Der Raum war jetzt leer.
Aber die Wut war noch da.
Herzog Thaddeus stand regungslos da, mit dem Rücken zur Tür, durch die Madeleina verschwunden war. Seine Brust hob und senkte sich in unregelmäßigen, gemessenen Atemzügen. Seine Finger zitterten an seinen Seiten, seine Knöchel waren angespannt und weiß vor Anspannung.
Er hätte sie am liebsten umgebracht.
In diesem Moment, als seine Hand nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht stehen geblieben war, als seine Mana die Luft um sie herum zum Knacken gebracht hatte, hatte er sie vernichten wollen, sie zu nichts machen, sie unter dem Gewicht seiner Trauer zerquetschen.
Aber er hatte es nicht getan.
Denn er kannte Madeleina.
Er kannte ihren Vater – den Mann, der einst diesem Haushalt mit unerschütterlicher Loyalität gedient hatte, der unter seinem eigenen Vater ausgebildet worden war. Das Blut desselben Mannes floss in ihren Adern. Sie war als Schatten der Pflicht aufgewachsen, geschmiedet in Loyalität, gestählt durch Verantwortung.
Sie war keine Verräterin.
Sie hatte versagt, ja. Sie hatte Aeliana verloren.
Aber sie hatte sie nicht im Stich gelassen.
Also hatte er sich zurückgehalten.
Seine Finger ballten sich zu Fäusten. Aber die Wut blieb.
Nein.
Nicht nur Wut.
Schmerz.
Ein scharfer, kehliger Atem entwich ihm, als er sich langsam umdrehte, seine Schritte schwer und bedächtig. Seine Sicht verschwamm an den Rändern, nicht vor Erschöpfung, sondern vor lauter Wut, die unter seiner Haut brannte und wie ein ungezähmtes Feuer durch sein Innerstes strömte.
Er hatte sie verloren.
Wieder einmal.
Genau wie sie.
Genau wie seine Frau.
„Du hast es mir versprochen.“
Eine Erinnerung.
Ein Flüstern aus einer Vergangenheit, die begraben sein sollte, es aber nie wirklich war.
„Selbst wenn ich nicht mehr da bin, musst du sie beschützen.“
Thaddeus hielt den Atem an.
Die Wut wälzte sich in ihm wie ein verwundetes Tier, wand sich, krümmte sich, unfähig zu entkommen. Es war nicht nur der Kraken, nicht nur das Meer – es war er selbst.
Er hatte Aeliana gehen lassen.
Er hatte ihr erlaubt, an Bord dieses Schiffes zu gehen, obwohl sein Instinkt ihm gesagt hatte, er solle sie wegschließen, sie innerhalb dieser Mauern einsperren, wo sie zumindest in Sicherheit gewesen wäre.
Er hatte sich eingeredet, dass er ihr einen Anschein von Freiheit gewährte.
Aber was war Freiheit, wenn sie sie nur hierher geführt hatte?
Seine Fäuste schlugen auf den Schreibtisch, der Aufprall ließ das Holz heftig erbeben. Papiere flogen durch die Luft, eine Tintenflasche kippte um und verschüttete ihren dunklen Inhalt über sorgfältig geschriebene Berichte.
Ein scharfer Atemstoß, ein frustriertes Knurren entrang sich seinen Lippen.
Seine Mana pulsierte erneut, unkontrolliert, wild.
Die Grundmauern des Raumes bebten darunter.
Er drehte sich abrupt um, ging zum Fenster und schlug mit seinen schweren Stiefeln kräftig auf den Marmor. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, aber das war nichts im Vergleich zu dem Druck, der sich in seiner Brust aufbaute.
Er starrte auf das Meer.
Dieses elende, verfluchte Meer.
Die Quelle des Verschwindens seiner Tochter. Der Abgrund, der sie verschlungen hatte.
Der Kraken.
Dieses Ding.
Es war mehr als nur eine Bestie. Mehr als eine sinnlose zerstörerische Kraft.
Es hatte seinen Moment gewählt.
Es hatte die Männer entkommen lassen.
Es hatte sich absichtlich zurückgezogen.
Und dann, in letzter Sekunde – als der Sieg bereits verloren war – hatte es Aeliana mitgenommen.
Das war kein Zufall.
Seine Finger krallten sich in die Fensterbank, seine Fingernägel gruben sich in den Stein.
Verspottete es ihn?
Wusste es Bescheid?
Verstand der Kraken – oder was auch immer diese unnatürlichen Strudel kontrollierte – was es ihm genommen hatte?
Eine tiefe, urwüchsige Wut stieg in ihm auf.
Das Meer hatte ihm alles genommen.
Seine Frau.
Seine Tochter.
Und jetzt sollte er hier stehen, machtlos, als wäre er nichts weiter als ein trauernder Vater, der keine Kraft mehr hat, was zu tun?
Nein.
Nein.
NEIN.
Ein scharfer Knall zerriss die Luft, als der Fensterrahmen unter dem Druck seiner Mana nachgab.
Er drehte sich abrupt um, seine Präsenz erfüllte den Raum, drückte gegen die Wände, sein Atem ging stoßweise, seine Schultern bebten.
Er hätte sie niemals gehen lassen dürfen.
Er hätte sie hier behalten sollen.
Selbst wenn sie ihn dafür gehasst hätte.
Selbst wenn sie ihn verachtet hätte.
