„Von jetzt an bist du ein Niemand.
Und das wirst du immer bleiben.
Alles, was du hast, wird mir gehören.“
–KNAR!
Als die Tür zugeschlagen wurde, kehrte wieder Dunkelheit ein.
–SCHLUCHZ!
Ich konnte immer noch das Schluchzen des Mädchens hören, das solche Gefühle erdulden musste.
„…“
Elara.
Die Hauptfigur der Geschichte.
Das Opfer der Tragödie.
Die junge Frau, der von den Menschen, denen sie vertraut hatte, alles genommen wurde.
Und Lucavion.
Der Verlobte von Isolde.
Das bin ich.
„Kurgh-!“
Wieder einmal überkam mich ein heftiger Kopfschmerz, weil ununterbrochen Erinnerungen in meinem Kopf auftauchten.
An einem sonnigen Nachmittag in einem üppigen Garten saß sie mit ihrer gewohnt zerbrechlichen Haltung auf einer Bank. „Lucavion, bitte massiere mir die Haare“, bat sie leise, ihre Stimme voller zarter Süße.
Es war seltsam.
„Ist das dieselbe Stimme?“
Wie konnte ein Mensch so unterschiedliche Seiten haben? Welche war die echte?
Die Antwort lag bereits vor mir, auch wenn es schwer war, sie zu akzeptieren.
Damals tat ich einfach, was mir beigebracht worden war. Ist es nicht richtig, denen, die es brauchen, Fürsorge zu zeigen?
„Natürlich, Isolde.“ Ich setzte mich neben sie und fuhr ihr sanft mit den Fingern durch das Haar, wobei ich die Seidigkeit zwischen meinen Fingern spürte.
Selbst jetzt noch kann ich mich an diese Seidigkeit erinnern.
Aber war das wirklich wahr?
Diese Erinnerungen.
Waren sie wirklich meine?
Bin ich Lucavion?
Oder bin ich …
Wer war ich überhaupt?
„Was? Wie war der Name?“
Ich konnte mich nicht daran erinnern.
„Urghk-!“
Meine Kopfschmerzen wurden viel schlimmer.
RUMBLE!
Genauso wie das Knurren meines Magens. Es war, als würde sich dort etwas zusammenbrauen, als würde mein Körper versuchen, etwas herauszuwerfen.
Dann tauchte dieselbe Erinnerung wieder in meinem Kopf auf.
Ich lag da, meinen Kopf auf ihrem Schoß.
Ihre „sanfte“ Berührung beruhigte meinen schmerzenden Kopf, und ich fühlte, wie mich eine Welle der Ruhe überkam. Sie streichelte mein Haar, ihre Finger bewegten sich so zärtlich, dass der Schmerz nachließ.
„Lucavion“, flüsterte sie mit sanfter, süßer Stimme. „Du liebst mich, oder?“
Ich versuchte zu antworten, aber meine Stimme klang fern, als gehörte sie jemand anderem. „Ja, ich liebe dich, Isolde.“
Das Lächeln sollte strahlend sein, doch jetzt sah es aus wie das falsche Licht des Mondes.
„Du glaubst an mich, oder?“
„Natürlich, Isolde“, hörte ich mich sagen, und die Worte kamen mir vertraut und fremd zugleich vor. „Ich glaube an dich.“
Doch dieses Gefühl der Fremdheit blieb.
Jetzt konnte ich es verstehen.
Es war mein Körper, der mich in diesem Moment warnte.
„Gut“, sagte sie leise. „Denn du und ich sind füreinander bestimmt, für immer.“
Genau wie im Traum stieg wieder dieses Übelkeitsgefühl in meiner Brust auf.
GRUMMEL!
Mein Magen knurrte und rumorte.
„Also, mein Lucavion.
Trinkst du das für mich?“
Und sie hielt mir dieses Ding vors Gesicht.
Dieses Ding, das mich ständig zum Kotzen brachte.
„Ich würde alles für dich tun.“
Und in diesem Moment.
„Urghk—!“
Ich konnte es nicht länger zurückhalten. Die Übelkeit überwältigte mich und ich kotzte, wobei die ekelhafte Flüssigkeit auf den kalten Steinboden der Zelle spritzte.
„Urghk—!“
Es fühlte sich an, als würde mein Inneres ausgepresst, jeder Tropfen Galle und Säure drückte sich aus meinem Körper heraus. Ich würgte immer wieder, bis nichts mehr übrig war außer trockenem Würgen und dem beißenden Geschmack von Erbrochenem in meinem Mund.
