In den stickigen Tiefen der Hölle hatte Lilith sich in die dritte Ebene gewagt – einen Ort, der anders war als alle anderen in der höllischen Hierarchie.
Zu Zeiten der Herrschaft des Morgensterns war hier einst die verfluchte Dämonen-Königsfamilie der Leviathaner zu Hause.
Dieser Bereich stand in unheimlichem Kontrast zu den üblichen Vorstellungen von der Hölle. Es gab keine lodernden Flammen, keinen beißenden Frost, nicht einmal feurige Flüsse oder zerbrochene Himmel. Stattdessen war es ein ödes Land, ohne Leben, verdorrt und grau, wo nicht einmal Feuer Fuß fassen konnte. Die Atmosphäre selbst war bedrückend, die Luft roch nach Verwesung, als ob der Tod selbst hier herrschte. Jeder Atemzug schmeckte abgestanden, als ob das Leben längst geflohen war.
Es war, als würde das Land trauern, denn dies war das Gebiet der untoten Dämonen – der Leviathane. Sie waren weder ganz lebendig noch wirklich tot, sondern für immer dazu verdammt, in der Zwischenwelt zu existieren.
Die Vorahnung war hier stark, wie ein unsichtbarer Nebel, der sich an alles klammerte und es in die Vergessenheit zog. Die Umgebung spiegelte die Familie wider, die einst hier gedieh, verlassen und trostlos, doch voller ständiger Erinnerungen an die drohende Gegenwart des Todes.
Lilith bewegte sich vorsichtig durch diese verfallene Welt, ihre Schritte bedächtig. Hinter ihr folgte Athena, still und wachsam, ihr Verhalten zeugte von unerschütterlicher Loyalität.
Virgil, Liliths vertrauenswürdigster Diener, war auf einer separaten Mission und sie hatte die Mundschenken zurückgelassen.
Liliths Vertrauen reichte nicht bis zu ihnen, nicht hier. Außerdem sorgte Leviathans Fluch dafür, dass niemand ihn sehen konnte – nicht wirklich. Ihn zu sehen war buchstäblich ein Gräuel.
Selbst mit ihren geschärften Sinnen konnte Athena Leviathan nicht vollständig wahrnehmen. Alles, was sie spürte, war eine Abwesenheit, eine Leere, in der alles Leben ausgelöscht worden war.
Wegen seines Fluchs trug sogar Lilith eine Augenbinde, um sich vor einem Wesen zu schützen, das kein Sterblicher oder Unsterblicher sehen durfte.
Athena konnte Leviathans Anwesenheit spüren, aber es war nichts weiter als eine dunkle, hohle Leere. Eine Leere. Die Abwesenheit von Leben, von Energie. Es war ein beunruhigendes Gefühl, doch sie blieb ruhig und folgte ihrer Königin.
Ihre Gedanken jedoch brodelten unter ihrer ruhigen Oberfläche. Denn dieser Ort war anders als alles, was sie jemals gesehen hatte – ein Ort, der vom Tod selbst berührt war, und die Anwesenheit des Leviathan machte es nur noch schlimmer.
Schließlich, nach einer langen Stille, hallte Leviathans Stimme durch die Ödnis. Sein Tonfall war wie ein fauliger Wind, schwer von uralter Verwesung, der das Gewicht jahrhundertelanger Verdammnis mit sich trug. „Dieser Ort ist gut genug“, krächzte er, und seine Worte klangen unerbittlich endgültig.
Lilith blieb stehen und drehte sich mit verbundenen Augen zu ihm um. Ihr Gesichtsausdruck blieb neutral, aber ihre Lippen waren zu einer gerunzelten Linie verzogen. Sie neigte den Kopf, als könnte sie ihn durch ihre verbundenen Augen sehen. „Und was mache ich jetzt?“
Leviathans Antwort war kalt und sachlich. „Ganz einfach. Du stirbst.“ Die Worte schnitten durch die Luft wie ein Todesurteil. „Denn nur im wahren Tod begegnet man Lady Death, der Ewigen Dame, dem Ende aller Dinge.“
Lilith presste frustriert die Lippen aufeinander. „Du hast unsere Vereinbarung vergessen“, warnte sie mit leiser, drohender Stimme. Aber Leviathan blieb unbeeindruckt.
