelte er.
Ein langsames, wissendes, fast zu leichtes Lächeln.
„Hallo?“
Seine Stimme war sanft, sein Tonfall hatte eine ärgerliche Leichtigkeit, als wäre dieser Moment – diese lange, verzweifelte Suche, diese qualvolle Tortur – nichts weiter als ein einfaches Ereignis, das sich wie erwartet abspielte.
„Lieber Herzog Thaddeus.“
Es wurde ganz still in der Höhle.
Der Herzog starrte ihn scharf an, sein Körper spannte sich an, als sein Instinkt sofort von Erleichterung auf Gefahr umschlug. Er war so auf Aeliana fixiert gewesen, so überwältigt von ihrem Anblick – **ganz, geheilt, lebendig** –, dass er für einen Moment die Anwesenheit ignoriert hatte, die die ganze Zeit da gewesen war.
Ein Fehler.
Er hätte diesen Mann bemerken müssen, sobald er den Fuß hineingesetzt hatte.
Und doch –
Der junge Mann neigte leicht den Kopf, sein Grinsen vertiefte sich. „Bitte, beachten Sie mich nicht“, fuhr er fort und hob eine Hand, als wolle er verspottend beruhigen. „Ich würde niemals eine so herzliche Wiedersehensfreude verderben wollen.“
Eine Pause.
Eine spöttische Pause.
Beide kannten die Wahrheit.
In dem Moment, als er gesprochen hatte, war das Wiedersehen bereits ruiniert.
Herzog Thaddeus atmete langsam und bedächtig aus. Die Luft um ihn herum veränderte sich – diesmal nicht vor Erleichterung, sondern mit etwas Kälterem, Schärferem, Gefährlicherem.
„…“
Er ließ Aeliana los und drehte sich langsam und bedächtig zu dem jungen Mann um.
Aeliana, die noch zwischen der nachklingenden Wärme der Umarmung ihres Vaters und der plötzlichen Anspannung, die ihn überkam, gefangen war, zögerte. Sie kannte diesen Ausdruck auf seinem Gesicht.
Ihr Vater schätzte ihn ein.
Er wog ab.
Er entschied, ob diese Person, die vor ihm stand, eine Bedrohung darstellte.
Und in Herzog Thaddeus‘ Welt waren das fast alle.
In der Höhle war es still, bis auf das entfernte Geräusch tropfenden Wassers.
Der junge Mann lächelte nur noch breiter und beobachtete ihn mit derselben unlesbaren Belustigung.
Als hätte er schon die ganze Zeit auf diesen Moment gewartet.
*******
Herzog Thaddeus drehte leicht den Kopf und fixierte den jungen Mann mit seinem scharfen Blick. Seine Präsenz, subtil und doch unbestreitbar, war nicht schwach.
Für jemanden, der so jung war, war seine Mana-Präsenz sogar außergewöhnlich.
„5 Sterne.“
Das war die erste Einschätzung, die dem Herzog durch den Kopf schoss. Die Dichte, das Gewicht seiner Mana – sie war auf dem Niveau eines Elite-Ritters, eines erfahrenen Kriegers.
Aber irgendetwas stimmte nicht.
Herzog Thaddeus war ein Mann, der Macht mit einem einzigen Blick einschätzen konnte, der Jahrzehnte damit verbracht hatte, vor Rittern, Magiern und Kriegsherren zu stehen. Er wusste, wie sich ein 5-Sterne-Mann anfühlen sollte.
Dieser junge Mann … war nicht normal.
Da war noch etwas anderes, das unter der Oberfläche lauerte. Eine Präsenz, die flackerte und sich gerade außerhalb seines Verständnisses bewegte. Es war, als wäre das Mana, das ihn umgab, nicht ganz stabil, als wäre etwas an seiner Existenz unnatürlich.
„Vielleicht liegt es an der Kunst, die er ausübt.“
Dieser Gedanke kam schnell und logisch. Viele Techniken, insbesondere alte oder verbotene, konnten die Wahrnehmung von Mana verzerren.
Aber das passte nicht zusammen.
Sein Instinkt – sein Instinkt sagte ihm, dass dieser Mann etwas ganz anderes war.
Dennoch war es nicht das, was seine Aufmerksamkeit am meisten auf sich zog.
Schwarzes Haar.
Schwarze Augen.
Schwarzes Haar war nichts Ungewöhnliches. Aber schwarze Augen?
Nicht nur dunkelbraun, nicht schattig haselnussbraun – pechschwarz. Wie der Abgrund selbst.
Und dann war da noch die Narbe.
Eine schwache Narbe, die an der Seite seines Halses entlanglief und unter dem Kragen seines abgetragenen Mantels kaum zu sehen war.
Herzog Thaddeus‘ Gedanken wurden klarer.
Eryndor hatte davon gesprochen.
Unter den Überlebenden der Expedition war ein Name gefallen.
Der Name eines Schwertkämpfers, der eigentlich nicht hätte überleben dürfen.
Ein Mann, der in der Schlacht an vorderster Front gekämpft hatte, einer der letzten, die sich dem Kraken entgegenstellten – nur um dann vom Strudel verschluckt zu werden.
Und doch stand er hier.
Er stand vor ihm.
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Herzog Thaddeus sah ihm in die Augen.
Und dann sprach er endlich.
„Bist du Luca?“
Eine Pause.
Zum ersten Mal verschwand das Grinsen des jungen Mannes.
Nur für eine Sekunde.
Aber Thaddeus bemerkte es.
Lucas schwarze Augen flackerten, etwas Unlesbares blitzte hinter ihnen auf, bevor derselbe selbstbewusste, amüsierte Ausdruck zurückkehrte.
Er neigte den Kopf leicht, als würde er über die Frage nachdenken.
Dann lächelte er wieder.
„Ah, du hast also von mir gehört.“
Seine Stimme klang leicht, aber sie hatte einen unterschwelligen Ernst.
Keine Überraschung.
Keine Vorsicht.
Amüsement.
————-A/N————–
Anscheinend waren viele von euch mit dem Cliffhanger unzufrieden, daher gibt es hier einen weiteren.
Wie auch immer, morgen muss ich meine Kurswahl treffen und ich brauche einen Kurs, der für meinen Stundenplan wirklich wichtig ist. Wünscht mir Glück.