Selbst wenn das bedeutet hätte, sie einzusperren.
Denn dann wäre sie wenigstens in Sicherheit gewesen.
Zumindest wäre sie nicht in denselben verdammten Abgrund gestürzt, der seine Frau verschlungen hatte.
Eine heftige Welle von Mana knisterte um ihn herum und ließ die Luft vor instabiler Energie brummen. Der Sturm in ihm – der jahrelang kontrolliert, gezügelt und weggesperrt worden war – brach los.
Nur ein Gedanke beherrschte jetzt seinen Geist.
Er würde nicht zulassen, dass das Meer sie mitnahm.
Nicht dieses Mal.
Nie wieder.
Seine Stimme, leise und voller unerschütterlicher Entschlossenheit, hallte durch die leere Kammer.
„Ruft alle Gelehrten herbei. Alle Magier. Alle Forscher in diesem verdammten Reich.“
„Findet mir diejenigen, die den Wirbel überlebt haben. Findet mir diejenigen, die die Geheimnisse des Ozeans kennen.“
„Und wenn das Meer sie festhält …“
Seine Augen brannten, sein Mana brodelte vor etwas, das über bloße Wut hinausging.
„… dann werde ich es auseinanderreißen, um sie zurückzuholen.“
Der Sturm draußen tobte, aber er war nichts im Vergleich zu dem Sturm in ihm.
******
Elara saß am Fenster ihres gemieteten Zimmers in der Herberge und starrte auf das Meer. Die Wellen rollten in einem gleichmäßigen Rhythmus heran, ihre unaufhörliche Bewegung stand in krassem Gegensatz zu der Unruhe, die sich in ihrer Brust zusammenbraute. Der schwache Geruch von Salz lag in der Luft und vermischte sich mit dem Duft von Holz und den schwachen Resten des Bades, das sie zuvor genommen hatte.
Es war fast eine Woche her.
Sieben Tage seit der Schlacht.
Sieben Tage, seit der Strudel ihn verschluckt hatte.
Sie krallte ihre Finger in die Fensterbank, ihre Fingernägel drückten sich in das Holz. Das Gefühl war seltsam, beunruhigend, und sie konnte es nicht in Worte fassen. Sie hatte schon zuvor den Tod gesehen, hatte schon zuvor Menschen verloren.
Und doch war dies anders. Es war keine Trauer – nicht wirklich. Es war auch nicht nur Trauer. Es war etwas dazwischen, etwas Leeres und Unruhiges.
Sie konnte es noch immer so klar vor sich sehen.
Diesen letzten Moment.
Wie sein Grinsen nicht verschwunden war, selbst als der Wirbel ihn verschluckte.
Wie er sie wegstieß, um sicherzugehen, dass sie nicht mit ihm hineingezogen wurde.
Seine letzten Worte, wie immer neckisch, aber darunter lag etwas anderes. Etwas Echtes.
„Du bist noch nicht bereit, die Heldin zu spielen.“
Elara atmete tief aus und fuhr sich mit der Hand durch ihr feuchtes Haar. Sie hatte diesen Moment immer wieder in ihrem Kopf durchgespielt und versucht zu entschlüsseln, was sie übersehen hatte, was sie hätte anders machen können. Aber es endete immer gleich.
Mit seinem Verschwinden.
Und das Schlimmste daran? Seitdem hatte niemand mehr etwas von ihm gesehen.
Sie hatte sich mehreren Suchaktionen angeschlossen, das Schlachtfeld abgesucht und Berichte von Rittern und Abenteurern durchforstet. Der Wirbel war spurlos verschwunden, und mit ihm auch er. Einfach so. Weg, als hätte er nie existiert.
Aber das war nicht alles.
Sie war nicht die Einzige, die unter dieser Ungewissheit litt.
Der Herzog von Stormhaven hatte eine unerbittliche Suchaktion gestartet – nicht nur nach Luca, sondern auch nach seiner eigenen Tochter. Die Gerüchte verbreiteten sich schnell. Die einzige Tochter des Herzogs war von demselben Wirbel verschluckt worden, der Luca mitgerissen hatte.
Und genau wie Luca hatte sich auch von ihr jede Spur verloren.
Adlige Truppen wurden mobilisiert. Elite-Abenteurer wurden angeheuert. Einige flüsterten, dass der Herzog selbst sich aus der Sicherheit von Stormhaven hinausgewagt hatte, um persönlich Teams anzuführen, die das umliegende Land und die Meere nach Spuren der Vermissten absuchten.
Und trotzdem gab es keine Antworten.
Elara biss sich auf die Lippe, während ihr der Kopf vor Fragen rauchte.
Was waren das für Wirbel?
Wohin führten sie?
Warum waren sie so plötzlich aufgetaucht?
Und warum – warum hatte sie das Gefühl, dass etwas fehlte? Als stünde sie am Rande von etwas Unermesslichem und Unbekanntem und streckte die Hand nach etwas aus, das sie nicht erreichen konnte.
Sie schloss die Augen und krallte ihre Finger in den Stoff ihrer Robe. Das Gewicht des Unbekannten drückte schwer und erstickend auf ihre Brust. Und unter all dem, unter der Logik und den Zweifeln, hallte ein leises Flüstern in ihrem Hinterkopf.
„Es war deine Schuld.“
Ein einziger Gedanke, der nicht da sein sollte.