„Es ist der einzige Weg“, antwortete er ohne zu zögern. Sein Tonfall wurde düsterer, geheimnisvoller. „Das Reich des Todes ist riesig, größer als viele Höllen zusammen. Es ist kein Ort, den man einfach so betreten kann. Aber ich werde dir helfen, ihn zu erreichen.“
Plötzlich durchbrach ein groteskes, feuchtes Reißen die Stille. Lilith spannte sich an, als sie es hörte – das unverkennbare Geräusch von Fleisch, das aufgerissen wurde.
Leviathan hatte seine Brust weit aufgerissen und den hohlen Raum freigelegt, in dem einst sein Herz geschlagen hatte. Aus dieser Leere pulsierte etwas mit einem unheimlichen, purpurroten Schimmer – eine Seite, aber nicht irgendeine Seite. Es war die „Alpha-Seite“ aus dem Buch des Todes. Diese Seite war nicht wie die anderen und wurde aus vielen Gründen „Alpha“ genannt. Ein Artefakt von unvorstellbarer Macht, das ein ätherisches rotes Licht ausstrahlte.
Er zog sie aus seiner Brust und reichte sie ihr. Lilith streckte die Hand aus und berührte sie mit ruhigen Fingern. Selbst sie, mit ihrem umfangreichen Wissen und ihrer Erfahrung, schnappte nach Luft, als sie sah, was sie in den Händen hielt. „Das ist dein Herz“, flüsterte sie mit einer Stimme, in der sowohl Ehrfurcht als auch Belustigung mitschwang. Sie grinste spöttisch und fügte hinzu: „Hast du keine Angst, dass ich es zerstöre und dich damit vernichte?“
Leviathan lachte leise, ein gutturales Grollen, als würde sich die Erde in einem Grab bewegen. „Wenn du mich tot sehen würdest, hättest du mich nicht aus meinem Gefängnis befreit“, erwiderte er ruhig, ohne eine Spur von Angst in seiner Stimme.
Lilith hob eine Augenbraue unter ihrer Augenbinde. „Und wie komme ich in das Reich des Todes?“
Wieder war seine Antwort erschreckend. „Du musst sterben. Mein Herz wird dich zu Lady Deaths Schloss führen, sobald du die Schwelle überschritten hast.“
Lilith runzelte die Stirn. „Aber wie komme ich zurück?“ In ihrer Stimme schwang jetzt mehr als nur Frustration mit, sie war wirklich besorgt. Das Risiko war selbst für sie zu groß.
Leviathans Lachen war leise, aber düster und von boshafter Belustigung durchdrungen. „Das tust du nicht“, sagte er schlicht. „Der einzige Weg zurück ist der Ruf eines Phönix, der wiedergeboren wird. Aber das ist unmöglich, nicht wahr?“ Seine Worte klangen endgültig, und dann kam die grausame Erinnerung. „Schließlich wurden alle Phönixe ausgerottet.“
Das Gewicht seiner Worte hing in der Luft, eine düstere Realität für jeden, der die Geschichte der Hölle kannte. Die Auslöschung der Phönixe war kein Geheimnis, aber der Grund für ihre Vernichtung blieb ein Rätsel.
Bevor Lilith wieder etwas sagen konnte, trat Athena, die bis jetzt geschwiegen hatte, plötzlich vor. „Ich kann dabei helfen.“
Sowohl Lilith als auch Leviathan drehten sich zu ihr um, obwohl Leviathans unsichtbare Augen voller Misstrauen waren. Er sah, wie Athena mit der Hand winkte und einen Kreis aus leuchtenden Flammen herbeirief. Es waren keine gewöhnlichen Flammen; sie brannten mit einer Helligkeit, die der verfallenen Umgebung trotzte, und flackerten mit einer Lebenskraft, die an diesem Ort des Todes nicht existieren sollte.
Diese Flammen trugen die Signatur eines Phönix – eine unmögliche Kraft in der derzeitigen öden Einöde der Hölle.
Schließlich wusste niemand besser als er um den wahren Untergang aller Phönixe in der Hölle.
Leviathans Schock war offensichtlich, und seine Stimme verriet seine Ungläubigkeit. „Ein Mensch … der die Macht einer Höllenbestie besitzt?“
Aber Athena gab keine Erklärung, ihr Blick war fest auf die bevorstehende Aufgabe gerichtet. Welche Geheimnisse sie auch immer hatte, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sie zu enthüllen. Lilith spürte die Verschiebung der Machtverhältnisse und ließ ein kleines, zufriedenes Lächeln über ihre Lippen huschen.
„Dann lass es uns tun.“ Ohne Zeit zu verlieren, schnitt Lilith sich mit ihren eigenen Fingern plötzlich in den Hals und tötete sich damit.