Lenny starrte auf das klaffende Loch in seiner Brust und sah, wie sein eigenes Blut auf den Boden tropfte.
Durch die Wunde konnte er die verschneite Landschaft hinter sich sehen, eine beunruhigende Erinnerung an die Verletzung, die er gerade erlitten hatte. Aber trotz der Schwere der Verletzung zuckte Lenny nicht mit der Wimper.
Wo ein normaler Mensch zusammengebrochen wäre, stand Lenny, der sich nun im Reich eines mächtigen Dämons befand, fest auf seinen Beinen.
Die Verletzung war zwar schwer, aber nicht tödlich – noch nicht.
Mit einer Grimasse rief Lenny seine Fähigkeit herbei, die es ihm ermöglichte, seinen Körper auf zellulärer Ebene zu kontrollieren.
Er konzentrierte sich auf das zerfetzte Fleisch und zwang seine Zellen, sich zusammenzufügen und die Wunde zu verschließen, um die Blutung zu stoppen. Seine Brust schmerzte immer noch und das Loch war noch da, aber die Blutung hatte nachgelassen und sein Geist blieb auf den Kampf fokussiert.
Allerdings hatte er immer noch dasselbe Problem: Keiner seiner Schläge konnte den alten Mann treffen. Jeder Schlag ging einfach durch ihn hindurch, als wäre er ein Geist. Lennys Wut brodelte unter der Oberfläche, aber sein Verstand war klar und berechnend. Wenn er seinen Gegner nicht direkt treffen konnte, musste er den alten Mann ihn treffen lassen und in diesem Moment zurückschlagen.
Der nächste Schlag kam direkt auf sein Gesicht zu. Diesmal versuchte Lenny nicht auszuweichen. Stattdessen lehnte er sich in den Schlag hinein und fing die volle Wucht des Angriffs mit seinem Kiefer ab. Die Wucht hallte in seinem Schädel wider, aber er ignorierte den Schmerz und schlug gleichzeitig mit seiner eigenen Faust zu, um den alten Mann während des Schlagabtauschs zu treffen.
Aber wieder ging seine Faust durch den Körper des alten Mannes hindurch, und Lenny taumelte nach vorne, sein Schlag traf nur Luft. Sein Schwung trug ihn direkt durch den Körper des alten Mannes, und bevor er sich erholen konnte, landete ein weiterer Schlag direkt auf seinem Rücken und schleuderte ihn durch die Landschaft. Lenny stürzte über den Boden, rutschte aus und blieb liegen, während er Blut hustete und den Schnee unter sich tiefrot färbte.
Er stöhnte und spürte, wie der Kampf an ihm zehrte. Sein Körper schmerzte, und der Geschmack von Blut lag in seinem Mund, aber er war weit davon entfernt, aufzugeben. Als er sich mühsam aufrappelte, landete der alte Mann ein paar Meter entfernt und ragte wie ein Mini-Riese über ihm auf. Sein gealtertes Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Grinsen, als er Lenny amüsiert ansah.
„Ich weiß, was du denkst“, sagte der alte Mann mit herablassender Stimme. „Du dachtest, wenn du mich dich schlagen lässt, hast du eine Chance, zurückzuschlagen. Aber wie ich dir bereits gesagt habe, funktionieren die Gesetze dieses Reiches nicht so.“ Er lachte düster und schüttelte den Kopf. „Solange du die Gesetze dieses Ortes nicht verstehst, wirst du mich niemals berühren können.“
Lenny wischte sich das Blut vom Mund und kniff die Augen zusammen, während er seinen Gegner anstarrte.
In der Ferne standen die anderen Siegel schweigend da und beobachteten den Kampf. Das dritte Siegel – der alte Mann – lächelte weiterhin, überzeugt von seiner unantastbaren Überlegenheit. Aber Lenny war noch nicht fertig.