Mein Körper zitterte vor Anstrengung, und ich sackte gegen die Wand und rang nach Luft. Die Erinnerungen, der Schmerz, der Verrat – alles wirbelte in einem Übelkeit erregenden Strudel durcheinander, der mich schwindelig und schwach machte.
Als ich da lag und versuchte, meinen Atem zu beruhigen, bemerkte ich etwas, das sich in der Kotze bewegte. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als ich eine Tausendfüßler sah, die sich aus dem Ekel herauswand. Sie war lang, segmentiert und grotesk, ihre vielen Beine huschten über den Steinboden.
„Was … was …?“, stammelte ich mit zitternder Stimme. Der Anblick war ekelerregend und mir lief ein Schauer über den Rücken.
Ich streckte die Hand aus, um es zu packen, zu zerschlagen, irgendetwas zu tun, um es aufzuhalten. Aber meine Finger waren zu langsam, zu schwach, und die Tausendfüßler entglitt mir und verschwand in den Schatten der Zelle.
Bevor ich weiter reagieren konnte, quietschte die Tür und blendendes Licht durchdrang die Dunkelheit, sodass ich die Augen zusammenkniff und sie bedeckte.
„Steh auf“, befahl eine raue Stimme und durchdrang meinen benommenen Geist.
Ich versuchte mich aufzurichten, aber mein Körper protestierte bei jeder Bewegung. Das Licht war grell, und als sich meine Augen daran gewöhnt hatten, sah ich die Silhouette eines Wärters in der Tür stehen.
„Was …?“, brachte ich mit heiserer Stimme hervor.
„Du wirst verlegt“, antwortete der Wachmann knapp und trat beiseite, um einer anderen Gestalt Platz zu machen.
Die neue Gestalt trat in die Zelle, und ich erkannte ein Gesicht, das mir nicht unbekannt war.
Dieses Gesicht hatte ich schon einmal gesehen.
„… Wer…?“
fragte ich mich.
Die Antwort kam vom Wachmann.
„Sir Alistair ist hier, um dich mitzunehmen.“
In dem Moment, als der Name aus dem Mund des Wachmanns kam, wusste ich, wer das war. Es war mein älterer Bruder.
Alistair Thorne. Der Erbe der Familie.
Hoffnung keimte in meinem Herzen auf. Ich öffnete den Mund, um ihn zu begrüßen, aber bevor ich etwas sagen konnte, entzündete sich plötzlich ein Feuer direkt vor meinem Gesicht und brannte heftig.
„Argh!“
Ich drückte mich von den Flammen zurück, mein Herz pochte vor Angst.
Daraufhin hörte ich eine kalte Stimme sagen:
„Wage es nicht, zu sprechen, du Wurm.“
Die Stimme war eiskalt, und als ich aufblickte, sah ich Alistairs Blick, der mich mit intensiver Verachtung fixierte. Seine Augen waren scharf, unversöhnlich und voller Verachtung.
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich mich in einer sehr schlechten Lage befand.
„…“ Ich wollte etwas sagen, aber die Worte erstickten in meiner Kehle, als die Flammen bedrohlich näher flackerten.
„Schweigen“, zischte Alistair, sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich. „Du … Nach allem, was du getan hast … Du hast kein Recht zu sprechen …“
Die Hoffnung, die kurz in meinem Herzen aufgeflammt war, erlosch und wurde durch kalte Angst ersetzt.
„…“
Also beschloss ich, nichts zu kompliziert zu machen, da es sowieso keine Rolle spielen würde.
„Nehmt ihn“, hörte ich Alistair den Leuten hinter ihm befehlen.
–TAK!
–TAK!
–TAK!
Daraufhin war das Geräusch von Metall auf dem Boden zu hören. Als ich hinsah, konnte ich das Licht sehen, das von ihren Rüstungen reflektiert wurde.
Und das Abzeichen direkt auf ihrer Brust.
Es kam mir bekannt vor.
Das Abzeichen der Viscounts von Thorne.
Das Abzeichen meiner Familie.
Es waren die Ritter der Familie Thorne.
Die Ritter packten mich grob an den Armen. War das wirklich nötig? Schließlich konnte ich doch unmöglich von hier fliehen, und das wollte ich auch gar nicht.
Außerdem sollten diese Männer uns doch dienen, oder?
