Yun Lintian starrte die Statue total baff an. Die Frau in der Statue war einfach eine größere Version von Hongyue. Ihre Gesichtszüge waren fast identisch.
Diese Erkenntnis erschütterte ihn zutiefst und zerschmetterte die zerbrechlichen Teile seines Verständnisses. Die Inschrift im Labyrinth erwähnte eine Championin, eine Frau, die das Mondzepter schwang. Nun stand er vor einer Statue einer Frau, die genau wie Hongyue aussah, in einer Stadt, die die Architektur des Friedhofs des Göttlichen Mondclans widerspiegelte.
Die Bedeutung dieser Verbindung war unbestreitbar.
Aber wie konnte das sein? Hongyue stammte aus dem Clan des Göttlichen Mondes, einem himmlischen Clan, der längst verloren war. Und doch existierte sie in seiner Welt. War das alles nur ein grausamer Zufall, ein kosmischer Scherz, der sich über seinen Verstand lustig machte?
Eine Million Fragen schwirrten in seinem Kopf herum, eine verwirrender als die andere. Gab es vielleicht Überreste des Clans des Göttlichen Mondes, die über verschiedene Dimensionen verstreut waren?
Oder war diese Stadt, diese Nekropole, nur ein Echo, ein Abbild einer längst vergangenen Zeit, das irgendwie in dieser Welt eingeprägt war?
Yun Lintian musste plötzlich an die Götter denken, denen er im Turm begegnet war. Sie behaupteten, die erste Generation von Göttern zu sein, die vom Schöpfer erschaffen worden waren, noch vor den dreizehn Urgöttern, die er kannte. Konnte der Clan des Göttlichen Mondes auch in dieser Zeit existiert haben?
Summen –
Das Licht auf Yun Lintians Brust flackerte plötzlich auf und drängte ihn vorwärts.
Die Wärme des Fragments an seiner Brust wurde intensiver und zog Yun Lintian mit einer unbestreitbaren Kraft an. Er folgte ihrer Führung und navigierte durch die verlassenen Straßen der mondbeschienenen Stadt.
Die Stille war tief, nur unterbrochen vom gelegentlichen Rascheln unsichtbarer Kreaturen und dem Echo seiner eigenen Schritte auf dem glatten Mondsteinboden.
Die Architektur war atemberaubend schön, strahlte aber gleichzeitig eine gewisse Melancholie aus. Die Gebäude, die scheinbar aus Mondlicht selbst gefertigt waren, standen still und leer da, ihr Zweck längst vergessen.
Aufwendige Schnitzereien zierten die Wände und zeigten Szenen von himmlischen Schlachten und Kriegern in schimmernden silbernen Rüstungen.
Die Ähnlichkeit mit den Schnitzereien auf den halbmondförmigen Mondsteinen auf dem Friedhof war unverkennbar und festigte die Verbindung zwischen dieser Stadt und dem gefallenen Göttlichen Mondclan.
Seine Reise führte ihn zu einem hoch aufragenden Monolithen, dessen Spitze den silberweißen Himmel zu berühren schien. Eine große Treppe, die mit komplizierten Mondsymbolen verziert war, winden sich um seinen Sockel.
Je höher er stieg, desto stärker wurde die Wärme des Fragments, ein Leuchtfeuer, das ihn zu seinem Ziel führte.
Als er den Gipfel erreichte, fand er ein prächtiges Bauwerk vor, wie er es noch nie gesehen hatte. Es ähnelte einer zentralen Halle, deren Kuppel in einem sanften, ätherischen Licht schimmerte.
Der Eingang wurde von zwei hoch aufragenden Statuen flankiert, deren imposante Gestalten eine Aura vergessener Macht ausstrahlten.
Yun Lintian zögerte einen Moment, sein Herz schlug vor Vorfreude und Beklommenheit. Er holte tief Luft und trat durch den Eingang.
Der Innenraum war riesig und beeindruckend. Säulen aus poliertem Mondstein ragten bis zur gewölbten Decke, die mit unzähligen kleinen Sternen verziert war, die in einem überirdischen Licht schimmerten.
Die Luft summte von einer Energie, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte, ein leises Summen, das tief in seiner Seele widerhallte.
Seine Aufmerksamkeit wurde sofort auf die gegenüberliegende Wand gelenkt, wo zwei riesige Wandgemälde den Raum dominierten. Jedes zeigte eine Frau, deren Figuren bis ins kleinste Detail dargestellt waren.
