Yun Lintian starrte auf das Schachbrett zwischen ihnen. Er war nie besonders gut in diesem Spiel gewesen – sein Leben bestand aus Training und Kämpfen, nicht aus gemütlichen Strategiespielen. Aber die Herausforderung in Ping Hengs Augen war unübersehbar.
Wenn du meine Macht willst, beweise, dass du sie auch nutzen kannst.
„Ich spiele“, sagte Yun Lintian.
Er griff nach einem schwarzen Bauern – und in dem Moment, als seine Finger die Figur berührten, veränderte sich die Welt.
Ein erdrückendes Gewicht lastete auf seinen Schultern. Sein Atem stockte, seine Sicht verschwamm und wurde dann mit erschreckender Klarheit scharf. Das Schachbrett war nicht mehr nur ein Brett – es war die Welt.
Jede Figur stand für eine Kraft der Existenz. Die Bauern waren sterbliche Leben, die wie Kerzen im Wind flackerten. Die Springer waren Krieger, gebunden durch Ehre und Blut. Die Läufer waren Glaube und Wissen, die Türme die unerschütterlichen Fundamente der Realität. Die Königin – grenzenloses Potenzial. Der König – der zerbrechliche Kern von allem.
Und ihm gegenüber saß Ping Heng wie ein unbeweglicher Berg, seine Präsenz so beständig wie der Himmel selbst.
„Du spürst es jetzt, nicht wahr?“, sagte Ping Heng ruhig. „Dies ist kein gewöhnliches Spiel. Jeder deiner Züge wird das Gleichgewicht aller Dinge beeinflussen.“
Yun Lintian atmete langsam aus, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Der Druck war unerträglich – als würde er den Himmel mit bloßen Händen stützen. Aber er gab nicht nach.
Er zog den Bauern vorwärts.
Klirrr.
In dem Moment, als die Figur auf dem Brett landete, bebten die schwebenden Inseln um sie herum. Ein fernes Reich irgendwo im Kosmos verschob sich, sein Schicksal wurde durch die einfache Bewegung eines Bauern verändert.
Ping Heng lächelte und konterte mühelos, indem er einen weißen Springer zog.
Klirrr.
Eine erdrückende Kraft traf Yun Lintian in der Brust. Er biss die Zähne zusammen, als Bilder vor seinen Augen aufblitzten – Kriege brachen aus, Allianzen zerbrachen, alles wegen dieses einen Zuges.
Hei Xuan, der von der Seite zusah, pfiff leise. „Verdammt. Du hast nicht gescherzt, als du gesagt hast, dass es ernst ist.“
Ping Heng ignorierte ihn und starrte Yun Lintian an. „Schach ist mehr als Strategie. Es ist Philosophie in Form gebracht. Eine Figur zu ziehen bedeutet, eine Entscheidung zu treffen – und jede Entscheidung hat Konsequenzen.“
Yun Lintian antwortete nicht. Seine Gedanken rasten und analysierten das Brett. Er war bereits im Nachteil – sein Eröffnungszug war zu einfach gewesen, zu leicht zu kontern.
Er musste sich anpassen.
Er zog einen Läufer.
Klirrr.
Die Welt bebte erneut, aber diesmal war die Reaktion anders – subtiler, eher wie eine Welle in einem Teich als wie ein bebendes Erdbeben.
Ping Heng hob leicht die Augenbrauen. „Interessant.“
Er konterte, aber nicht so schnell wie zuvor.
Yun Lintian verzog die Lippen. Das hatte er nicht erwartet.
Das Spiel wurde intensiver.
Zuerst waren Yun Lintians Züge ungeschickt, seine Unerfahrenheit war offensichtlich. Ping Heng zerlegte seine Strategien mit Leichtigkeit, jeder Konter versetzte ihm einen Schlag. Aber langsam änderte sich etwas.
Yun Lintian lernte dazu.
Er beobachtete Ping Hengs Muster, studierte den Spielverlauf und begann, vorauszudenken. Sein nächster Zug war unorthodox – ein rücksichtsloser Vorstoß, der auf den ersten Blick töricht erschien.
Ping Heng hielt inne.
Dann zögerte er zum ersten Mal, bevor er konterte.
Hei Xuans Augen weiteten sich. „Moment mal, hast du gerade …?“
Yun Lintian ließ nicht locker. Er drängte vorwärts und opferte Figuren auf eine Weise, die keinen Sinn ergab – bis sie plötzlich Sinn ergab.
Eine Falle.
Ping Hengs König war in die Enge getrieben, bevor er es überhaupt bemerkte.
