Mikhailis spürte, wie die Erschütterungen unter seinen Stiefeln stärker wurden. Die unterirdische Kammer reagierte auf ihre Anwesenheit mit einem Puls, der sich beunruhigend lebendig anfühlte. Die Gravuren an den Wänden flackerten schwach und leuchteten im Gleichklang mit dem sich unnatürlich durch den Raum schlängelnden Nebel. Er bewegte sich wie lebende Adern und bildete Muster, die eher an geheimnisvolle Schaltkreise als an bloßen Nebel erinnerten.
Ein leises Summen erfüllte die Kammer und hallte durch den Stein, als hätte die ganze Struktur darauf gewartet – darauf, dass etwas sie aus ihrem Schlaf weckte. Die Luft wurde dichter, schwerer, geladen mit einer unsichtbaren Energie, die ihm unwillkürlich einen Schauer über den Rücken jagte.
Rodions Stimme summte scharf in seinem Kopf.
<Energiefluktuationen nehmen zu. Die Reaktion der Kammer deutet auf eine Aktivierungssequenz hin. Wahrscheinlichkeit einer Instabilität der Umgebung: hoch.>
Mikhailis schnippte mit einem Finger durch den Nebel und sah zu, wie er sich um seine Knöchel wickelte, bevor er sich wie Rauch auflöste. Dieser Ort erwacht.
Vyrelda umklammerte ihr Schwert fester. Sie war nicht jemand, der sich leicht aus der Ruhe bringen ließ, aber selbst sie spürte, dass sich vor ihnen etwas Unnatürliches abspielte. Ihre roten Augen verengten sich, als sie einen langsamen Schritt nach vorne machte, ihren Körper angespannt, bereit zu reagieren. „Das fühlt sich nicht wie Magie an, die ich bisher kennengelernt habe.“
Die Agenten des Kronlosen Hauses, die ein paar Meter entfernt stramm standen, wirkten so vorsichtig, als würden sie nicht nur etwas Unbekanntes beobachten, sondern etwas, das ihnen Angst machte. Ihre Hände hielten sich in der Nähe ihres Gürtels, nicht ganz bereit, nach einer Waffe zu greifen, aber bereit, sich zu verteidigen, falls etwas schiefging. „Es reagiert auf dich“, murmelte einer der Agenten und starrte Mikhailis an. „Das sollte nicht passieren.“
Mikhailis grinste. „Ja, das höre ich oft.“
Vyrelda warf ihm einen scharfen Blick zu, ihre Frustration kaum verbergend. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Witze.“
„Da bin ich anderer Meinung“, entgegnete Mikhailis und rückte die Ärmel seines Mantels zurecht, als hätte er alle Zeit der Welt. „Wenn die Wände anfangen zu leuchten und der Nebel sich verhält, als hätte er einen eigenen Willen, dann ist das meiner Meinung nach der perfekte Zeitpunkt für Witze.“
Der Boden unter ihnen bebte erneut, diesmal heftiger.
Ein fernes, hallendes Krachen hallte durch die Tunnel, als hätte sich etwas tief unter ihnen verschoben. Staub rieselte von der Decke herab, und die Luft wurde dick von dem Geruch feuchter Erde und alten Steins.
Rodions Tonfall wurde schärfer.
„Die Energiekonzentration stabilisiert sich nicht. Die strukturelle Integrität der Kammer ist gefährdet. Wenn ihr euer Leben schätzt, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, über einen Rückzug nachzudenken.“
Mikhailis unterdrückte mühsam ein Grinsen. Du weißt immer, wie man die Stimmung verdirbt, Rodion.
Doch trotz seiner leichtfertigen Haltung konnte er das wachsende Gefühl der Dringlichkeit nicht leugnen, das an seinem Bewusstsein rüttelte. Hier geschah etwas, etwas, das wer weiß wie lange geschlummert hatte. Und jetzt, aufgrund ihrer Anwesenheit, regte es sich.
Seine goldenen Augen huschten zu der zentralen Konsole, die in die Wand eingelassen war. Im Gegensatz zu den kalten, industriellen Designs der Relaisstationen der Technomanten war dieses Gerät anders – älter, glatter, fast organisch in der Art, wie es sich in die Struktur einfügte. Das schwache Leuchten unter dem Staub strahlte eine Wärme aus, die im Widerspruch zur feuchten Kälte der Kammer stand.
„Du hast doch nicht vor, das anzufassen, oder?“, fragte Vyrelda mit schneidender Stimme, in der eine Warnung mitschwang.