Eine der Frauen war unverkennbar Hongyue. Ihr rotes Haar fiel ihr wie ein Wasserfall über den Rücken, und ihre Augen waren in demselben ätherischen Scharlachrot gehalten. Sie trug ein wallendes rotes Kleid, das mit komplizierten Halbmondmustern verziert war, und ihre Haltung strahlte Stärke und Gelassenheit aus.
Aber es war die Frau auf dem anderen Wandgemälde, die ihm wirklich den Atem raubte.
Sie war das perfekte Spiegelbild von Hongyue, bis auf einen auffälligen Unterschied: Ihr Haar hatte ein tiefes, himmlisches Blau, die Farbe des Abendhimmels. Ihr Ausdruck hatte einen Hauch von Sanftheit in ihren saphirblauen Augen, der im Kontrast zu Hongyues Stoizismus stand.
Yun Lintians Gedanken kreisten. Zwei Frauen, eineiige Zwillinge bis auf ihre Haarfarbe, die beide eine verblüffende Ähnlichkeit mit Hongyue hatten.
Der Name kam ihm sofort in den Sinn. Die Frau mit den blauen Haaren musste Lanyue sein!
Als er die Wandmalereien anstarrte, überkam ihn ein Gefühl der Vertrautheit. Er fühlte eine seltsame Verbindung zu beiden Frauen, als ob ihre Leben irgendwie mit seinem eigenen verflochten wären. Das Fragment auf seiner Brust pochte noch heftiger, seine Wärme war wie ein Leuchtfeuer in der riesigen Halle.
Plötzlich erschien eine schwache Inschrift auf dem Mondsteinboden unter den Wandgemälden, die in einem ätherischen Licht schimmerte.
Yun Lintian kniete nieder und fuhr mit dem Finger über die Inschrift.
„Yue Hong und Yue Lan, Töchter des Mondes, Beschützerinnen des himmlischen Gleichgewichts. Die eine badet im Mondlicht, die andere im Sternenlicht, ihre Schicksale sind miteinander verflochten und für immer mit dem Schicksal des göttlichen Mondclans verbunden.“
Yun Litians Pupillen verengten sich. Yue Hong und Yue Lan … Die Namen hatten eine verblüffende Ähnlichkeit mit Hongyue und Lanyue.
„Töchter des Mondes? Beschützerinnen des himmlischen Gleichgewichts?“, murmelte Yun Lintian mit gerunzelter Stirn.
Plötzlich wurde Yun Lintian klar: Er hatte keine Ahnung, woher Lanyue und Hongyue kamen. Wie waren sie geboren worden? Wer waren ihre Eltern?
Hongyue gehörte zu den Menschen, die ihm am längsten zur Seite standen, doch Yun Lintian wusste eigentlich nur sehr wenig über sie. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Scham.
Tap… Tap…
In Gedanken versunken, wurde Yun Lintian plötzlich durch Schritte hinter sich aufgeschreckt.
Er wirbelte herum und erstarrte, als er eine Frau sah, die sich vorsichtig näherte … die Frau aus dem Sarg!
Die Frau blieb stehen und sah Yun Lintian neugierig an. Seltsamerweise empfand sie keine Angst, sondern eine gewisse Nähe zu ihm.
„Du …“
Yun Lintian und die Frau sprachen gleichzeitig und waren beide kurz überrascht.
Yun Lintian fasste sich schnell wieder und stellte sich vor. „Mein Name ist Yun Lintian. Bist du vielleicht eine Nachfahrin des Göttlichen Mondclans?“
Die Frau runzelte die Stirn, ein verwirrter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Yun Lintian …?“, murmelte sie und strengte sich an, sich zu erinnern. Der Name kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sich nicht daran erinnern.
„Ah!“ Ein scharfer Schrei entrang sich ihren Lippen, als sie sich vor Schmerz den Kopf umklammerte.
Yun Lintian reagierte alarmiert und schnell. Mit einer schnellen Bewegung seines Handgelenks schoss eine dicke Ranke hervor und schlang sich sanft um ihr Handgelenk. Eine wohltuende Wärme strahlte von der Ranke aus und linderte ihre Schmerzen.
Der Schmerz in der Frau nachließ allmählich. Mit einem dankbaren Blick hob sie den Kopf, sah Yun Lintian an und murmelte leise: „Danke.“
Ihre Stimme, sanft und beruhigend, umhüllte Yun Lintian wie Mondlicht.
Yun Lintian zog die Ranke zurück, und eine nachdenkliche Stille breitete sich zwischen ihnen aus.
Die Frau lächelte zögerlich. „Bitte verzeih mir, aber ich kann mich nicht an meinen Namen erinnern.“