Der Gott der Balance starrte auf das Brett, sein Gesichtsausdruck unlesbar. Dann lachte er leise.
„Gut gespielt.“
Er zog seinen König zur Seite – noch nicht kapituliert, aber die Wende im Spiel anerkannt.
Yun Lintian atmete schwer, seine Robe war schweißnass. Die Last der Welt lastete immer noch auf ihm, aber jetzt fühlte es sich anders an.
Er begann zu verstehen.
Das war nicht nur eine Partie Schach.
Es war ein Kampf der Willenskräfte.
Und Yun Lintian war noch nie jemand gewesen, der verlor.
Er zog seine Königin.
Klirrr.
Die Welt hielt den Atem an.
Ping Heng schaute auf das Brett und dann mit etwas, das Respekt ähnelte, zu Yun Lintian hoch.
„Du bist besser, als ich dachte“, sagte er ruhig. „Aber das ist nicht der Sieg, den du dir erhofft hast.“
Ping Hengs Finger schwebten über seinem weißen Läufer.
Klirrr.
In dem Moment, als die Figur sich bewegte, schrie die Welt auf.
Yun Lintians Sicht wurde weiß. Seine Knochen knackten unter einer unsichtbaren Last, seine Meridiane brannten, als wären sie mit geschmolzenem Stahl gefüllt. Blut tropfte aus seinem Mundwinkel auf das Schachbrett, wo jeder Tropfen wie Säure auf dem Holz zischte.
„Großer Bruder Yun!“, schrien Linlin und Qingqing gleichzeitig, ihre kleinen Körper zitterten.
Yun Lintian beachtete sie nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Brett – der Katastrophe, die Ping Heng mit einem einzigen Zug ausgelöst hatte.
Die schwebenden Inseln über ihnen zerbrachen und ihre Fragmente erstarrten in der Luft. Die Spiegelwelten darunter verwandelten sich in groteske Formen, die Realität selbst verbog sich unter dem Willen des Gottes der Balance.
Hei Xuans Grinsen verschwand. „Alter Mann … du hältst dich überhaupt nicht zurück.“
Ping Hengs Blick blieb auf Yun Lintian haften. „Warum sollte ich?“
Yun Lintians Hände zitterten, als er das Brett studierte.
Jeder Weg führte ins Verderben.
Ping Heng hatte das Blatt komplett gewendet. Was vor wenigen Augenblicken noch wie Yun Lintians Vorteil schien, war nun eine Todesfalle – jede seiner Figuren war isoliert, sein König ungeschützt. Der Druck war unerträglich, als hätte das gesamte Universum beschlossen, ihn unter seiner Ferse zu zermalmen.
Klirrr.
Yun Lintian zog einen Turm und opferte ihn, um Zeit zu gewinnen.
Ping Heng konterte sofort.
Klirrr.
Ein stechender Schmerz durchzuckte Yun Lintians Schädel. Bilder schossen ihm durch den Kopf – ganze Zivilisationen zerfielen, Sterne erloschen, Zeitlinien lösten sich auf – alles wegen dieses einen Zuges.
„Schach ist Balance“, sagte Ping Heng leise. „Und Balance ist gnadenlos.“
Yun Lintian hustete, und mehr Blut befleckte seine Lippen. Sein Körper fühlte sich an, als würde er auseinanderbrechen, aber seine Augen brannten vor Trotz.
Denk nach.
Er zwang seine zitternden Finger nach vorne und griff nach einem schwarzen Springer.
Klirrrr.
Die Figur landete mit einem Geräusch wie ein Donnerschlag.
Zum ersten Mal runzelte Ping Heng leicht die Stirn.
Hei Xuan schnappte scharf nach Luft. „Dieser Zug … du Verrückter.“
Yun Lintian hatte das Undenkbare getan – er hatte seinen König aufgegeben. Anstatt ihn zu verteidigen, hatte er einen totalen Angriff gestartet und seine wichtigste Figur ungeschützt gelassen.
Ping Heng betrachtete das Brett, dann Yun Lintian. „Du würdest alles auf einen einzigen Schlag setzen?“
Yun Lintian wischte sich das Blut vom Mund. „Du hast es selbst gesagt. Das Gleichgewicht ist gnadenlos.“ Er sah Ping Heng in die Augen. „Ich auch.“
Die Luft zwischen ihnen knisterte.
Ping Heng machte einen Zug.
Klirrrr.
Yun Lintians Sicht wurde schwarz.
Für einen schrecklichen Moment hörte er auf zu existieren – sein Bewusstsein zerstreute sich in der Leere, seine Seele löste sich auf …