Weitere Schläge trafen Lenny, Schläge, die wie Klingen durch die Luft schnitten. Lenny hatte jedoch keine andere Wahl, als mehrere Schritte zurückzuweichen.
Durch den ununterbrochenen Kampf und durch den aktivierten Willen und Berserker war ihm endlich klar geworden, dass rohe Gewalt ihm nicht helfen würde, seine derzeitige missliche Lage zu lösen.
Lenny drängte nicht mehr vorwärts.
Stattdessen zog er sich zurück. Und da bemerkte er es. Die Bewegungen des alten Mannes. Seine Haltung, unabhängig von den Techniken, die er anwendete, alles daran war wie ein Spiegelbild. Es war alles wie Lennys, nur etwas verfeinert, um besser zu sein als er.
Nachdem er eine Weile gelaufen war, brach Lenny endlich sein Schweigen, seine Stimme fest, aber von einer unerwarteten Ruhe erfüllt. „Es tut mir leid“, sagte er, und seine Worte hatten ein Gewicht, das sogar ihn selbst überraschte.
Der alte Mann, der schon zu einem weiteren Schlag ausholte, erstarrte und kniff verwirrt die Augen zusammen. Er trat ein paar Schritte zurück, als würde er Lennys Verhaltensänderung überdenken. Für einen Moment schien sich die Spannung zwischen ihnen aufzulösen. Dann dämmerte es Lenny – alles, was er erlebt hatte, war nicht so, wie es schien.
Die ganze Zeit über war der Kampf ein Spiegelbild seines eigenen Geistes, seiner Absichten gewesen. Das dritte Siegel griff ihn nicht einfach sinnlos an. Es reagierte auf die Gewalt, die Lenny in sich trug.
Genauso wie Lenny einen Blick in die Gedanken der Robbe geworfen hatte, hatte auch die Robbe einen Blick in seine Gedanken geworfen. Sie hatte seine Aggression und seine Wut gespiegelt, und deshalb war die Konfrontation so brutal und unerbittlich verlaufen. Der alte Mann war nicht nur eine Robbe – er spiegelte Lennys eigene Gewaltlust wider.
Lenny sah dem alten Mann in die Augen, seine Brust schmerzte noch immer, aber sein Geist war klar. „Darf ich passieren?“, fragte er mit leiser, aber entschlossener Stimme.
Einen Moment lang stand der alte Mann schweigend da und sah Lenny mit einem Ausdruck an, der nicht mehr feindselig war. Dann nickte er leicht und sagte: „Das ist alles, was ich wollte“, sagte der alte Mann, jetzt mit viel sanfterer Stimme, fast müde. „Das ist alles, was ich immer wollte. Ich bin zwar eine Robbe, aber ich lebe. Alle, die gekommen sind, wussten das, aber sie haben nie daran gedacht, sich zu verständigen, zu fragen. Sie haben nur Gewalt angewendet.“
Das verwitterte Gesicht des alten Mannes verzog sich zu einem schwachen, bittersüßen Lächeln. „Schließlich bin ich ein Mensch. Wir sind Menschen“, sagte er und zeigte auf die anderen Robben. „Und ich habe mich danach gesehnt, dass mich jemand fragt, anstatt zu kämpfen.“
Lenny stand still da und nahm die Worte des alten Mannes in sich auf. Der Kampf war nie notwendig gewesen – sein Verständnis dieser Welt und seiner selbst war unvollständig gewesen.
Die Robbe hatte darauf gewartet, dass Lenny erkannte, dass Macht nicht immer mit roher Gewalt zu tun hat, sondern mit Verständnis, Respekt und der einfachen Geste, um etwas zu bitten.
„Wer hätte gedacht, dass ‚bitte schön‘ die Antwort ist“, dachte Lenny bei sich.
Mit einem letzten Nicken trat der alte Mann beiseite und machte den Weg frei.
Plötzlich erhoben sich die anderen Robben, die bis jetzt still zugeschaut hatten, wie ein Mann.
