„Aber“, Shan Que schüttelte den Kopf, „ich fürchte, das reicht noch nicht.“
„Ich habe mein Bestes gegeben, um ihn anzuleiten. Jetzt hängt alles von ihm ab“, sagte Tian He mit tiefer Stimme.
Shan Que schwieg.
„Übrigens“, fragte Tian He, „was waren die Schwächen des früheren Yun Tian?“
„Das waren die Folgen seines verrückten Experiments“,
antwortete Shan Que. „Er hat versucht, die Kraft zu extrahieren und zu duplizieren.“
Tian Hes Pupillen verengten sich. Er war wirklich schockiert. „Wirklich verrückt … Kein Wunder.“
„Aber es war teilweise erfolgreich“, sagte Shan Que und schaute auf Yun Lintians Bauch, wo sich sein Göttlicher Kern befand.
Tian He verstand sofort. „Das erklärt alles. Ich habe immer gedacht, Yun Lintian sei mit einer natürlichen Begabung geboren worden.“
„Da liegst du nicht falsch“, sagte Shan Que sanft. „Bei anderen würde das nicht funktionieren. Dieser junge Mann kann auch ohne diese Kraft als der begabteste Mensch der Vergangenheit und Gegenwart angesehen werden. Das solltest du gut verstehen.“
Tian He nickte langsam. Die Zeit, die er mit Yun Lintian verbracht hatte, hatte ihm eine Tiefe des Verständnisses offenbart, die selbst seine kühnsten Erwartungen weit übertraf. Der Junge war ein Wunderkind, ein potenzieller Meister in allem, was er sich vornahm, wenn man ihm nur genug Zeit gab.
„Fürs Erste wird es ihm gut gehen. Sein Zustand ist nicht geeignet, um ihm die Macht der Zeit zu nehmen“, sagte Shan Que und zog seine Hand zurück. „Wie viel Zeit hat er noch?“
„Nicht mehr als hundert Jahre“, antwortete Tian He.
„Hundert Jahre, hm?“ Shan Que dachte einen Moment nach und fragte dann: „Was ist mit dir? Hast du vor, mitzumachen?“
Tian He lachte leise, und in seinen Augen blitzte ein Funken Belustigung auf. „Nein, alter Freund. Es ist Zeit für mich, mich auszuruhen. Dieser Ort … der klare Fluss, die grünen Berge … er passt gut zu mir.“
Shan Que lächelte wissend. „Ich kann mir nur vorstellen, wie schockiert einige wären, wenn sie das von dir hören würden. Jiang He, der Mann, der Landschaften mit Blut gemalt hat … jetzt zufrieden im Ruhestand.“
„Und du warst auch nicht gerade ein Vorbild an Tugend“, konterte Tian He mit einem verschmitzten Blick. „Wer hätte gedacht, dass der sanfte Arzt eine so … makabre Vergangenheit hat? Apropos, was ist eigentlich aus deiner … Sammlung geworden?“
Die Dorfbewohner hatten natürlich keine Ahnung, dass der freundliche Arzt in ihrer Mitte einst Freude daran hatte, Menschen zu sezieren und ihre Organe als Trophäen aufzubewahren.
Shan Que warf den Kopf zurück und lachte. „Alter Jiang, alter Jiang, immer so zynisch. Ich, eine friedliche Seele? Natürlich habe ich sie entsorgt!“
„Das soll ich glauben?“, spottete Tian He und starrte den scheinbar freundlichen alten Mann an.
Shan Que lachte leise und wandte seine Aufmerksamkeit Yue Yun zu. „Diese junge Dame … Mondenergie. Könnte es eine Verbindung zum Mondgott geben?“
„Wir können nur warten, bis sie aufwacht und es uns erklärt“, gab Tian He zu. Die Göttergruft beherbergte viele rätselhafte Wesen, und es überstieg sein Wissen, alle zu identifizieren.
Shan Que hielt eine Hand über Yue Yun, runzelte konzentriert die Stirn und untersuchte ihren Zustand.
„Hmm?“ Ein Ausdruck der Überraschung huschte über sein Gesicht. „Etwas Unerwartetes.“
Tian Hes Neugier war geweckt. „Was ist los?“
Shan Que nahm seine Hand zurück, versank in nachdenklicher Stille und sagte schließlich: „Alter Jiang, vielleicht sind wir wirklich nicht mehr die Jüngsten. Es scheint, als hätte ich erhebliche Wissenslücken.“
Tian He hob eine Augenbraue, musterte Yue Yun, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen.
