„Also runter geht’s.“ Er zwang sich zu einem Grinsen, das er nicht wirklich fühlte. „Ich schätze, rauf wird sowieso überbewertet.“
Sie bogen in den unteren Gang ein, wobei jeder Schritt auf dem glatten Boden hallte. Je weiter sie gingen, desto mehr spürte Mikhailis eine seltsame Energie durch seinen Schädel pulsieren, wie statische Aufladung vor einem Sturm. Rheas Gang wurde immer schlechter, aber sie biss die Zähne zusammen und weigerte sich, sich zu beschweren.
Schließlich gelangten sie in eine Höhle, die groß genug war, um bequem darin stehen zu können. Das schwache Leuchten der Runen zeichnete bizarre Muster an die Wände – Spiralen, Siegel, verzweigte Linien, die fast wie Baumwurzeln aussahen. Das Licht des Fragments wurde heller und beleuchtete zerklüftete Felsen und das Glitzern von Wasser, das sich um ihre Stiefel sammelte.
Ein weiteres leichtes Beben ließ Staub von oben herabfallen. Mikhailis machte sich bereit, sein Herz pochte, aber die Decke hielt vorerst. Er konnte jedoch kleine Risse sehen, die sich wie Spinnweben ausbreiteten. Keine Ahnung, wie viel Zeit ihnen noch blieb, bevor alles zusammenbrechen würde.
Er atmete tief aus und wollte schon eine sarkastische Bemerkung darüber machen, dass sie heute Morgen besser im Bett geblieben wären, doch ein warmer Impuls von dem Fragment lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Dieses Ding ist so hartnäckig.
Bevor er weiter über diesen beunruhigenden Gedanken nachdenken konnte, richtete sich Rhea auf und zwang sich, sich nicht zu sehr auf ihn zu stützen. „Lass uns weitergehen. Ich möchte heute lieber nicht lebendig begraben werden.“
Lira musterte die Wände der Höhle und fuhr mit den Fingerspitzen sanft über die schwachen Gravuren, die den rissigen Stein durchzogen. Jede Rille schien eine Geschichte zu erzählen – längst vergessene Ereignisse, die unter unzähligen Jahren der Stille und des Staubs begraben waren. Sie neigte den Kopf, ihr dunkler Pferdeschwanz schwang mit der Bewegung mit, und atmete langsam aus. Die Luft hier war anders als in den Gängen darüber: Sie fühlte sich schwerer an, als würde sie das Gewicht zu vieler Geheimnisse tragen.
Mikhailis, der Rhea auf seiner Schulter stützte, konnte Liras intensive Konzentration nicht übersehen. Selbst im schwachen Licht der flackernden Runen konnte er sehen, wie sie die Augen zusammenkniff. „Etwas Interessantes?“, fragte er und veränderte seine Haltung, um Rhea vor dem Stolpern zu bewahren. Seine Stimme hallte leicht in dem engen Raum wider, in dem jedes Geräusch unnatürlich laut klang.
Als Antwort drehte Lira ihr Gesicht teilweise zu ihm. Sie lächelte zwar nicht richtig, aber in ihrem Blick war ein Funken zu sehen, der auf Neugierde und Besorgnis hindeutete. „Dieser Ort ist irgendwie seltsam … Diese Markierungen sind älter als die Katakomben oben“, sagte sie. Ihre Stimme war leise und bedächtig, als hätte sie Angst, dass die Kammer sie hören könnte.
Mikhailis trat einen Schritt zurück und zog Rhea näher an einen Teil der Wand, der stabil aussah – für den Fall, dass ein weiteres Beben sie erschüttern würde. „Älter als die Todesfallen, in die wir bereits gefallen sind? Na toll“, murmelte er, wobei sein Versuch, humorvoll zu sein, von echter Unruhe durchsetzt war. Der Tag wurde offenbar immer besser.
Lira warf ihm einen Blick zu, der zwischen leichter Verärgerung und leichter Belustigung schwankte, setzte aber ihre Untersuchung der Runen fort. Sie waren gewunden und verschlungen wie Ranken oder Schlangen, einige in Spiralen gezeichnet, deren Bedeutung ihr nicht sofort klar war. Sie wischte einen Staubfleck von einer der Runen und legte ein Symbol frei, das vielleicht ein stilisiertes Wappen oder die rudimentäre Darstellung eines monströsen Wesens war.
Schwer zu sagen, aber so oder so verursachte es ihr ein unbehagliches Gefühl.
