Während des ganzen Halbfinales hat Valeria von der Tribüne aus zugeschaut, ihr Herz schlug ruhig, ihr Geist war klar. Sie hatte ihren eigenen Kampf im Halbfinale schon hinter sich und obwohl sie gegen Varen verloren hatte, war sie überraschend gelassen. Es war keine bittere Niederlage – es war ein Duell, in dem sie alles gegeben hatte, jede Unze Kraft und Disziplin, die sie über Jahre hinweg aufgebaut hatte. Ihre Niederlage war nicht auf Arroganz oder Fehleinschätzung zurückzuführen, sondern darauf, dass ihr Gegner einfach stärker war.
Es war eine Erinnerung daran, wie weit sie noch zu gehen hatte, eine demütigende, aber auch belebende Erfahrung.
Jetzt konzentrierte sie sich ganz auf Lucavion. Er stand Lira in der Arena gegenüber, seine Haltung entspannt, sein Schwert fast lässig gehalten. Sein Grinsen war ärgerlich – so abweisend, so selbstbewusst. Und doch konnte Valeria nicht wegsehen.
Vom ersten Schlagabtausch an war klar, dass dies nicht nur ein Kampf mit Schwertern war. Es war ein Zusammenprall von Ideologien, von Persönlichkeiten. Lira, wild und verzweifelt, kämpfte mit der überwältigenden Kraft der Techniken ihrer Sekte. Ihre Schläge waren kraftvoll, ihre Bewegungen kalkuliert, aber sie hatten etwas Hohls an sich. Valeria erkannte es sofort – Lira kämpfte, um etwas zu beweisen, nicht sich selbst, sondern der Welt.
Jeder Hieb ihrer Klinge war voller Frustration, ihre Techniken versuchten, Lucavions Worte zu übertönen.
Lucavion hingegen war still, seine Bewegungen waren bedächtig. Er kämpfte nicht, um seine Stärke zu beweisen, sondern um Wahrheiten aufzudecken. Jede seiner Handlungen schien darauf ausgerichtet zu sein, Lira aus der Fassung zu bringen und nicht nur die Schwächen ihrer Technik, sondern auch die Risse in ihrem Stolz aufzudecken.
Valerias Finger zuckten, als sie sah, wie Lucavion einen besonders brutalen Schlag abwehrte – einen, den sie als die Spezialtechnik der Cloud Heavens Sect erkannte, den Cyclone Rend. Er wich ihm mit irritierender Leichtigkeit aus und schlug mit seinem Estoc zu, um den Fluss der Technik zu unterbrechen. Es war, als würde man einem Künstler dabei zusehen, wie er ein schlecht gemaltes Bild Pinselstrich für Pinselstrich zerlegt.
Während der Kampf weiterging, musste Valeria sich unweigerlich mit den beiden Kämpfern vergleichen. Noch vor wenigen Stunden hatte sie in dieser Arena gestanden, gegen einen Gegner, dessen Stärke sie bei weitem übertraf. Aber sie hatte ihre Fassung nicht verloren, war nicht der Verzweiflung erlegen. Ihre Niederlage war klar gewesen, und sie war mit hoch erhobenem Kopf davon gegangen.
Lira hingegen zerbrach vor ihren Augen, ihr Stolz schwand mit jeder Verspottung, jedem verfehlten Schlag.
Und dann war da noch Lucavion. Valeria presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, als sie beobachtete, wie er mit Lira spielte – nicht körperlich, sondern mental. Er schwang Worte ebenso geschickt wie sein Schwert, jedes einzelne traf sein Ziel und bohrte sich in Liras Unsicherheiten.
Es war eine Art Kampf, den Valeria nicht gewohnt war, einer, bei dem es genauso sehr darauf ankam, die Gedanken des Gegners zu verstehen wie seine Techniken.
