Das war eine Aufgabe, bei der Lenny nicht schummeln konnte, selbst wenn er die Antwort nachschlagen wollte. Der Grund dafür war, dass das Gewicht dieses Kolibris echt genau war.
Viele wussten das zwar nicht, aber die Angaben im Internet zu Geschwindigkeit und so waren nur ungefähre Werte. Das war bei Tieren natürlich besonders der Fall.
Die Realität sah jedoch ganz anders aus. Nehmen wir zum Beispiel einen Betrüger. Faktoren wie die Größe des Tieres, die Muskeldichte, die Knochendichte, der Vorteil des Geländes, die Windstärke, die Temperatur des Tages und auch der Adrenalinschub in Verbindung mit dem Energieverbrauch des jeweiligen Tieres trugen alle zu der Geschwindigkeit bei, die das Tier bei einer Verfolgungsjagd erreichen konnte.
Natürlich wurde die relative Geschwindigkeit des Betrügers durch die Untersuchung vieler Betrüger ermittelt. Aber das reichte nicht aus, um die vielen Möglichkeiten zu berücksichtigen, die in Echtzeit auftraten.
Das war bei dem Kolibri genauso. Meister Lucian hatte ganz genaue Angaben zu der Vogelart, ihrem Wesen, ihren Gewohnheiten, ihrem Gewicht, der Länge ihres Schnabels, der Spannweite ihrer Flügel und sogar zur Temperatur und Luftfeuchtigkeit der Umgebung gemacht.
All das waren wichtige Faktoren, die beeinflussten, wie oft der Kolibri mit den Flügeln schlug.
Das Einzige, was Lenny zu tun hatte, war, zu beobachten und zu zählen, wie oft der Vogel mit den Flügeln schlug.
Das war eine fast unmögliche Aufgabe. Für einen normalen Menschen war es sogar unmöglich. Schließlich schlägt ein Kolibri im Schwebeflug durchschnittlich 720 bis 5400 Mal pro Minute mit den Flügeln.
Meister Lucian hatte eine Stoppuhr dabei. Diese war auf fünf Minuten eingestellt.
Lenny sollte die Flügel des Kolibris fünf Minuten lang beobachten und sich dabei voll konzentrieren.
Wie zu erwarten war, war das für Lenny echt frustrierend.
„Meister Lucian … das ist … das ist unmöglich. So was kann man nicht machen!“, sagte er ganz überzeugt.
Meister Lucian, der immer mit seinen Worten spielte und von seinen Fähigkeiten überzeugt war, lachte ein wenig: „Wirklich? Bist du sicher, dass das nicht geht?“
Lenny nickte ohne zu zögern.
„Okay! Machen wir einen Deal: Wenn ich es schaffe, trägst du diesen Felsbrocken auf deinem Kopf und läufst den Rest des Monats jeden Tag sieben Mal um den Berg des Klosters herum.“
„Und wenn du es nicht schaffst?“, fragte Lenny.
Meister Lucian strich sich über seinen weißen Bart und sagte: „Dann mache ich dasselbe und schreie sogar: ‚Ich bin ein Narr und Lenny ist mein Boss!'“
Den letzten Teil hielt Lenny für unnötig. Aber er konnte nicht umhin, einen Blick auf den Felsbrocken in der Ecke zu werfen.
Dieser Felsbrocken wog eine halbe Tonne und war im Grunde der Standard-Felsbrocken, den die Schüler zum Training benutzten.
Natürlich konnte ein normaler Mensch, wie bei den meisten Dingen in diesem Kloster, nicht hoffen, mit ihm eine solche Trainingsleistung zu vollbringen oder auch nur ein paar Schritte zu gehen.
Die Schüler an diesem Ort hatten aber ihren Körper über das Normale hinaus trainiert und Leistungen vollbracht, die Menschen in der Außenwelt nur aus Büchern kannten.
Von ihrer Ernährung bis zu ihren Trainingsmethoden war alles besonders.
Unter Meister Lucian wurde Lenny weit über das normale Maß hinaus gefordert.
Lenny schaute auf den Felsbrocken und dann wieder zu dem alten Meister, vor allem auf das Grinsen in seinem Gesicht. Sein Herz sagte ihm, dass er den Deal nicht machen sollte, aber er hatte unter Meister Lucian ein echtes Höllentraining durchgemacht und hatte nichts dagegen, sich an dem alten Mann für all die Qualen zu rächen, die er erlitten hatte.
Lenny nickte und lachte leise: „Der Deal steht, alter Mann!“
Beide schüttelten sich die Hände. In diesem Moment wurde Lenny jedoch klar, dass er keine Möglichkeit hatte, zu wissen, ob der alte Mann ihn betrügen würde oder nicht.
Meister Lucian verstand seine Bedenken und winkte einen Schüler herbei, der ihm einen Gegenstand aus seinem Arbeitszimmer holen sollte.
Es war eine Schachtel, die vor Lennys Augen geöffnet wurde.
„Cool! Wer hätte gedacht, dass der alte Mann an so einem Ort Lieferungen bekommt? Ich dachte, dieser Ort sollte gar nicht existieren.“
Meister Lucian lachte leise: „Keine Sorge, ich kenne jemanden, der jemanden kennt.“
Dann wurde die Schachtel geöffnet und gab den Blick auf eine riesige Kamera frei. Meister Lucian erklärte weiter:
„Diese Kamera habe ich extra für diesen Anlass anfertigen lassen. Sie hat zwar eine Stange Geld gekostet, aber das ist es wert. Stell sie auf!“
Lenny nickte und tat es gerne. Auf der einen Seite stand die Kamera, um den Kolibri zu beobachten, und neben der Kamera saß Meister Lucian auf demselben Felsbrocken, der ein wesentlicher Bestandteil ihrer Wette war.
Meister Lucian strich sich über seinen langen weißen Bart und strahlte Selbstvertrauen und Charisma aus.
Trotzdem war Lenny sich sicher, dass er gewinnen würde.
Um sicherzugehen, dass niemand schummeln konnte, öffnete Lenny den Käfig des Kolibris und führte ihn zu der Stelle, an der er den Honig genießen konnte.
Die Stoppuhr nebenan wurde gestartet.
Fünf Minuten lang beobachtete Lenny, wie Meister Lucian und die Kamera auf den Vogel gerichtet waren.
Meister Lucian schien jedoch ganz gelassen zu sein und wandte sogar ein paar Mal seinen Blick vom Kolibri ab, um seinen Tee zu genießen.
Sofort war Lenny überzeugt, dass er gewinnen würde. Schließlich deutete alles, was er bisher gesehen hatte, auf seinen Sieg hin.
Als die fünf Minuten vorbei waren, gab Meister Lucian die Zahl bekannt. Lenny durfte sich das Video des Wettbewerbs als Erster ansehen.
Das Ergebnis war überraschenderweise nicht so, wie er es erwartet hatte. Meister Lucian hatte genau richtig gelegen.
Lenny hätte schwören können, dass hier irgendwie geschummelt worden war, aber alles war gefilmt worden …