Hinter Mikhailis presste Rhea frustriert die Kiefer aufeinander. Sie lehnte sich gegen einen großen Steinfragment, um ihr verletztes Bein zu entlasten. Es pochte immer noch bei jedem Herzschlag, aber sich zu beschweren würde nichts bringen.
„Wir gehen tiefer, oder?“, fragte sie mit schneidender Stimme. Es war nicht wirklich eine Frage; sie kannte die Antwort. Sie hatten keine Wahl.
Mikhailis schenkte ihr ein halbes Lächeln – eher eine Entschuldigung als alles andere. „Ich würde gerne sagen, dass wir auf einen hellen Ausgang zusteuern, aber es scheint, als wolle das Schicksal, dass wir noch mehr von diesem gruseligen Labyrinth sehen.“
Rhea stieß einen zischenden Atemzug aus. „Fantastisch. Noch mehr verfluchte Gänge. Noch mehr seltsame Runen.“ Sie hielt einen Moment inne und umklammerte mit ihrer freien Hand den Griff ihres Schwertes. „Ich weiß nicht, wie oft ich an einem Tag noch fast sterben kann, bevor es sich normal anfühlt.“
Mikhailis lachte leise, obwohl sich in seinen Augenwinkeln Besorgnis abzeichnete. „Das sagst du, als hättest du noch Schlimmeres erlebt.“
„Das heißt nicht, dass ich es genieße“, gab Rhea zurück, obwohl ihr Tonfall einen Unterton von trockenem Sarkasmus hatte. „Aber wenn du mich umbringst, werde ich definitiv einen Weg finden, dich zu verfolgen.“
„Versuchen wir, das zu vermeiden“, antwortete er und drückte ihr zur Beruhigung kurz die Taille. Dann sah er zu Lira, die immer noch die Runen studierte, als könnten sie ihr den Weg weisen. „Also, oh Weise, hast du eine Idee, wo wir lang müssen?“
Liras Fingerspitzen strichen über eine weitere eingravierte Rille. Sie schien einen Moment lang über das Muster nachzudenken. „Die Runen … sie führen uns irgendwohin“, sagte sie schließlich, trat zurück und musterte den Stein über ihnen. Mehrere Zeilen Schrift führten tiefer in einen schmalen Gang, der vom Hauptkorridor abzweigte und zur Hälfte von zerklüfteten Felsen versperrt war. „Den Symbolen nach zu urteilen, könnte er zu etwas … Größerem führen. Oder Älterem.“
Plötzlich wehte ein kalter Wind durch die Kammer und ließ Mikhailis eine Gänsehaut bekommen. So weit unter der Erde sollte es eigentlich keinen Wind geben, doch hier war er und wirbelte Staub zu kleinen Spiralen auf, die fast sofort wieder verschwanden. Er spürte, wie das Nebelfragment in seiner Hand mit neuer Energie zu pulsieren begann. Der Nebel um das Fragment herum verdichtete sich und schlug sich wie eine neugierige Schlange um seinen Unterarm.
Reagierte es auf den Durchgang? Oder reagierte der Durchgang darauf?
Er warf einen Blick auf das Fragment und sah schwache Lichtimpulse unter seiner Oberfläche pulsieren. Ein Zufall? Unwahrscheinlich, dachte er und presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Dieser Ort war gesättigt mit einer uralten Kraft, die er unwissentlich geweckt hatte.
Währenddessen stolperten Cerys und Vyrelda an einer anderen Stelle des einstürzenden Labyrinths durch eine weitere Reihe halb zerstörter Tunnel. Das Geräusch von herabfallenden Trümmern begleitete sie wie eine ständige Bedrohung. Staub füllte die Luft und machte jeden Atemzug schwer. Sie mussten bereits zweimal umkehren, als Korridore unter dem Gewicht der sich selbst zerstörenden Katakomben einstürzten.
„Genial“, murmelte Vyrelda und trat gegen ein loses Stück Schutt auf ihrem Weg. Normalerweise war sie gefasst, aber ihre Haltung und ihr angespannter Kiefer verrieten ihre Frustration. „Einfach genial. Wir zerstören die Sicherheitsvorrichtung und jetzt bricht alles um uns herum zusammen. Hast du jemals daran gedacht, dass wir vielleicht etwas wirklich Dummes getan haben?“
Cerys holte tief Luft, ihr roter Pferdeschwanz flatterte um ihre Schultern, als sie sich drehte, um einem fallenden Stein auszuweichen. Sie weigerte sich, ihre Schuld zu zeigen, aber sie spürte, wie sie an ihrem Magen nagte. „Keine Zeit für Reue“, sagte sie mit tonloser Stimme. „Wir müssen die anderen finden, bevor wir hier unten eingeschlossen werden.“
Ein Anflug von Angst drohte ihre gewohnte Gelassenheit zu zerstören. Erinnerungen an ihre Kindheit, an eine andere Art von Zerstörung, blitzten in ihrem Kopf auf. Sie verdrängte diese Gedanken, weil sie vor Vyrelda nicht schwach wirken wollte. Die Erschütterungen schienen stärker zu werden, jedes Grollen erinnerte sie daran, dass es keinen einfachen Weg nach draußen gab.