Shan Que lachte humorlos. „Erstaunlich, wirklich. Es entfaltet sich wie ein sorgfältig ausgearbeitetes Kunstwerk. Hier ist ein Meister des Schicksals am Werk.“
„Behalte das nicht für dich“, drängte Tian He.
Shan Que sah ihm in die Augen und übermittelte Tian He eine Nachricht direkt in seinen Geist.
Tian He riss ungläubig die Augen auf. „Kann das wahr sein?“
„Ohne Zweifel“, bestätigte Shan Que mit fester Stimme.
Tian He sank in einen Stuhl in der Nähe und murmelte vor sich hin: „Unglaublich.“
„In der Tat“, stimmte Shan Que mit einem ironischen Lächeln zu. „Wir waren die ganze Zeit blinde Narren.“
Eine bedrückende Stille senkte sich über sie, bevor Tian He endlich sprach. „Sind wir auch nur Schachfiguren in diesem Spiel?“
Shan Que nahm einen langsamen Schluck Tee. „Musst du das wirklich fragen? Wir haben es doch mit eigenen Augen gesehen.“
Tian He atmete tief ein. „Dann scheint ein Rückzug wohl nicht in Frage zu kommen.“
Shan Que seufzte und ließ seinen Blick über die friedliche Landschaft draußen schweifen. Er hatte sich hier seit Jahrtausenden ein Leben aufgebaut, und der Gedanke daran, es zu verlassen, war ihm unangenehm. Aber das Schicksal schien andere Pläne zu haben.
„Es tut mir leid“, sagte Tian He mit einem Anflug von Bedauern. „Vielleicht war es ein Fehler, ihn hierher zu bringen.“
Shan Que wandte sich seinem alten Freund zu, ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Glaubst du wirklich, das hätte etwas geändert? In all dem Urchaos bin ich der Einzige, der mit der Macht der Zeit umgehen kann, das weißt du.“
Tian He seufzte lang und müde. „Wir dachten, wir wären besiegte Spieler. Doch die Wahrheit verspottet uns. Wir sind die ganze Zeit nur Schachfiguren auf einem unsichtbaren Brett.“
Shan Que hielt seine Teetasse fest, während die ruhige Szene vor ihnen durch das Gewicht der Enthüllung getrübt wurde. Sie waren nicht länger bloße Beobachter, sondern gefangen in einem komplizierten Tanz eines Puppenspielers, eines Meisters des Schicksals.
Zu schweigen und zuzusehen, wie die Fäden sie weiter zogen, war keine Option mehr.
„Ugh …“
Eine angespannte Stille lag in der Luft, die nur durch Yun Litians unregelmäßiges Keuchen unterbrochen wurde. Sein einst ruhiger Gesichtsausdruck hatte sich in eine Grimasse purer Schmerzen verwandelt.
Schwarze Adern pulsierten unter seiner Haut und breiteten sich wie ein Spinnennetz von seinem Göttlichen Kern aus.
Tian He und Shan Que sahen mit wachsender Besorgnis zu. Die Kraft der Zeit, die zuvor in Yun Lintian brodelte, war in einen chaotischen Sturm ausgebrochen.
Plötzlich zuckte Yun Lintians Körper heftig. Ein blendendes Licht brach aus seiner Brust hervor und hüllte die Hütte für einen Moment in Dunkelheit. Die Zeit begann sich zu verlangsamen.
Tian He reagierte blitzschnell. Er stürzte sich auf Yun Lintian, streckte die Hand aus, um die Brust des Jungen zu erreichen, die Quelle der tobenden Kraft. Doch bevor er ihn berühren konnte, drückte ihn eine Welle zeitlicher Energie mit unsichtbarer Kraft zurück.
Er schlug auf den Boden und hustete Blut.
Shan Que runzelte besorgt die Stirn. „Sein Körper hält das nicht aus. Die Kraft ist zu viel für ihn.“
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, brach eine Welle smaragdgrünen Lichts aus Shan Que selbst hervor und prallte auf den Strom von Kraft, der Yun Lintian zu verschlingen drohte.
Die Zeit schien sich zu verlangsamen, jede Bewegung von Shan Que war bedächtig und unerschütterlich wie ein Berg, der einem Sturm trotzt.
Gerade als er den jungen Mann erreichen wollte, kehrte die zeitliche Energie, die Yun Lintian umgab, plötzlich um und zog sich mit einem heftigen Ruck zurück in Yun Lintians Körper …
