Der Hof war still, bis auf das keuchende Atmen der gebrochenen Ältesten und das leise Summen von Lucavions Sternenlichtklinge. Seine Worte hallten in Jayans Kopf wider, ein grausamer Refrain, dem sie nicht entkommen konnte.
„Ratte Jayan …“
Der Name hallte in ihr wie ein Glockenschlag, jede Wiederholung ein Hammerschlag auf ihre ohnehin schon zerbrochene Seele. Ratte Jayan. Eine Kreatur, die in der Dunkelheit herumschlich.
Ein Verräter. Ein Feigling. Die Worte schienen sich um sie zu winden und sie in einer unerschütterlichen Wahrheit zu fesseln.
Ihr Blick blieb auf Lucavion geheftet, der wie ein unerbittlicher Schatten vor dem Chaos um sie herum stand. Seine dunklen Augen durchbohrten sie bis ins Mark, sein Gesichtsausdruck verriet kein Mitleid, kein Mitgefühl. Er war der Vorbote des Urteils, das sie verdient hatte – ihre Entscheidungen hatten ihn hierher gebracht, ihre Sünden hatten ihn herbeigerufen.
Und dann sah sie es.
Eine flüchtige Bewegung – ein weißer Blitz – durchschnitten die rauchgeschwängerte Luft. Genieße exklusive Inhalte von Empire
Was ist das?
Jayans glasige Augen folgten der Gestalt, die anmutig auf Lucavions Schultern sprang, ihre Bewegungen fließend und schwerelos wie schwebender Schnee.
Eine kleine, zarte Gestalt ließ sich dort nieder – eine Katze, deren makellos weißes Fell schwach schimmerte, unberührt von dem Blut und Staub, der den Boden bedeckte.
Aber es waren die Augen, die sie beeindruckten.
Golden. Strahlend und unnachgiebig. Augen, die sie kannte. Augen, die sie aufwachsen gesehen hatten, die sie geführt hatten, die an sie geglaubt hatten.
„Ah …“, Jayan stockte der Atem, ihre zitternde Hand hob sich leicht, als wolle sie nach der Gestalt vor ihr greifen. Tränen verschleierten ihr die Sicht, ihre Lippen öffneten sich zu einem zitternden Flüstern.
„Meister …“
Die Katze neigte leicht den Kopf, ihre goldenen Augen ruhten auf ihr mit einem Ausdruck, der alles zu sehen schien – all ihre Triumphe, ihre Niederlagen, ihre Sünden.
Sie war es.
Vitaliara.
Ihre Meisterin. Die Wächterin des Lebens. Das Wesen, das sie verraten hatte.
Eine seltsame Stille überkam Jayan und übertönte den Schmerz in ihren Gliedern und das Blut, das sich um ihre Knie sammelte. Es war, als wäre die Welt verschwunden und nur sie und das sanfte Leuchten dieser goldenen Augen blieben zurück.
„Warum ist sie hier?“, flüsterte der Gedanke in ihrem Kopf. Und doch, als sie Vitaliara anstarrte – die Gestalt ihrer Meisterin, die so mühelos auf Lucavions Schulter thronte –, empfand Jayan keine Wut. Keine Verbitterung. Nur Klarheit.
Sie war es.
Diejenige, der sie den Rücken gekehrt hatte. Diejenige, die sie für Macht eingetauscht hatte, die ihr niemals gehören würde.
Vitaliaras Blick enthielt keine Bosheit, keine Rache. Nur stilles Verständnis. Und in diesem Moment verstand Jayan etwas, das sie sich nicht eingestehen wollte.
Sie hatte sich das selbst angetan.
Ihr Verrat. Ihr Ehrgeiz. Ihre Entscheidung, nach mehr zu streben, als sie verdiente.
„Dieses Recht hast du an dem Tag verloren, als du sie verraten hast“, hallte Lucavions Stimme in ihrem Kopf wider, seine Worte trugen nun das Gewicht einer endgültigen Wahrheit.
Jayans Lippen zitterten. Langsam, schmerzhaft huschte ein Lächeln über ihr blutverschmiertes Gesicht – zerbrechlich und gebrochen, doch seltsam gelassen.
„Es tut mir leid“, flüsterte sie.
