Als Lenny tiefer in die Welt namens Fegefeuer hinabstieg, begann sich die Atmosphäre um ihn herum zu verändern.
Die Luft wurde schwerer, aber gleichzeitig erfüllt von einer fast berauschenden Energie, die vor Leben zu pulsieren schien. Und dann sah er sie – ein überwältigender Anblick, der ihm den Atem raubte. Engel. Nein, nicht nur Engel, sondern gefallene Engel. Eine Unmenge von ihnen erstreckte sich vor ihm, so weit das Auge reichte.
Jeder einzelne strahlte eine Schönheit aus, die so tiefgründig war, dass sie das menschliche Verständnis überstieg.
Einige waren riesige, wirbelnde Massen aus Flügeln – gefiedert und schimmernd in Farben, die kein Mensch benennen konnte, als wären sie in den Farben der Morgendämmerung, der Abenddämmerung und jedem Moment dazwischen gemalt.
Sie schwebten anmutig, ihre Flügel flatterten auf eine Weise, die die Luft zum Singen zu bringen schien, und strahlten mit einem Licht, das rein, unverfälscht und doch irgendwie uralt war.
Andere waren völlig menschenunähnlich, doch ihre Schönheit war unbestreitbar. Riesige, strahlende Augen, die mit einem Licht leuchteten, das den Stoff des Universums selbst zu durchdringen schien, starrten in die Ewigkeit.
Die Iris dieser Augen schimmerte mit einer kosmischen Brillanz, in der sich Galaxien, Nebel und die Sterne selbst drehten.
Und dann gab es noch diejenigen, die menschlicher wirkten, mit glühender Haut, glatt wie Marmor, strahlend mit einem überirdischen Licht. Ihre Formen waren makellos, ihre Gesichter mit göttlicher Perfektion geformt.
Ihr Haar floss wie Wasserfälle aus Licht, in Silber, Gold und Farben, die es in der Welt der Sterblichen nicht gab. Am meisten beeindruckten Lenny jedoch ihre Augen. Sie enthielten das Gewicht endloser Zeitalter, die Trauer über ihren Fall und doch die Erhabenheit ihrer Herkunft.
Es waren Wesen von unvorstellbarer Schönheit und unfassbarer Tragik, Wesen, die einst unter den Sternen standen, nun aber ihren Platz hier im Fegefeuer gefunden hatten.
Doch trotz ihrer Gestalt – einige waren kaum mehr als Flügel, andere hatten große, furchterregende Augen – strahlten sie eine so immense, atemberaubende Herrlichkeit aus, dass Lenny sofort wusste, dass ein bloßer Mensch, hätte er sie angesehen, an der schieren Kraft ihrer Schönheit gestorben wäre.
Sie hätte sie zerquetscht, von innen heraus verbrannt, denn diese Schönheit war nicht für die schwachen Sinne der Sterblichen bestimmt. Lenny jedoch konnte sie sehen, sein Körper war nur dank der heiligen Kraft, die durch seine Adern floss, in der Lage, dieser Ehrfurcht standzuhalten. Diese heilige Kraft wirkte wie ein Schutzschild, der ihn davor bewahrte, von ihrer strahlenden Pracht verschlungen zu werden.
Als er tiefer fiel, teilten sich die Engel, ihre Bewegungen fließend und anmutig, als würden sie ihn in ihrer Mitte willkommen heißen. Sie sprachen nicht, aber ihre Anwesenheit sprach Bände.
Sie waren nicht hier, um ihm den Weg zu versperren oder ihn herauszufordern – nein, sie führten ihn, machten ihm Platz, als wäre er erwartet worden, als wäre dieser Moment in das Gewebe der Zeit geschrieben worden.
Da spürte Lenny es, ein Ziehen in seinem Innersten. Es war, als würde ihn das Zentrum des Fegefeuers selbst rufen und ihn mit einer unwiderstehlichen Kraft anziehen. Jede Faser seines Wesens wurde zum Zentrum hingezogen, als würde dort etwas Tiefgründiges – etwas, das weit über sein Verständnis hinausging – auf ihn warten. Es war nicht nur ein Ziel, es war eine Berufung, eine Anziehungskraft, die nicht nur von der Erde ausging, sondern von Sinn, Schicksal und Macht.