„Er kämpft nicht nur gegen sie“, wusste Valeria. „Er entlarvt sie.“
Er entlarvte nicht nur Lira. Seine Worte trafen tiefer und trafen den Kern der Cloud Heavens Sect. Die Menge murmelte, und mit jeder Enthüllung, die er machte, wurden die Flüstern lauter. Valeria sah sich um und bemerkte die Unruhe in den Gesichtern der Zuschauer. Er tat, was niemand wagte – er forderte nicht nur einen Kämpfer heraus, sondern eine Institution.
Ein Teil von Valeria bewunderte ihn dafür. Sie hatte immer die Regeln befolgt, die Machtstrukturen respektiert und die Prinzipien hochgehalten, die ihr als Ritterin vermittelt worden waren. Aber Lucavion … ihm waren Regeln egal. Er kämpfte für ein Ziel, das über den persönlichen Sieg hinausging, riss Fassaden ein und zwang die Menschen, sich unangenehmen Wahrheiten zu stellen.
Ein anderer Teil von ihr lehnte seine Methoden jedoch ab. Er war zu leichtsinnig, zu selbstgefällig. Als Valeria ihn beobachtete, empfand sie eine seltsame Mischung aus Respekt und Verärgerung. Sein Selbstvertrauen grenzte an Arroganz, und doch … war er effektiv. Jeder Schlag, jedes Wort diente einem Zweck, und als der Kampf zu Ende ging, war Lira nur noch ein Schatten der Kämpferin, die sie zu Beginn gewesen war.
Als Lucavion schließlich den entscheidenden Schlag landete, wurde es still in der Arena. Lira kniete auf dem Boden, ihre Klinge glitt ihr aus der Hand, ihre Aura flackerte wie eine sterbende Flamme. Der Kampf war vorbei, aber sein Nachhall würde noch lange nachwirken. Das Flüstern in der Menge war zu einem Tumult geworden, und selbst von ihrem Platz aus konnte Valeria die Veränderung in der Luft spüren.
Lucavion drehte sich um, sein Grinsen fest aufgesetzt, aber etwas in seinen Augen ließ Valeria innehalten. War es Zufriedenheit? Nein … es war etwas Tieferes. Eine stille, brennende Entschlossenheit, die über den Kampf, über das Turnier hinausging.
Dann saß sie auf der Tribüne, die Arme verschränkt, den Blick auf die Arena gerichtet, auch als Lucavion aus ihrem Blickfeld verschwand. Der Jubel der Menge schien weit weg, gedämpft von den Gedanken, die in ihrem Kopf herumschwirrten. Sie ging seine Worte noch einmal durch, analysierte sie und versuchte, Übertreibungen von der Wahrheit zu trennen.
Dein nächstes Kapitel findest du auf M-V-L
„Lebende Öfen“.
Der Satz hatte sie echt getroffen, und er lastete schwer auf ihrer Brust. Sie war in einer Welt voller Disziplin und Ehre aufgewachsen, in der man sich Stärke durch harte Arbeit und Opfer verdienen musste. Der Gedanke, dass die Cloud Heavens Sect, die im ganzen Land verehrt und gefürchtet war, zu so was Grausamem fähig sein könnte, drehte ihr den Magen um.
Ihre Finger krallten sich in ihre Arme. War das wahr? Konnten sie wirklich zu solchen Gräueltaten fähig sein? Kinder, Waisen, die Vergessenen zu benutzen und sie zu Werkzeugen für ihre Kultivierung zu machen?
Je mehr sie darüber nachdachte, desto schwerer fiel es ihr, diesen Gedanken zu verdrängen.
Valerias Gedanken wanderten zurück zu den Sektenanhängern, denen sie während des Turniers begegnet war. Sie dachte an Lira – stolz, mächtig, aber innerlich leer. Irgendetwas an ihrer Ausstrahlung hatte Valeria immer beunruhigt, ein leichtes Ungleichgewicht, das sie nicht genau benennen konnte. War das das Ergebnis der Methoden der Sekte? Konnte es sein, dass Liras Stärke nicht ihre eigene war, sondern gestohlen, aus dem Leben Unschuldiger gerissen?
