Bruce.
In dem Moment, als dieser Name in meinem Kopf auftauchte, kamen auch die Erinnerungen zurück. Es war, als hätte sich eine Schleuse geöffnet und alle Details meines Lebens kamen mit erstaunlicher Klarheit zurück.
Ich war Bruce, ein Highschool-Schüler, der es liebte, Webromane zu lesen. Ich war das älteste Kind in meiner Familie und hatte zwei Schwestern, die meine Geduld und Belastbarkeit ständig auf die Probe stellten.
Die Jüngere, Maria, war noch süß und unschuldig und sah mich immer mit ihren großen, neugierigen Augen an.
Aber die Ältere, Evelyn, hatte sich mit vierzehn in eine sarkastische, bissige Version ihrer selbst verwandelt. Ich vermisste die Zeit, als sie weniger nervig und mehr eine Freundin war.
Erinnerungen an nächtliche Lesesessions kamen zurück – wie ich im Bett lag, mein Handy in der Hand, und Kapitel um Kapitel meiner Lieblingswebromane verschlang.
Diese Geschichten waren meine Flucht, mein Zufluchtsort vor dem langweiligen Alltag in der Schule und den familiären Verpflichtungen. Ich konnte noch immer die Spannung spüren, wenn ich eine besonders spannende Szene las, wie mein Herz schneller schlug und mein Kopf vor Aufregung brummte.
Ich erinnerte mich an die Morgen, an denen ich groggy aufwachte, weil ich zu lange gelesen hatte. An den müden, wissenden Blick meiner Mutter, als sie mir das Frühstück reichte und über meine verschlafenen Augen den Kopf schüttelte. An den eiligen Weg zur Schule, die Kopfhörer in den Ohren, um die neueste Folge meines Lieblings-Webroman-Podcasts zu hören.
Als Ältester hatte ich meine eigenen Herausforderungen und Verantwortlichkeiten. Von mir wurde erwartet, dass ich mit gutem Beispiel voranging und Verantwortung übernahm.
Aber manchmal wollte ich einfach nur in meine eigene Welt flüchten, die Erwartungen vergessen und einfach nur Bruce sein – der Typ, der Geschichten liebte, sich in fiktiven Welten verlor und Trost in den Seiten eines Webromans fand.
Ich erinnerte mich an einen bestimmten Moment mit der Ältesten.
„Evelyn“, murmelte ich, die Erinnerung an ihr selbstgefälliges Gesicht noch frisch in meinem Kopf.
Sie wusste immer, wie sie mich auf die Palme bringen konnte. „Du hältst dich für so schlau, oder?“
„Was war das, lieber Bruder? Hast du etwas gesagt?“
„Nichts. Ich denke nur nach.“
„Worüber?“
„Darüber, wie es früher war“, sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihr. „Bevor du zu Miss Sarkasmus geworden bist.“
Evelyns Grinsen verschwand ein wenig und machte einem leicht überraschten Ausdruck Platz. „So sehr habe ich mich nicht verändert“, sagte sie, aber in ihrer Stimme schwang ein Hauch von Unsicherheit mit.
„Doch, hast du“, erwiderte ich, ohne gemein zu sein. „Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Das hält die Dinge interessant, denke ich.“
Sie antwortete nicht sofort, sondern starrte mich nur einen Moment lang an, bevor sie sich wieder ihrem Handy zuwandte. Ich merkte, dass sie nachdachte, vielleicht sogar über das, was ich gesagt hatte.
Es war einer der seltenen Momente, in denen wir uns zu Hause eine Stunde lang unterhielten, da die Atmosphäre nicht immer besonders gut war.
Und dann fiel mir noch eine andere Erinnerung ein.
Eine Erinnerung an Maria, die Kleinste und Niedlichste in unserer Familie.
