Mikhailis machte sich bereit, als er einen Schritt nach vorne machte. Jeder Schritt auf dem abgenutzten Stein schien lauter zu hallen, als er sollte. Die Luft zwischen Elowen und Estella fühlte sich dick an, eine stille Spannung, die mit jedem Schritt seine Brust enger schnürte. Rodions Datenströme flackerten hell in seinem Blickfeld und überschütteten ihn mit Überlagerungen von Mikroausdrücken im Gesicht, Herzfrequenzschwankungen und Emotionsabweichungsdiagrammen.
<Emotionaler Ausschlag erkannt. Gegenmaßnahmen werden eingeleitet. Wahrscheinlichkeit eines diplomatischen Zwischenfalls derzeit 68 % und steigend. Sofortiges Eingreifen oder Rückzug empfohlen.>
Sie wird definitiv etwas sagen, dachte Mikhailis und presste die Kiefer leicht aufeinander. Ich habe diesen Blick in ihren Augen schon gesehen. Oberflächlich ruhig, darunter brodelt es.
Sein Puls beschleunigte sich. Er spürte das schnelle Pochen in seiner Kehle, wie eine Trommel, die einen dringenden Alarm schlug. Ein Dutzend Szenarien gingen ihm durch den Kopf, eines schlimmer als das andere. War sie wütend? Hatte sie gemerkt, dass zwischen ihm und Estella etwas Unangemessenes passiert war? Hatte Estella versehentlich ihre … Beziehung verraten?
Er hielt inne und atmete scharf durch die Nase, während Panik in seinen Adern aufstieg.
Doch dann tat Elowen etwas völlig Unerwartetes. Sie schrie nicht, sie beschuldigte ihn nicht, sie warf ihm nicht einmal einen wütenden Blick zu. Stattdessen fixierte sie Estellas Gesicht mit intensivem Blick, ihr Atem stockte auf so subtile, aber unverkennbare Weise. Ihre Stimme war leise wie das leiseste Flüstern von Seide, die über Stein streicht.
„Unglaublich …“
Mikhailis erstarrte augenblicklich.
Die ganze Welt schien um ihn herum still zu stehen. Die Stimmen der Menge, das Rascheln der Blätter, alles verschwand in einem Hintergrundrauschen. Seine Gedanken drehten sich wie wild im Kreis.
Unglaublich was? Was meinte sie damit genau? Hatte Estella unser Geheimnis verraten? Hatte ich etwas in ihrem Zimmer liegen lassen? Nein, unmöglich – ich war vorsichtig … oder?
Seine Lippen öffneten sich, trocken und unfähig, Worte zu formen, Angst nagte an seinen Nerven. Er fühlte sich entblößt, gefangen unter Elowens durchdringendem goldenen Blick. Endlich wandte sie ihre Augen ihm zu, weit aufgerissen vor Erstaunen, Neugierde loderte in ihnen wie in dem Moment, in dem ein Gelehrter ein uraltes Geheimnis lüftet.
„Du hast mir nicht gesagt, dass du eine Kosmetikformel entwickelt hast“, sagte sie leise, wobei sich Ehrfurcht mit sanfter Vorwurfsvollheit vermischte. Ihr Ausdruck war einer, den er noch nie zuvor gesehen hatte – pure, echte Neugier. „Was ist das für ein Rouge? Dieser Farbton ist mit natürlichen Glimmerpigmenten unmöglich!“
Mikhailis blinzelte langsam, seine Verwirrung überwältigte für einen Moment seine Panik. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und fühlte sich bemerkenswert wie ein Fisch, der aus dem Wasser auf trockenes Land geworfen worden war.
Moment mal, Kosmetik? Das ist es, was so unglaublich ist?
„Das interessiert dich?“, brachte er schließlich mit belegter Stimme hervor.
Elowen hob elegant die Augenbrauen. Sie verschränkte ihre zarten Arme vor der Brust, und ein neckisches Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Ich bin immer noch eine Frau, Mikhailis.“
Sie neigte leicht den Kopf und ließ ihren Blick gekonnt von Estella zu ihm wandern. „Du dachtest, ich würde diese Konturierungstechnik nicht bemerken? Diese Highlight-Mischung? Das ist Pigmentarbeit auf alchemistischem Niveau – selbst bei den besten Handwerkern habe ich selten so subtile Übergänge gesehen.“
Hinter Elowen hustete Vyrelda leise in ihre Handfläche. Mikhailis bemerkte, dass die sonst so gelassene Miene der Hofberaterin kaum ein amüsiertes Lächeln verbergen konnte. Offensichtlich fand Vyrelda seinen verblüfften Gesichtsausdruck äußerst unterhaltsam.