„Natürlich nicht“, antwortete Mikhailis, bevor er seine Hand auf die Oberfläche drückte.
Vyrelda fluchte leise und griff nach ihm, aber es war bereits zu spät.
Die Reaktion erfolgte sofort.
Der Nebel verdichtete sich und schlängelte sich wie Ranken nach ihm empor. Ein tiefer, hallender Impuls durchfuhr seine Handfläche, weder Schmerz noch Lust – nur das überwältigende Gefühl von etwas Gewaltigem, etwas Urtümlichem, das seine Anwesenheit wahrnahm.
Seine Sicht verschwamm für einen Moment und flackerte mit Bildern, die er nicht erkannte – Szenen aus Serewyn vor den Technomanten, ein Königreich, das in klare Luft gehüllt war und in dem der Nebel nur dort erschien, wo er hingehörte. Er sah eine Stadt in goldenes Licht getaucht, deren Türme vom Nebel unberührt waren und deren Einwohner sich frei durch die Straßen bewegten, ohne von dem erstickenden Dunst beeinträchtigt zu werden.
Dann verdrehte sich die Vision.
Der Nebel kam – nicht von selbst, nicht als Geschenk, sondern als etwas Aufgezwungenes. Er sah Gestalten in Umhängen, deren Gesichter verdeckt waren und die vor einer riesigen Maschine standen. Er spürte das Gewicht von etwas, das weggesperrt war, eine Kraft, die in Ketten aus Metall und Magie gefesselt war.
Ein System, das den Nebel regulieren sollte, verschlossen, gefesselt, verdorben.
Der Puls in seiner Hand wurde stärker. Der Nebel schloss sich enger um ihn, klammerte sich an seine Haut, angezogen von ihm wie eine längst vergessene Erinnerung.
Rodions Stimme knisterte in seinen Gedanken, unterlegt von einem Ton, der fast wie Dringlichkeit klang.
„Externer Einfluss erkannt. Du stellst eine direkte Verbindung zu einer unbekannten Energiequelle her. Risikoeinschätzung: unbekannt. Sofortige Trennung empfohlen.“
Mikhailis nahm die Warnung kaum wahr, bevor eine gebrochene Stimme, weder menschlich noch ganz körperlich, durch den Raum hallte.
„… un… getan… es muss… rückgängig gemacht werden…“
Die Stimme hallte durch seine Knochen, vibrierte in den tiefsten Teilen seines Geistes, als würden die Ruinen selbst ihre lange verborgenen Geheimnisse flüstern.
Vyrelda hatte ihr Schwert gezogen und blickte zwischen Mikhailis und dem wirbelnden Nebel hin und her, als würde sie überlegen, ob sie ihn wegzerren sollte. „Mikhailis“, rief sie mit angespannter Stimme. „Geh weg von dort.“
Die Agenten des Kronlosen Hauses waren hingegen blass geworden und starrten auf die sich verändernden Muster in der Luft. Ihre Finger zuckten an ihren Seiten, aber sie machten keine Anstalten, einzugreifen.
„… un… getan… es muss… rückgängig gemacht werden…“
Die Worte kamen erneut, diesmal deutlicher, durchsetzt von etwas, das fast wie Verzweiflung klang.
Mikhailis atmete langsam aus und krallte seine Finger fester um die Konsole. Seine goldenen Augen leuchteten schwach im trüben Licht und waren auf den Nebel gerichtet, der ihn umgab.
Dies war nicht nur eine alte Ruine.
Dies war nicht nur Geschichte.
Hier war noch etwas lebendig.
Und es rief nach ihm.
Der Agent ohne Krone reagierte sofort und stürzte sich auf Mikhailis. Ihre Bewegungen waren schnell, fast verzweifelt, aber Vyrelda war schneller. Mit einer schnellen, geübten Bewegung trat sie zwischen sie, ihre Klinge floss geschmeidig in eine Verteidigungshaltung. Der Stahl glänzte matt in der dunklen, nebelgefüllten Kammer, eine stille Warnung, dass sie nicht zögern würde, ihn zu benutzen.
„Er geht nirgendwohin, bevor wir wissen, was hier los ist“, erklärte Vyrelda mit fester Stimme.
Mikhailis neigte den Kopf und ein träges Grinsen umspielte seine Lippen. „Ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, aber ich kann mich selbst verteidigen.“
Vyrelda sah ihn nicht einmal an. „Halt die Klappe.“
Er seufzte dramatisch, widersprach ihr aber nicht. Ihr Instinkt war schärfer als der der meisten Menschen, und im Moment war ihre Anwesenheit wahrscheinlich der einzige Grund, warum der Agent noch nichts Dummes versucht hatte.