Vyrelda presste die Kiefer aufeinander und sah aus, als wolle sie widersprechen, aber dann schien sie es sich anders zu überlegen. Sie atmete aus und strich mit einer Hand über die Runen an der Wand. Sie leuchteten schwach unter ihren Fingerspitzen, das gleiche unheimliche Muster, dem sie seit einer Stunde folgten. „Es führt uns zur Nebelkonfluenzkammer, wenn die Kritzeleien, die wir gelesen haben, stimmen.“
Sie verzog das Gesicht. „Wenn Mikhailis tiefer vorgedrungen ist, ist das wahrscheinlich sein Ziel.“
„Und wenn das Fragment, das er gefunden hat, der Schlüssel zu diesem Ort ist“, fügte Cerys hinzu und schluckte. „Dann haben wir vielleicht etwas Unaufhaltsames entfesselt.“
Vyreldas Blick verhärtete sich, und ein Anflug von Unsicherheit huschte über ihre Augen. „So dürfen wir nicht denken. Sonst haben wir schon verloren, bevor wir überhaupt angefangen haben.“ Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr zerzaustes Haar. „Ich will aber nicht so tun, als wäre ich nicht besorgt. Wenn die Stadt wegen uns fällt, weiß ich nicht, ob ich damit leben kann.“
Cerys antwortete nicht, aber ihr Schweigen war eine Zustimmung. Sie verspürte dieselbe Angst – als hätte sie persönlich die Tore zu einem Albtraum aufgerissen. Mit einem Schnaufen deutete sie mit dem Kinn auf einen halb eingestürzten, abfallenden Gang. „Wir gehen hier entlang. Wenn wir uns irren, kehren wir um.“
Vyrelda nickte, und sie stapften weiter, wobei jeder Schritt in der Dunkelheit widerhallte.
Über der Erde, weit weg vom Staub und Chaos, standen maskierte Gestalten auf einem Bergrücken und schauten auf die Eingänge der Katakomben. Die größte Senkgrube klaffte wie ein hungriger Mund und spuckte ab und zu Staub und Trümmer aus. Eine Gestalt, groß und in mehrere schwarze Roben gehüllt, stand mit verschränkten Armen am Rand. Eldris, versteckt hinter einer Maske, die nichts preisgab, starrte in den wirbelnden Nebel unter ihm.
Eine leichte Brise zerzauste seinen Umhang und trug den fernen Donner einstürzender Steine herbei. Die Spannung in der Luft knisterte wie ein stiller Sturm. Nach einer langen Pause sprach Eldris endlich, seine Stimme leise und voller Resignation oder vielleicht Neugier:
„Wir sind zu spät, um das Erwachen zu verhindern.“
Obwohl er nichts weiter sagte, deuteten seine Worte auf etwas Dringendes hin – wie einen Plan, der schiefgegangen war, eine Kette von Ereignissen, die nun unaufhaltsam waren.
Die Dunkelheit verdichtete sich um ihn herum und ließ die maskierten Gestalten fast vor dem Nachthimmel verschwinden. Dann drehten sie sich um und zerstreuten sich lautlos, ihre Bewegungen zielstrebig, aber zurückhaltend. Eldris blieb noch einen Moment länger stehen und starrte auf die Ruinen. Vielleicht, dachte er, wird uns der sogenannte Souveräne Katalysator doch noch überraschen.
Zurück unter der Erde, in einem Gang, der sich tiefer in die Erde schlängelte, führte Mikhailis seine kleine Gruppe voran, das Nebelfragment pulsierte stetig in seiner Hand. Jedes Mal, wenn es leuchtete, verdichtete sich der Nebel um sie herum, fast so, als würde er sie dorthin führen, wo sie hin mussten. Die Luft roch nach feuchtem Stein und nach etwas anderem – wie nach dem abgestandenen Atem einer schlummernden Bestie.