Mikhailis wandte sich vorsichtig an Estella, immer noch völlig verwirrt von dieser unerwarteten Wendung.
Estella neigte anmutig den Kopf, ihre Bewegungen waren fließend und respektvoll. Ihre Stimme klang geübt gelassen, sanft und diplomatisch. „Meine Königin, ich entschuldige mich aufrichtig für diese Theatralik. Es war nie meine Absicht, einen Wettbewerb anzuzetteln – ich wollte lediglich die Raffinesse und Brillanz von Mikhailis‘ Entwurf hervorheben.“
Elowen kniff die Augen leicht zusammen und musterte Estella mit unlesbarem Gesichtsausdruck. Die Spannung schien wieder in die Luft zu steigen, doch dann überraschte Elowen alle erneut. Ihre Augen leuchteten vor echtem Interesse, als sie sich leicht vorbeugte und ein Hauch von mädchenhafter Neugierde ihre Gesichtszüge erhellte.
„Wo kann ich das kaufen?“, fragte sie.
Estella musste sich ein Lachen verkneifen. Ihre Hand bewegte sich geschmeidig und griff in den kleinen Seidenbeutel an ihrer Seite. „Zum Glück habe ich immer Proben dabei.“
Sie holte einen zierlichen, aus poliertem Silber gefertigten Spiegel hervor, der mit aufwendigen Gravuren verziert war. Sie reichte ihn Elowen, die ihn mit der Vorsicht einer Person entgegennahm, die ein antikes Artefakt in den Händen hält.
„Das ist der Prototyp des Dewkiss Blush“, erklärte Estella stolz, wobei ihre formelle Haltung einen Hauch von Aufregung verriet.
Mikhailis kam es vor, als hätte sich seine Welt plötzlich auf den Kopf gestellt. Fassungslos sah er zu, wie Elowen den Kompaktspiegel ehrfürchtig öffnete und fasziniert auf das weiche, schimmernde Puder darin blickte.
Estella fuhr ruhig fort, ihre Stimme klang voll und selbstbewusst. „Seine einzigartigen Eigenschaften verdankt er lokalen Zutaten, kombiniert mit Techniken, die Mikhailis und sein … kreativer Partner entwickelt haben. Er wurde speziell dafür entwickelt, magischen Auren standzuhalten, ohne zu verschmieren oder sich zu verfärben.“
Elowen tauchte vorsichtig einen Finger in das Rouge und trug eine winzige Menge auf ihr Handgelenk auf. Ihre Augen weiteten sich vor Freude, als sich das Puder makellos verteilte und der zarte Schimmer das Sonnenlicht einfing und dezent funkelte. Sie hob ihr Handgelenk und atmete den frischen, aromatischen Duft ein, der sanft nach oben stieg.
„Wunderbar“, murmelte sie anerkennend, wirklich überrascht von der seidigen Textur und dem zarten Duft. „Es riecht wunderbar – nach Kräutern, mit einer erfrischenden Zitrusnote. Das ist nicht nur Make-up. Mit einem Produkt wie diesem könnte man Charme als Waffe einsetzen.“
Estellas Lächeln wurde breiter, ihre Augen trafen kurz die von Mikhailis, die ihre Begeisterung teilten, bevor sie geschickt eine Ledermappe hervorholte und sie mit geübter Leichtigkeit öffnete.
Darin lagen sorgfältig angeordnete Proben verschiedener Produkte, jedes mit kleinen, eleganten Etiketten in sorgfältiger Handschrift versehen.
„Wir haben noch mehr vorbereitet“, begann sie mit einer Stimme, die von eifriger Zuversicht geprägt war. „Neben Dewkiss Blush haben wir auch Arcane Liner und Starshade Lip Tint entwickelt. Alle wurden unter magischen Stressbedingungen sorgfältig getestet und streng auf ihre Marktfähigkeit geprüft. Die Ergebnisse haben unsere Erwartungen weit übertroffen.“
Elowens Blick wanderte langsam über die Produkte, sichtlich beeindruckt. „Wie genau sieht euer Plan aus?“
Estella beugte sich leicht vor, ihre Begeisterung ließ ihre professionelle Gelassenheit wanken. „Wir wollen diese Prototypen auf der kommenden Festival Market Showcase vorstellen, um die Reaktion der Öffentlichkeit zu testen, bevor wir uns zu einer größeren Produktion entschließen.“
Elowen hob nachdenklich die Augenbrauen, echte Bewunderung war in ihrem Gesicht zu sehen. „Habt ihr schon einen Stand angemeldet?“
Estella lächelte, ein Hauch von Stolz in den Augen. „Natürlich unter der Lizenz des Silvarion-Pavillons.“
Da wurde Mikhailis‘ Gesichtsausdruck ausdruckslos. Er neigte langsam den Kopf, und Verwirrung kehrte wie eine langsam heranrollende Welle zurück. „Moment mal, wann genau haben wir das genehmigt?“
Rodions Stimme schnitt scharf in seine Gedanken, sein Tonfall war flach und leicht verächtlich. „Als sie dich gefragt hat und du vor zwei Nächten im Halbschlaf mit einem undeutlichen ‚Mhm‘ geantwortet hast. Ich habe die erforderlichen Unterlagen effizient für dich ausgefüllt. Gern geschehen.“
Mikhailis starrte ausdruckslos auf den Horizont und blinzelte langsam, während die Erkenntnis sanken.