Das war alles, was sie sagen konnte. Die einzigen Worte, die ihr noch blieben.
Ihre Kraft verließ sie, als würde sie vom Wind davongetragen. Ihre Knie gaben nach, ihr Körper sackte nach vorne.
Sie fiel auf den blutgetränkten Boden, ihr silbergestreiftes Haar fiel wie eine verwelkte Blüte um sie herum.
Das Lächeln blieb auf ihrem Gesicht, als ihre Sicht sich verdunkelte, das goldene Licht von Vitaliara’s Augen war das Letzte, was sie sah.
Und als die Dunkelheit sie ganz verschluckte, empfand Jayan keine Angst. Keine Bitterkeit. Nur ein seltsames Gefühl des Friedens – eines, das aus der Klarheit geboren war, die sie sich so lange verweigert hatte.
********
Lucavion stand über Jayans leblosem Körper, sein sternenbeleuchtetes Schwert summte leise, als würde sogar die Waffe um die Stille trauern, die sie hinterlassen hatte. Blut sammelte sich um sie herum, dunkel und glänzend unter den zerbrochenen Überresten des Himmels über dem Hof. Und in diesem Moment – inmitten der Ruinen, des Verrats und der Geister längst vergangener Entscheidungen – gab es nichts als Stille.
An seiner Seite, mit zarter Anmut auf seiner Schulter sitzend, beobachtete Vitaliara Jayans Körper mit ihren goldenen, unergründlichen Augen. Ihr Blick, der wie geschmolzenes Sonnenlicht schimmerte, schien die leere Hülle, zu der Jayan geworden war, zu durchdringen und nach etwas jenseits der Welt der Sterblichen zu greifen. Und dann sprach sie.
„Warum?“
Ihre Stimme war leise, das einzige Wort enthielt weder Wut noch Urteil – nur eine stille, schmerzende Verwirrung. Es hallte nach, als könnte es eine Antwort aus der Leiche selbst hervorlocken. Und doch spürte Lucavion, dass die Frage nicht nur an den Gefallenen gerichtet war.
Seine dunklen Augen huschten zu Vitaliara, sein Gesichtsausdruck war unlesbar, doch unter der Oberfläche brodelte etwas viel Turbulenteres. Etwas Zerbrochenes. Warum?
„In der Tat.“ Lucavions Stimme erklang wie ein leises Murmeln, scharf, aber leise, und durchbrach die bedrückende Stille. „Ich frage mich, warum.“
Sein Blick fiel wieder auf Jayans zusammengesunkene Gestalt und nahm die zerbrechlichen Züge der Frau wahr, die in ihrem Ehrgeiz alles zerstört hatte, woran sie einst geglaubt hatte. Blut klebte in ihrem silbergestreuten Haar, aber ihr Gesicht … ihr Gesicht, obwohl es mit Schmutz und Tränen verschmiert war, wirkte in seiner Endgültigkeit fast gelassen.
„Dumm“, dachte Lucavion, aber noch während das Wort ihm durch den Kopf ging, blieb es ihm unbehaglich im Hals stecken. Ist es dumm, zu träumen? Mehr zu wollen, als die Welt zu bieten hat?
Er hockte sich neben sie, der Saum seines Umhangs streifte die blutroten Steine. Seine Finger streckten sich aus und blieben kurz vor ihrem regungslosen Körper stehen. Ein seltsamer Schmerz durchzuckte seine Brust – einer, den er nicht benennen konnte.
„Sie hat ihren Meister verraten. Dich verraten.“ Lucavions Stimme war ruhig, aber sie hatte einen leichten Unterton, ein subtiles Kratzen, das seine unausgesprochenen Gedanken verriet. „Und doch … war sie wirklich so anders als wir anderen?“
Vitaliara neigte den Kopf und kniff ihre goldenen Augen leicht zusammen, als würde sie Lucavions Worte durchforsten. „Das erklärt nicht, warum“, murmelte sie mit einer Stimme, die eine Tiefe hatte, die weit über die Welt der Sterblichen hinausging. „Warum sollte sie ihr Herz, ihre Loyalität für etwas eintauschen, das ihr nie versprochen wurde? Glaubte sie, dass es sie befreien würde?“
Lucavions Mund verzog sich zu einem Lächeln, das jedoch nie ganz seine Augen erreichte. „Wir sind alle Gefangene von etwas“, antwortete er leise und ließ seinen Blick auf Jayans geballten Fäusten ruhen, als ob der blutbefleckte Boden noch immer die Geheimnisse ihrer Verzweiflung barg. „Ketten können viele Formen annehmen, Vitaliara – Armut, Stolz, Träume, die zu groß sind für die Hände, die sie tragen.“
Er atmete langsam aus, der Atem entwich ihm wie ein Hauch von Rauch. „Gier … das ist in der Tat ein gefährliches Gefühl.“
Dachte er innerlich.