Und die Älteste Xue … Valeria hatte ihre Wut während des Kampfes gesehen, wie ihre Fassung unter Lucavions Sticheleien zerbrach. Das war nicht nur Wut. Es war Angst. Lucavions Anschuldigungen hatten einen Nerv getroffen, und Xues Verzweiflung, ihn zum Schweigen zu bringen, verlieh seinen Behauptungen nur noch mehr Gewicht.
„Er hat das geplant“, flüsterte Valeria leise und erinnerte sich an die Präzision, mit der Lucavion seine Worte ausgesprochen hatte. Er hatte nicht aus Wut oder Leichtsinn gesprochen. Jeder Satz war wie eine Klinge gewesen, sorgfältig darauf ausgerichtet, die sorgfältig konstruierte Fassade der Sekte zu durchschneiden.
Aber waren seine Worte wahr? Oder war er einfach nur ein Meister der Manipulation, der Lügen sponn, um Chaos zu säen?
Valerias Gedanken waren ein Strudel aus Konflikten, während sie auf der Tribüne saß und der Lärm der Menge in den Hintergrund trat. Sie versuchte, den Sturm der Gefühle in ihr zu analysieren, aber die Teile passten nicht zusammen. Lucavions Worte, seine Handlungen – sie waren kalkuliert, bewusst. Aber war er wirklich ein Lügner? Konnte jemand mit einem so scharfen Verstand und einer so unerschütterlichen Selbstsicherheit so präzise, so vernichtende Lügen erfinden?
Ihr Blick blieb auf die nun leere Arena gerichtet. Der Name „Lucavion“ hallte in ihrem Kopf nach und brachte eine Vielzahl von Eindrücken mit sich – Frustration, Neugier, Respekt und etwas, das sie nicht genau benennen konnte. Er war arrogant, rücksichtslos, manchmal sogar ärgerlich. Doch hinter all dem verbarg sich eine seltsame Aufrichtigkeit, eine Überzeugung, die sie zögern ließ, ihn völlig abzuschreiben.
Ein Lügner?
Die Frage blieb schwer und ungelöst in der Luft hängen.
Valeria ballte die Fäuste gegen ihre Arme, ihr Herz zog sich zusammen, als sie an ihn dachte. Er war immer so selbstsicher, so wahnsinnig ruhig. Wenn er wirklich ein Manipulator war, warum fühlten sich seine Handlungen dann weniger wie Täuschung an, sondern eher wie ein unerbittliches Streben nach der Wahrheit? Sie hasste es, an ihren Instinkten zu zweifeln, doch hier stand sie nun, verstrickt in Widersprüche.
„Warum fühlt es sich so an?“, flüsterte sie leise, ihre Stimme ging fast in dem Lärm der Menge unter. Es waren nicht nur seine Worte, die sie verunsicherten – es war der nagende Schmerz in ihrer Brust, das seltsame Ziehen, das sie verspürte, wenn ihre Gedanken zu ihm wanderten. Es war ärgerlich, verwirrend und unmöglich zu ignorieren.
Mit einem tiefen Atemzug stand Valeria von ihrem Platz auf. Sie konnte diese Ungewissheit nicht länger ertragen. Sie brauchte Antworten, musste ihn konfrontieren, um aus den Fragmenten ihrer verstreuten Gedanken die Wahrheit zusammenzusetzen. Mit Lucavion zu sprechen – über ihren Kampf, über seinen – schien ihr unvermeidlich. Vielleicht würde ihm zu sehen Klarheit in den Sturm bringen, der in ihr tobte.
Ihre Schritte waren fest, aber schnell, als sie von der Tribüne hinunterging, ihren Blick fest auf ihn gerichtet. In den Gängen unter der Arena herrschte reges Treiben – Bedienstete eilten hin und her, Stimmen hallten in gedämpftem Flüstern wider –, aber Valeria nahm nichts davon wahr. Ihr Fokus war ganz auf ein Ziel gerichtet, ihre Entschlossenheit unerschütterlich.