„Brudi, schau mal! Ich habe ein Bild von unserer Familie gemalt!“
Ich warf einen Blick auf das Bild, das sie hochhielt, eine farbenfrohe, kindliche Darstellung unserer Familie. Da waren wir, Strichmännchen mit einem breiten Lächeln, die sich an den Händen hielten. Es war einfach, aber es rührte etwas tief in mir. Trotz der Frustrationen und des Sarkasmus war dies meine Familie. Dies waren die Menschen, die mir am wichtigsten waren.
„Das ist toll, Maria“, sagte ich und lächelte sie an. „Das hast du super gemacht.“
„Ehehehe …“
Als ich das unschuldige Lächeln auf ihrem Gesicht sah, musste ich lächeln. Es war ein Lächeln, das ich beschützen wollte.
In diesem Moment ertönte eine scharfe, befehlende Stimme von der Seite. Es war die Stimme einer mürrischen Frau, unserer Mutter.
„Maria, hör auf, Zeit zu verschwenden, und geh zurück an deine Hausaufgaben. Du musst noch deine täglichen Hausaufgaben fertig machen“, befahl sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Marias Gesicht verzog sich, und sie sah aus, als wollte sie protestieren. Aber ich sah, wie sie leicht zitterte, weil sie wusste, dass Widerstand zwecklos war. Widerwillig legte sie ihre Zeichnung beiseite und schlurfte in ihr Zimmer, wobei sie mir einen letzten traurigen Blick zuwarf.
Bevor ich etwas sagen konnte, um sie zu trösten, richtete sich die Aufmerksamkeit meiner Mutter auf mich. „Bruce, dein Fechtlehrer ist da. Lass ihn nicht warten.“
Ich seufzte innerlich. Es gab kein Entkommen aus diesem endlosen Kreislauf aus Erwartungen und Pflichten.
Ich wusste, was von mir erwartet wurde – ich musste der Beste sein und durfte niemals versagen. Und Fechten war nur ein weiterer Teil davon.
„Ja, Mama“, antwortete ich mit fester Stimme. Ich durfte ihr kein Zögern oder Widerwillen zeigen.
Denn ich hatte bereits gelernt, was passieren würde, wenn ich das tat. Ich wusste bereits, dass der perfekte Sohn niemals schwanken würde; derjenige, der die Wut abbekommen würde, wäre nicht ich.
Weil sie es sich nicht leisten können, jemanden wie mich zu verlieren, das Aushängeschild der Familie.
Als ich von meinem Platz aufstand, warf ich einen Blick auf Evelyn. Sie war immer noch in ihr Handy vertieft und tat so, als hätte sie nichts mitbekommen. Aber ich wusste, dass sie jedes Wort gehört hatte.
Ich wusste schon, warum sie so war, warum sie immer mit ihrem Handy beschäftigt war.
Kinder, die diesen Druck aushalten können, würden aufgeben.
Sie würden sowohl ihre Lebensmotivation als auch ihr Verlangen nach der Aufmerksamkeit ihrer Eltern verlieren.
Evelyn war nicht immer so. Früher war sie ruhig und gehorsam und bemühte sich stets, die hohen Erwartungen unserer Eltern zu erfüllen. Aber dann kam ein Moment, in dem sie nicht mehr mithalten konnte. Der Druck wurde zu groß und sie brach zusammen. Sie begann, sich sorglos und gleichgültig zu verhalten, um ihren Schmerz zu verbergen.
Ich wusste aber, wie sehr sie in den Nächten geweint hatte, als sie dachte, niemand könne sie hören.
Und jetzt war sie so – distanziert, sarkastisch und scheinbar gleichgültig. Es war wirklich herzzerreißend, sie so verändert zu sehen, das Leuchten in ihren Augen erlöschen zu sehen.
Mit schwerem Herzen ging ich zur Haustür, wo mein Fechtlehrer wartete. Meister Alfred.
Alfred hatte keinen offiziellen Titel „Meister“, aber ich nannte ihn gerne so. Er hatte mir viel beigebracht, nicht nur das Fechten, sondern auch etwas über das Leben und Durchhaltevermögen. Er war der Grund, warum ich noch die Kraft fand, weiterzumachen.