Ihre Bewegungen waren synchron, als hätten sie ein einziges Bewusstsein, ein einziges Ziel. Die Erde unter Lenny bebte und vibrierte vor uralter Kraft. Risse bildeten sich im Boden und breiteten sich wie ein Spinnennetz aus. Mit einem tiefen, dröhnenden Geräusch teilte sich der Boden und gab den Blick auf eine riesige, leuchtende Schlucht vor Lennys Füßen frei.
Von außen beobachteten Naamah und Lamastu das Geschehen mit großen Augen und voller Unglauben.
Noch vor wenigen Augenblicken hatte Lenny in einem erbitterten Kampf gestanden, von dem sie glaubten, dass er ihn vernichten würde. Aber jetzt gab es keinen Kampf mehr. Das dritte Siegel, das wie eine unbesiegbare Kraft über ihm aufragte und ihn wie ein schwarzes Loch zu verschlingen versuchte, trat beiseite, als würde es ihn verehren. Die Erde selbst öffnete sich nicht, um ihn in seiner Niederlage zu verschlingen, sondern um ihn willkommen zu heißen, als hätte er Zugang zu etwas viel Größerem erhalten.
Und das hatte er tatsächlich. Schließlich war dies das Fegefeuer, das Gefängnis der Gefallenen.
Die Siegel, jedes einzelne in seiner uralten Form prächtig, begannen sich zu öffnen. Eines nach dem anderen schimmerten sie und barsten auf, wobei sie ihre Energie in strahlenden Lichtblitzen freisetzten. Es war kein chaotisches oder gewalttätiges Spektakel, sondern eine wunderschöne, rhythmische Abfolge, wie das Entfalten eines heiligen Rituals.
Jedes Siegel entfesselte eine andere Lichtfarbe, und die Luft um Lenny pulsierte vor Kraft, als sich ihre Barrieren auflösten. Die einst einschüchternden Formen der Siegel schienen sich nun in Anerkennung zu verneigen, als würden sie sich seiner Präsenz unterwerfen.
Naamah stockte der Atem. „Zähmt er sie?“, flüsterte sie, Ungläubigkeit und Ehrfurcht in ihrer Stimme.
Lamastu stand regungslos neben ihr und starrte gebannt auf die Szene, die sich vor ihnen abspielte. Es war jenseits aller Vorstellungskraft – Lenny kämpfte nicht gegen die Siegel, er war eins mit ihnen geworden. Die Siegel, diese Wesen von unvorstellbarer Macht, ließen ihn passieren, nicht durch Gewalt, sondern durch Anerkennung.
Die letzte Robbe brach auf, und ihr Glanz hüllte Lenny in ein überirdisches Leuchten. Der Boden unter ihm bebte noch einmal, bevor er sanft nachgab. Die Erde, die zuvor trotzig gezittert hatte, bewegte sich nun, als würde sie ihn wiegen, und öffnete einen Weg direkt in ihr Innerstes. Langsam wurde Lenny von der Schlucht verschluckt, während sich die Robben im Hintergrund zurückzogen.
Von oben konnten Naamah und Lamastu nur sprachlos zusehen, wie Lenny in den Tiefen der Erde verschwand. Die einst feindseligen Siegel standen nun als stille Wächter da, versperrten ihm nicht länger den Weg, sondern begleiteten ihn nach innen, in ein Reich, das nur wenige jemals betreten konnten.
Als sich die Erde hinter ihm schloss, hinterließ sie keine Spuren des Kampfes, keine Narben auf dem Land. Alles, was blieb, war die Stille und das Wissen, dass Lenny etwas viel Größeres als Macht freigesetzt hatte – er hatte den Willen der Robben selbst freigesetzt.
Und im Inneren warteten sie. Denn die Öffnung der Robben war nicht nur denen außerhalb bekannt, sondern auch denen innerhalb.
Engel, so weit das Auge reichte …