Als sie sich den Unterkünften der Teilnehmer näherte, fiel ihr eine Gestalt auf. Die Älteste Xue stürmte an ihr vorbei, ihre Roben wehten in der Kraft ihrer Bewegung. Valeria trat instinktiv zur Seite und hielt den Atem an, als sie das Gesicht der Ältesten sah – eine Maske aus kaum unterdrückter Wut. Xues Hände zitterten an ihren Seiten, ihre Aura knisterte leicht, als würde sie versuchen, den Sturm in ihrem Inneren zu bändigen.
Valeria blieb stehen und sah der Ältesten nach. Die Szene verstärkte ihr ungutes Gefühl nur noch. Lucavions Kampf hatte offensichtlich einen Nerv getroffen, seine Worte hatten nicht nur Lira getroffen, sondern die Grundfesten der Wolkenhimmel-Sekte selbst erschüttert. Und jetzt schien Xues Wut weniger wie gerechte Empörung, sondern eher wie die Verzweiflung einer Person, die in die Enge getrieben worden war.
„Aber gleichzeitig … was hat Älteste Xue hier gemacht? Das kann doch nicht sein?!
Valerias Gedanken rasten, während sie Älteste Xue nachschaute. Die Älteste bewegte sich unruhig, ihre Aura flackerte wild. Es war nicht nur Wut – es war etwas Tieferes, etwas Dunkleres. Verzweiflung vielleicht. Angst.
„Was hast du getan, Lucavion?“, dachte sie und spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog.
Ihre Fantasie schlug Purzelbäume und malte ihr die schlimmsten Szenarien aus. Sie sah Lucavion auf dem Boden liegen, Blut unter ihm, das verrückte Grinsen aus seinem Gesicht gewischt. Sie sah Älteste Xue über ihm stehen, ihr Schwert tropfte rot, ihre Aura erstickte die Luft um sie herum.
„Nein. Nein, nein, nein!“ Die Bilder brannten sich in ihr Gedächtnis ein, eines schlimmer als das andere.
Bevor sie es bemerkte, waren ihre Füße schon in Bewegung und trugen sie fast im Laufschritt zu den Unterkünften der Teilnehmer. Die Gänge verschwammen um sie herum, das Stimmengewirr und das Geräusch von Schritten verschwanden in den Hintergrund. Alles, was zählte, war, dorthin zu gelangen – zu ihm.
Als sie um eine Ecke bog, wäre sie fast mit Elder Kael zusammengestoßen. Der Älteste warf ihr einen scharfen Blick zu, sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Neugier und Misstrauen. Aber sie blieb nicht stehen. Sie nahm seine Anwesenheit kaum wahr, ihr Blick war unerschütterlich.
Kael runzelte die Stirn, aber er verfolgte sie nicht. Sie war schon weg, ihre Gestalt verschwand im Flur.
Die Luft wurde schwerer, als sie sich den Unterkünften der Teilnehmer näherte, und ein Schauer überkam sie, als hätte die Spannung im Gebäude ein Eigenleben entwickelt. Ihr Herz pochte, jeder Schlag erinnerte sie an die Dringlichkeit, die sie vorantrieb.
Als sie endlich die Tür zum Aufenthaltsraum erreichte, zögerte sie einen kurzen Moment. Ihre Hand schwebte über der Klinke, ihr Atem stockte. Sie wollte die Tür nicht öffnen – nicht, wenn ihre Vermutung richtig war. Aber sie musste es tun.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und drückte die Tür auf.
Der Anblick, der sich ihr bot, ließ ihr Herz aussetzen. Lucavion stand in der Mitte des Raumes, seine Haltung war entspannt, aber seine Kleidung war mit Blut befleckt. Sein Arm hing in einem unnatürlichen Winkel, sein Degen lag locker in seiner Hand.
Aber zumindest sah er lebendig aus.
„Haaah….“
Und das reichte ihr fürs Erste.