Richtig. Natürlich habe ich das. Er seufzte innerlich. Warum überrascht mich das überhaupt noch?
Estella schloss die Ledermappe, Zufriedenheit glänzte in ihren Augen. Elowen blickte zwischen ihnen hin und her, sichtlich erfreut über die gesamte Entwicklung. Die Anspannung löste sich vollständig auf und wurde durch ein aufgeregtes Summen voller Möglichkeiten ersetzt.
Mikhailis atmete leise aus und verspürte eine Mischung aus Erleichterung, Erstaunen und seltsamerweise auch Stolz. Er hätte nie gedacht, dass Kosmetika in Elowen solche Begeisterung auslösen könnten – insbesondere Kosmetika aus einfachen, lokalen Zutaten, die er spontan zusammen mit Rodion entwickelt hatte.
Er warf einen kurzen Blick auf Estella, die sichtlich stolz auf ihre gemeinsame Kreation zu sein schien und Elowen diese offen respektvoll und begeistert vorstellte, ohne eine Spur von versteckter Rivalität oder Anspannung.
Estellas respektvolles Auftreten und ihre klaren beruflichen Grenzen beruhigten ihn und ließen seine letzten Bedenken schwinden.
Als er seinen Blick wieder auf Elowen richtete, sah Mikhailis das helle, neugierige Funkeln in ihren Augen und spürte, wie sein Herz leise zu flattern begann. Diese Seite von ihr zu sehen, war erfrischend – ein seltener Einblick in ihre ungeschützte Neugier und echte Freude, frei von politischen Kalkülen.
Einen Moment lang stand er einfach nur da und nahm die Wärme dieser unerwarteten Szene in sich auf. Ein leises, ungläubiges Lachen stieg in ihm auf, als sein Verstand endlich die unglaubliche Realität begriff, die sich vor ihm abspielte.
Sie liebt es wirklich.
In diesem Moment löste sich seine ganze Anspannung vollständig auf. Die Angst vor Konfrontation, Missverständnissen und Wut verschwand völlig und machte einer stillen Zufriedenheit, Wärme und Belustigung Platz.
Mikhailis spürte, wie sein Gehirn einen Looping machte.
<Zutatenanalyse aktiv. Glowcap-Derivat stabilisiert die Farbe. Nachtschattenstärke verbessert die Haftfähigkeit. Eisenrebenöl bildet eine wasserabweisende Barriere. Es ist biokompatibel und … anscheinend königlich anerkannt.>
Elowen senkte kurz die Wimpern, als sie den zarten Spiegel aus Estellas offener Handfläche nahm. Die polierte Silberoberfläche fühlte sich kühl an ihren Fingerspitzen an, und ein sanfter Lichtschimmer reflektierte sich auf dem Puderquast, als sie ihn vorsichtig öffnete. Im Inneren schimmerte das zarte Rosa mit einem feinen Glanz, der im Sonnenlicht fast lebendig wirkte.
Eine sanfte Brise wehte über den Innenhof und trug den Duft von Jasmin und feuchtem Stein mit sich, der alle Anwesenden daran erinnerte, dass die Zeit verging, auch wenn sie in stiller Erwartung verharrten.
Elowen tauchte ihre Fingerspitze in das Rouge und drückte das Puder dann sanft auf die Innenseite ihres Handgelenks.
Der resultierende Schimmer war subtil und doch strahlend, ein zarter Rosaton, der ihre Haut eher zu erhellen schien, als sie zu bedecken. Sie drehte ihre Hand, damit die Sonne den Schimmer einfangen konnte und sie ihn aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten konnte. Mikhailis war fasziniert und bemerkte, wie sich ihr Gesichtsausdruck sanft entspannte – ein krasser Gegensatz zu der Anspannung, die noch wenige Augenblicke zuvor im Hof geherrscht hatte.
„Geschmeidig“,