Lenny bewegte sich, blieb aber vorsichtig. Immerhin hatte er einmal einen Engel getroffen, und Uriel war ein sehr gerissener Engel gewesen. Andererseits hatte Schönheit eine gewisse Verführungskraft, die selbst das Böse zum Inbegriff der Schönheit machen konnte.
Die Engel mit ihrer überirdischen Schönheit beobachteten Lenny weiterhin in stiller Ehrfurcht, während er hinabstieg. Ihre Gestalten veränderten sich und leuchteten, ihre Flügel flatterten sanft in der Leere.
Lennys Herz pochte, nicht vor Angst, sondern vor Ehrfurcht. Er wurde zu etwas Größerem geführt, etwas, das weit über das Reich der Siegel hinausging, denen er begegnet war. Der Kern des Fegefeuers erwartete ihn, und jeder Teil seiner Seele wurde davon angezogen, tiefer und tiefer in das Wesen dieser seltsamen, schönen und furchterregenden Welt hineingezogen.
Und als er sich dem Kern näherte, wusste Lenny auf einer unterbewussten Ebene, dass eine Veränderung bevorstand.
Schließlich war es soweit. Dies war der Moment, für den er sein ganzes Leben gelebt hatte.
All die Tage, die er als Attentäter in der Welt der Sterblichen auf der neunten Erde verbracht hatte, hatte er den Morgenstern angesehen und geglaubt, er sei der Beste.
Aus irgendeinem Grund sah er Luzifer nicht als den Teufel aus Mythen und Legenden, nicht als jemanden, dem man die Schuld geben konnte, sondern als einen Retter, einen Büßer, der in seinem Leiden Erlösung gefunden hatte.
Es war eine Verbindung, die tief in seiner Seele entstanden war.
Und jetzt war er der Inbegriff von Luzifers Vermächtnis.
Er hatte so viel durchgemacht, sowohl Schmerz als auch Freude, Cunny und Ehrlichkeit, um diesen Punkt zu erreichen.
Als Lenny vor dem Kern des Fegefeuers schwebte, konnte er die unglaubliche Hitze spüren, die von ihm ausging, als stünde er vor einer zweiten Sonne. Seine immense Kraft war erdrückend und wirbelte mit einer Aura roher, ungezügelter Energie.
Doch seine Aufmerksamkeit galt nicht nur dem glühenden Kern des Planeten, sondern auch dem, was daneben stand – einem riesigen, goldenen Samen, der in einem ätherischen Licht leuchtete und eine Kraft ausstrahlte, wie er sie noch nie zuvor gefühlt hatte.
Der Kern des Morgensterns.
Er schimmerte wie geschmolzenes Gold, seine Oberfläche war glatt, makellos und lebendig, mit einem Puls, der im Takt des Universums selbst zu schlagen schien.
Er war riesig, etwa so groß wie ein Mensch, und schwebte in der Luft, als würde er warten.
Aber was Lenny wirklich beeindruckte, war das leise Geräusch – nein, kein Geräusch, sondern ein Flüstern. Es war, als würde die Essenz des Morgensterns ihn rufen, eine Melodie, so alt wie die Zeit selbst, die an seiner Seele zerrte wie ein vergessenes Lied.
Und dann, vor seinen Augen, begann sich der goldene Samen zu verändern. Langsam verwandelte er sich, die glatte Oberfläche wellte sich wie flüssiges Metall, drehte und wand sich, bis er eine neue Form annahm. Lenny sah fasziniert zu, wie sich der Samen in eine majestätische Harfe verwandelte, deren goldene Saiten vor Kraft glühten.
Das Instrument war riesig, ragte hoch über ihn empor und war bis ins kleinste Detail mit komplizierten Runen verziert, von denen jede ein Gesetz des Universums darstellte und die Realität zusammenhielten.
Die Handwerkskunst übertraf alles, was sterbliche Hände schaffen konnten. Es war mehr als ein Instrument – es war ein Relikt der Schöpfung selbst.
An der Spitze der Harfe befand sich ein Symbol – auffällig, unverkennbar und unheimlich vertraut.