„Ich kann selbst laufen“, protestierte ich.
Anstatt mir zu antworten, zischte erneut Feuer in der Nähe meines Gesichts und versengte meinen Mund. Die intensive Hitze und der Schmerz zwangen mich zurückzuweichen und einen Schmerzensschrei zu unterdrücken.
Ich blickte auf und sah Alistairs kalte Augen auf mich gerichtet. Ich wandte schnell meinen Blick ab, da ich wusste, dass er mir keine Gnade gewähren würde.
Ich hielt den Mund, da mir klar war, dass Sprechen nur noch mehr Schmerzen bringen würde.
Ja, es war Zeit, das jetzt zu akzeptieren.
Von nun an würde ich nicht mehr wie ein normaler Mensch behandelt werden, sondern wie ein Verbrecher, der bestraft werden musste.
Zumindest bis ich meinen Namen reinwaschen konnte, war das nicht unmöglich. Wenn ich Leute auf meine Seite ziehen konnte, wenn ich mit ihnen reden und ihnen zumindest meine Situation erklären konnte, würden sie mir vielleicht glauben.
Es wird zwar schwer werden, aber sie sind meine Familie.
Okay, lass uns erst mal still sein. Wenn die Zeit gekommen ist, können wir reden. Hier ist nicht der richtige Ort dafür.
„Beweg dich.“
Die Ritter zerrten mich mit eisernem Griff vorwärts. Jeder Schritt war eine Qual, mein Körper war noch schwach und zitterte von der Tortur.
Doch kurz bevor wir den Ort verließen, traf mein Blick den der Frau in der anderen Zelle.
Elara.
Ihre klaren blauen Augen waren jetzt rot, wahrscheinlich von den Tränen, die sie vergossen hatte.
Doch als sich unsere Blicke trafen, veränderte sich ihr Blick. Da war ein Funkeln. Ein Funkeln, das ich gerade in den Augen einer anderen Person gesehen hatte.
Das Funkeln des Hasses.
Es war ein roher, brennender Hass, der den Nebel meiner eigenen Verwirrung und meines Schmerzes durchdrang. Elaras Blick war durchdringend, ihre Augen fixierten meine mit einer Intensität, die keinen Raum für Missverständnisse ließ.
Sie hasste mich.
„Richtig …“
Nicht, dass es jetzt noch eine Rolle spielte, da ich nichts daran ändern konnte.
–KNAR!
Die Tür schloss sich wieder, als wir den Arrestraum oder was auch immer das war, verließen.
Der Flur außerhalb der Zelle war schwach beleuchtet, die Wände schienen sich um mich herum zu schließen, als wollten sie die Hoffnungslosigkeit meiner Lage unterstreichen.
Wir gelangten in einen größeren, prächtigereren Flur, wo das Licht heller und bedrückender war. Ich konnte das Murmeln der anderen hören und spürte ihre Blicke auf mir, die mich verurteilten.
Die Last ihrer Verachtung lastete schwer auf mir, und ich bemühte mich, den Kopf hochzuhalten, um einen Anschein von Würde zu wahren.
Die Ritter führten mich nach draußen, wo eine Kutsche wartete. Aber statt hineingesetzt zu werden, wurde ich grob behandelt und in den Gepäckraum geworfen.
Der Boden war rau, und jede Unebenheit und jeder Ruck der Kutsche wurde durch die unbequeme Fahrt noch verstärkt.
Ich lag da, das raue Holz bohrte sich in meinen Rücken, jede Bewegung verursachte mir noch mehr Unbehagen. Die Realität meiner Situation war hart und gnadenlos.
Ich war ein Gefangener, ein Verbrecher in den Augen meiner Familie und aller um mich herum.
Aber trotzdem.
Wenn ich meinen Namen reinwaschen könnte.
Nein, ich musste es tun.
Denn das war der einzige Weg.
Da Lucavion in dem Roman nicht erwähnt wurde, stand es mir frei, mein Schicksal selbst zu bestimmen.
Oder wurde er doch erwähnt?
Ich konnte mich nicht erinnern.
Und ich war müde.
„Es ist doch okay, wenn ich ein bisschen schlafe, oder?“
Nun, es gab sowieso niemanden, der diese Frage beantworten konnte, also schloss ich einfach die Augen.
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Ich bin offen für jede Kritik; ihr könnt gerne kommentieren, was ihr gerne in der Geschichte sehen würdet.