Der Nebel um sie herum verdichtete sich, wirbelte nicht mehr nur wahllos umher, sondern bewegte sich in einem unnatürlichen Rhythmus, einem langsamen, pulsierenden Auf und Ab, das dem gleichmäßigen Schlag von etwas Lebendigem ähnelte. Die Kammer selbst schien darauf zu reagieren, als hätte der alte Stein auf diesen Moment gewartet.
Eine Stimme hallte verzerrt und fragmentiert wider und glitt durch die Luft wie ein Flüstern, das von einem sterbenden Wind getragen wurde.
„… zurückkehren … Gleichgewicht … kann nicht … aufrechterhalten …“
Der Klang war weder ganz menschlich noch ganz mechanisch. Es war keine Stimme, wie sie ein Mensch von sich gibt, sondern eher etwas Gewaltiges und Unsichtbares, das Worte hervorbrachte und dabei kaum zusammenhängend blieb. Es war uralt, so alt, dass die Zeit seine Konturen verwischt hatte und nur noch bruchstückhafte Sätze übrig blieben.
Der Agent der Kronlosen zuckte zusammen. Seine frühere Zuversicht schwankte, als er beobachtete, wie sich der Nebel um Mikhailis wickelte, ihn nicht zurückwies, ihn nicht angriff, sondern floss, als würde er ihn erkennen.
„Das ist unmöglich“, murmelte der Agent und schüttelte den Kopf. Seine gesamte Haltung hatte sich von Trotz zu etwas gewandelt, das eher Ungläubigkeit ähnelte. „Du mischst dich in etwas ein, das weit größer ist, als du verstehst.“
Mikhailis hob eine Augenbraue, völlig unbeeindruckt. „Dann kläre mich auf.“
Der Agent zögerte, als würde er seine Optionen abwägen. Der Nebel schlang sich enger um Mikhailis‘ ausgestreckte Finger und streifte seine Haut wie etwas Neugieriges, das eine unbekannte Präsenz testete. Ein seltsames Gefühl breitete sich in seinem Arm aus – kein Schmerz, keine Hitze, keine Kälte. Nur … etwas. Ein Bewusstsein, das nicht zu ihm gehörte.
Die Stille zwischen ihnen dehnte sich aus, bis der Agent schließlich scharf ausatmete, als würde er sich damit abfinden. „Wir haben nicht nur nach den Ruinen gesucht. Wir haben versucht, sie wieder zu aktivieren.“
Vyreldas Augen verengten sich, ihr Griff um ihr Schwert blieb unerschütterlich. „Sie kontrollieren, meinst du.“
„Wenn die Ruinen einst den Nebel unabhängig reguliert haben, dann bedeutet die Wiederherstellung dieser Kontrolle, dass entschieden werden muss, wer diese Macht innehat.“
Die Stimme des Agenten war ruhig, aber sein Gesichtsausdruck blieb angespannt, wie jemand, der am Rande eines unbekannten Abgrunds steht. „Ihr wisst nicht, womit ihr euch da angelegt habt.“
Mikhailis brummte nachdenklich. „Und ich will mal raten – ihr habt den Schlüssel nicht.“
Stille. Dann gab der Agent widerwillig zu: „Nicht ganz.“
Ah. Das war es also.
Mikhailis‘ Blick wanderte zu den Ruinen, zu den komplizierten Mustern, die der Nebel bildete, als wäre er in die Struktur der alten Maschinen eingewoben. Wenn diese Ruinen die ursprünglichen Regulatoren des Nebels waren, dann war das moderne Nebelnetzwerk der Technomanten nicht etwas völlig Neues – es war auf diesem System aufgebaut. Ein Parasit, der sich von einem größeren, älteren Körper ernährte.
Das bedeutete, wenn er die Lücke zwischen den beiden schließen könnte, hätte er vielleicht eine Möglichkeit, den Einfluss der Technomanten auf die Stadt komplett zu brechen.
Rodion unterbrach seine Gedanken mit einem präzisen, knappen Tonfall.
„Du denkst gerade etwas ziemlich riskantes. Ich kann fast hören, wie deine Neuronen fragwürdige Entscheidungen treffen.“
Nicht riskant, dachte Mikhailis und verzog leicht die Lippen. Innovativ.
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