„Bist du bereit, Bruce?“, fragte er mit seiner gewohnt ruhigen, festen Stimme.
„Ja, Meister Alfred“, antwortete ich und fühlte mich durch die Routine und seine vertraute Gegenwart irgendwie beruhigt.
Wir gingen zum Übungsplatz im Hinterhof, wo die Trainingsgeräte bereits aufgestellt waren. Meister Alfred begann mit den üblichen Übungen, seine scharfen Augen erkannten jeden Fehler, jedes Zögern. Aber er hatte auch eine Art, mich gerade so weit zu pushen, dass ich mich verbessern konnte, ohne zu zerbrechen.
„Bruce, weißt du was?“, fragte Meister Alfred plötzlich, während wir trainierten.
„Was denn, Meister?“, antwortete ich und konzentrierte mich auf meine Haltung.
„Wenn du im Mittelalter gelebt hättest, wärst du einer der stärksten Krieger gewesen. Deine Fähigkeiten mit dem Schwert sind einfach so gut.“
Als ich das hörte, erinnerte ich mich an ein bestimmtes Gefühl.
Das Schwert in meiner Hand schien immer eine Verlängerung meines Körpers zu sein, als wäre es ein Teil von mir. Immer wenn ich die Waffe hielt, fühlte ich mich verändert.
Es war, als wäre ich dazu geboren, sie zu führen, als wäre ich in einem anderen Leben vielleicht ein Ritter oder Krieger gewesen.
Aber dann holte mich die Realität ein. Welche Bedeutung hatte das Schwert in der modernen Welt? Selbst wenn ich Weltmeister im Fechten wäre, würde das nichts daran ändern, dass die Welt solche Fähigkeiten nicht mehr schätzt. In einer Welt, die von Technologie und moderner Kriegsführung dominiert wird, gab es keinen Platz für Schwertkämpfer.
Meister Alfred schien meine Gedanken zu erahnen. „Die Welt mag sich verändert haben, Bruce, aber die Disziplin, die Konzentration und die Kraft, die du durch das Fechten erlangst, sind zeitlos. Sie formen dich nicht nur als Fechter, sondern als Mensch.“
Ich nickte und versuchte, seine Worte zu verinnerlichen. „Ich verstehe, Meister. Es fühlt sich nur manchmal … sinnlos an.“
„Nichts, was du mit Hingabe und Leidenschaft tust, ist jemals sinnlos“, sagte er bestimmt. „Du kämpfst vielleicht nicht gegen Drachen oder verteidigst Burgen, aber du baust etwas ebenso Wichtiges auf – Charakter, Widerstandsfähigkeit.“
„Und Bruce, vielleicht hast du es inzwischen schon erkannt. Egal wie, egal was passiert. Vergiss niemals, was richtig ist, und weiche niemals vom Weg der Gerechtigkeit ab.
Auch wenn du es nicht willst, tu das Richtige. Das macht einen wahren Krieger aus.“
Plötzlich kehrte ich in die reale Welt zurück, und als alle Erinnerungen zurückkamen, wurde mir klar, was passiert war.
„Ich bin Bruce. Ein Highschool-Schüler, süchtig nach Webromanen und Weltmeister im Fechten. Das bin ich.“
Gerade als ich mich daran erinnerte, wer ich in meinem Innersten war, sah ich etwas.
Einen leuchtenden Stern.
Und dann hörte ich die Stimme meines Meisters.
„Das ist … seltsam. Du hast bereits deinen ersten Stern gebildet. Herzlichen Glückwunsch, dass du ein Erwachter der Stufe 1 geworden bist. Von nun an bist du ein echter Erwachter.“
Ich öffnete meine Augen und verspürte ein tiefes Gefühl der Klarheit und des Verständnisses. Die Erinnerungen an mein vergangenes Leben, die gelernten Lektionen und die gemachten Erfahrungen – all das war in diesem Moment zusammenflossen und hatte mich zu dieser neu entdeckten Kraft geführt.
Ich war nicht mehr nur Lucavion. Ich war gleichzeitig auch Bruce.
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