Drei umgekehrte Sechsen, das Zeichen des Morgensterns, Luzifers Brandmal, leuchteten unheilvoll im ätherischen Licht. Dies war das letzte Teil von Luzifers heiliger Waffe, und Lenny kannte die Legenden gut. Das erste war Anguis, der Stab, der die Schlangen des Tötens, Stehlens und Zerstörens trug.
Das zweite war der Corrupter, die Waffe, die er in der Nähe der Nabelschnur der Zwillingsplaneten gesehen hatte. Und nun lag vor ihm das dritte Teil – die Harfe, die sowohl das Herz als auch der Kern Luzifer Morningstars selbst war.
Dies war nicht nur eine Reliquie, sondern Luzifers Essenz.
Als die Harfe vor ihm stand, spürte Lenny eine magnetische Anziehungskraft. Er wurde davon angezogen und konnte sich nicht dagegen wehren. Ohne es zu merken, streckte er seine Hand aus und berührte mit seinen Fingern die goldenen Saiten. Sofort erfüllte ein Klang die Luft – eine Melodie, die so rein und herzzerreißend schön war, dass es ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
Es war unbeschreiblich, transzendent. Die Musik, die aus der Harfe strömte, war anders als alles, was Lenny je gehört hatte. Es war nicht nur Musik – es waren Emotionen, roh und kraftvoll. Es war Trauer und Freude, Schöpfung und Zerstörung, alles verwoben zu einer Symphonie, die durch die Struktur der Realität hallte.
Die Engel, die zusahen – einst so prächtige Wesen, die nun gefallen waren – konnten ihre Tränen nicht zurückhalten. Ihre Augen füllten sich mit der schieren Schönheit dieses Anblicks, denn sie erinnerten sich noch gut an die Zeit, als Luzifer selbst den himmlischen Chor geleitet hatte. Seine Stimme war die schönste gewesen, seine Musik die göttlichste.
Selbst in seinem Fall, selbst in seiner Verderbtheit war diese Schönheit geblieben. Man sagte, dass die Luft um ihn herum einst Musik selbst gewesen sei. Und jetzt, in diesem Moment, schien diese vergessene Herrlichkeit wieder aufzutauchen, strahlte von der Harfe aus und erfüllte das Fegefeuer mit Ehrfurcht.
Doch dann änderte sich etwas.
Die schöne Melodie wurde plötzlich verstörend, die Atmosphäre wurde dunkler und bedrückender. Die goldenen Saiten, die zuvor in einem sanften, ätherischen Licht geglüht hatten, begannen sich zu verändern. Lenny hatte kaum Zeit zu reagieren, bevor die Saiten, als ob sie von einem eigenen Willen getrieben würden, auf ihn zustürmten. In einem Augenblick verwandelte sich das einst so schöne Instrument in etwas weitaus Unheimlicheres. Die Saiten, scharf wie Nadeln, schlugen um sich und bohrten sich mit brutaler Wucht in Lennys Körper.
Schmerz durchfuhr ihn. Damit hatte er nicht gerechnet.
Jede Saite bohrte sich tief in sein Fleisch, grub sich in seine Arme, seine Brust, seine Beine – überall, wo sie nur konnte. Der Schmerz war unerträglich und durchzuckte seinen Körper wie Feuer. Das goldene Licht der Harfe war bösartig, ihre Schönheit eine trügerische Maske für die brutale Kraft, die ihn nun verzehrte.
Lenny schnappte nach Luft, Blut tropfte aus den Einstichwunden und färbte die Luft rot. Die Saiten der Harfe gruben sich tiefer ein, verflochten sich mit seinem Wesen und zogen an seiner Essenz, als wollten sie mit ihm verschmelzen – nein, als wollten sie ihn werden.
Lennys Gedanken rasten. Uriel hatte ihm gesagt, dass er, um Luzifers Kern für sich zu beanspruchen, mit ihm verschmelzen müsse, seine Seele an die Essenz des Morgensterns binden müsse. Darauf hatte er sich vorbereitet.
Aber das hier? Das war etwas anderes. Das war keine Verschmelzung, das war eine Vergewaltigung.