„Gier und Stolz …“
Lucavion schüttelte langsam den Kopf, Strähnen seines dunklen Haares fielen herab und verdeckten seine scharfen Gesichtszüge. Das leise Summen der Sternenlichtklinge an seiner Seite verstummte, als er seinen Griff lockerte, und ihr Licht verblasste wie ein Stern, der hinter dem Horizont verschwindet.
Sein Gesichtsausdruck war unlesbar – weder mitleidig noch grausam –, lediglich müde, als ob das Gewicht der Erkenntnis seinen Preis hatte.
„Gier und Stolz …“, murmelte er zu niemand Bestimmtem, seine Stimme hallte wie etwas Endgültiges nach. „Sie treiben uns voran, lassen uns nach mehr gieren … bis wir unter ihrer Last begraben sind.“
Lucavion richtete sich zu seiner vollen Größe auf, sein Umhang schwang dabei in einem leisen Bogen um ihn herum. Sein Schatten streckte sich über die blutgetränkten Steine und griff nach Jayan wie ein Gespenst, das gekommen war, um das Wenige zu holen, das noch übrig war. Er sah ein letztes Mal auf sie herab, und etwas Flüchtiges huschte über seinen Blick – vielleicht Anerkennung. Oder etwas Sanfteres. Verständnis? Nein, nicht ganz.
Vitaliaras goldene Augen blieben unverwandt auf ihn gerichtet, ohne zu blinzeln. Ihr Fell schimmerte schwach im trüben Licht, und das Gewicht ihrer Stille war schwerer als Worte. Lucavion wusste, dass sie als jemand, der Imperien entstehen und untergehen gesehen hatte, mit Verrat, Ehrgeiz und Verlust vertraut war.
Und doch war da etwas anders in der Art, wie sie Jayan ansah – etwas Weicheres in der Neigung ihres Kopfes, in ihrem schmalen Blick. Vielleicht eine leise Klage um eine sterbliche Seele, die es gewagt hatte, an etwas zu glauben, das sie niemals wirklich besitzen konnte.
„Menschen“, sagte sie schließlich mit leiser, hallender Stimme, „bringen immer etwas Neues vor meine Augen. Egal, wie viele ich schon aufsteigen und fallen gesehen habe, sie bleiben … überraschend.“
Lucavion neigte den Kopf zu ihr, ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, das jedoch keine Wärme ausstrahlte. „Überraschend … oder anstrengend?“
Vitaliara schnaubte leise, ein Geräusch zwischen Belustigung und Resignation. „Beides.“
Lucavions Mundwinkel zuckten erneut, aber das verschwand so schnell, wie es gekommen war. Er ließ seinen Blick über den Hof schweifen, dessen einst makellose Mauern nun mit dem Blut von Jayans zerbrochenen Ambitionen besudelt waren. Das schwache Flackern der Fackeln warf Schatten auf die gefallenen Körper ihrer Getreuen, Krieger, die für Versprechen gekämpft hatten und gestorben waren, die niemals erfüllt werden würden.
„Ich denke“, sagte Lucavion, und seine Stimme durchbrach die Stille, „jetzt, da wir diese Angelegenheit erledigt haben, ist es Zeit für die eigentliche Arbeit.“
*******
„Was … Was ist hier passiert?“
In seinem ganzen Leben hätte er nie erwartet, diese Szene vor seinen Augen zu sehen.
„Das …“
Weder Manco noch Shelia …
Sie waren völlig sprachlos …
Mit den Leichen und all den anderen Dingen, die um sie herum verstreut lagen …
Es war eine Szene wie nach einem Massaker.
Es war tatsächlich ein blutiger Fluss.