Rhea hustete, ihre Stimme rau vom vielen Staub. „Dieser Ort ist unerträglich“, brachte sie hervor und versuchte, die anderen nicht zu sehr aufzuhalten. „Wenn ich in meinem ganzen Leben nie wieder eine Ruine sehe, ist es mir recht.“
Mikhailis lachte kurz. „Das sagst du jetzt, aber ich bin mir sicher, dass du dich nach einem neuen Abenteuer sehnen wirst, sobald du wieder gesund bist.“ Er hielt inne und beobachtete die leichten Erschütterungen unter seinen Füßen. „Außerdem habe ich nicht geplant, dass sich der Boden öffnet und uns verschluckt.“
Lira blieb dicht an seiner Seite und suchte mit ihren Augen die Dunkelheit ab. Obwohl ihr Gesicht ausdruckslos blieb, spürte Mikhailis ihre Besorgnis.
Sie war immer so gelassen und trug stets eine Maske der Vornehmheit. Aber er kannte sie schon lange genug, um die leichte Anspannung in ihrer Haltung zu bemerken. Sie machte sich Sorgen um ihn – um sie alle.
„Du bist zu ruhig“, sagte sie plötzlich, und ihre Stimme hallte in dem Tunnel wider. Er sah sie überrascht an. Liras Tonfall hatte etwas Herausforderndes, als würde sie ihn auffordern, das Gegenteil zu behaupten.
Mikhailis hob eine Augenbraue und zwang sich zu einem kleinen Grinsen. „Wäre es dir lieber, wenn ich in Panik geraten würde?“
Sie zuckte elegant wie immer mit einer Schulter, doch ihre Augen blitzten. „Nein. Aber ich kenne dich. Du machst Witze, aber du denkst über etwas nach.“
Er warf einen Blick auf das Fragment. Der Nebel darin verdichtete sich und wurde von dem tiefen Heiligtum vor ihnen angezogen. Dieses Ding will etwas von mir.
„Ja“, gab er zu. „Ich glaube, dieses schicke Stück Stein will mich irgendwohin führen.“
Rhea stöhnte. „Na toll. Noch mehr verfluchte Artefakte, die uns tiefer in den sicheren Tod führen.“
„Komm schon, wo ist dein Sinn für Abenteuer?“, spottete Mikhailis.
„Unter diesen Trümmern begraben, genau wie wir, wenn wir nicht aufpassen.“
Sie gingen weiter und folgten dem flackernden Leuchten der Runen. Der Gang weitete sich zu einer riesigen Halle, deren Wände mit Wandgemälden von gestickten Gestalten bedeckt waren, die Nebel in ein Siegel in der Mitte kanalisierten. Auf dem Boden befand sich ein riesiges, rissiges Emblem, aus dem Nebel wie Rauch aus einem erlöschenden Feuer in die Luft stieg.
Dann veränderte sich die Luft.
Der Nebel verdichtete sich, wirbelte herum und formte Gestalten – Phantome der Vergangenheit. An den Rändern ihres Blickfeldes bewegten sich Schatten. Mikhailis biss die Zähne zusammen, als die Temperatur sank.
Eine Stimme flüsterte am Rande seines Bewusstseins. Du trägst das Fragment meines Willens. Was wirst du damit tun?
Ein flüchtiger Blick überkam ihn – sein eigenes Gesicht spiegelte sich vor ihm, aber es war verändert. Dunkler Nebel umhüllte seine Gestalt, seine Augen leuchteten unheimlich und unnatürlich. Er stand auf einer zerstörten Stadt, Nebel kroch wie lebende Ranken an seinen Füßen entlang.
Ist das eine Warnung? dachte er, sein Herz schlug wie wild.
Liras Stimme riss ihn zurück. „Mikhailis!“
Der Nebel stürzte sich auf ihn.
Rhea hatte kaum Zeit zu reagieren, als die wirbelnde Masse sich verfestigte und mit schattenhaften Ranken nach ihr schlug. Sie biss die Zähne zusammen, zog ihr Schwert, aber in dem Moment, als sie zuschlug, formierte sich der Nebel neu und glitt durch ihre Abwehr.
Cerys und Vyrelda stürmten aus dem gegenüberliegenden Gang herein und starrten mit großen Augen auf das Chaos. „Was zum Teufel ist hier los?“
„Keine Zeit!“,
schrie Mikhailis. „Helft oder geht aus dem Weg!“
Cerys zögerte nicht und stürzte sich auf einen weiteren Schlag, der auf Lira abzielte. Vyrelda zog einen Dolch und suchte nach Schwachstellen. „Irgendwelche guten Ideen?“
Mikhailis umklammerte das Fragment fester. Es wieder versiegeln … oder benutzen?
Die Entscheidung stand bevor, und der Nebel lachte in seinem Kopf.
Entscheide dich.