„Wie stark ist er?“, platzte Yun Qianxue heraus, während sich Sorgenfalten auf ihrem Gesicht bildeten.
„Unglaublich stark“, brummte Xiao Shou. „Soweit ich weiß, hat er noch nie verloren. Unter den Wahren Göttern ist er wohl einer der mächtigsten, vielleicht kann ihm hier nur Si Junyi das Wasser reichen.“
Yun Qianxue und die anderen schauten sich fassungslos an. Sie hatten gerade die verheerende Kraft des Kampfes zwischen den Wahren Göttern miterlebt, und der Gedanke an jemanden, der noch stärker war, ließ ihnen einen Schauer über den Rücken laufen.
„Seine Ankunft kommt unerwartet“, murmelte Xiao Shou und runzelte die Stirn. „Der Stamm der Urgötter sieht eindeutig eine Chance, die sie sich nicht entgehen lassen kann.“
Lan Qinghe warf ihm einen Blick zu. „Er ist nicht derjenige, der die Entscheidungen trifft?“
Xiao Shou schüttelte den Kopf. „Meine jüngsten Ermittlungen deuten darauf hin, dass einer der Erben des Urgottes der wahre Anführer ist.“
„Was macht dich so sicher?“, hakte Lan Qinghe nach und kniff die Augen zusammen.
„Hier ist nicht der richtige Ort für Details“, antwortete Xiao Shou eilig. „Wir müssen einen Weg finden, Yun Lintian zu warnen.“
Lan Qinghe wandte sich an Long Qingxuan, der hilflos den Kopf schüttelte, um anzuzeigen, dass er derzeit keine Verbindung zu Yun Lintian hatte.
„Ich gehe rein“, erklärte Yun Qianxue impulsiv.
„Auf keinen Fall“, widersprach Lan Qinghe schnell. „Das würde alles nur noch komplizierter machen.“
Yun Qianxue biss frustriert die Zähne zusammen. Für einen kurzen Moment hatte sie geglaubt, endlich helfen zu können, aber dann wurde ihr wieder bewusst, wie sehr sie eingeschränkt war.
Das gleiche Gefühl lastete schwer auf Han Bingling und den anderen. Eine Welle der Hilflosigkeit überkam sie. Ehrlich gesagt, konnten sie nichts dafür. Ihre Fortschritte waren zwar unglaublich, aber ihre Gegner waren einfach eine ganz andere Liga.
„Zusammenarbeit“, warf Bei Cong ein, seine Stimme fest, aber mit einem Hauch von Kompromissbereitschaft. „Wie soll die Zusammenarbeit aussehen?“
Bei Congs Herz hämmerte gegen seine Rippen. Zhan Yous Ruf lastete wie ein riesiger Stein auf ihm. Er konnte die Sorge um Si Junyis Sicherheit nicht abschütteln.
Der Höllen-Asura war zweifellos mächtig, aber gegen eine Legende wie Zhan You war das Risiko zu groß. Er musste einen Weg finden, Si Junyi zu warnen, und zwar schnell.
Ein Funken Überraschung blitzte in Bei Yixiangs Augen auf. „Wir können an zwei Fronten zusammenarbeiten“, erklärte er mit neuer Dringlichkeit in der Stimme. „Zuerst müssen wir uns um Zhan You kümmern. Er ist eine große Gefahr für alle hier, auch für euch.“
Xi Hong lachte höhnisch. „Mit einem himmelspaltenden Kriegsgott kommen wir schon klar.“
Bei Yixiang ignorierte ihn und fuhr fort: „Zhan You ist stark, aber er ist nicht unbesiegbar. Wir sieben sind genug, um ihn zu überwältigen. Aber wir müssen koordiniert vorgehen.“
Bei Cong hatte nichts einzuwenden. „Und zweitens?“, fragte er mit misstrauischer Stimme.
„Zweitens“, fuhr Bei Yixiang fort und sah Bei Cong an, „schlagen wir eine Allianz mit eurem Anführer vor. Wir müssen die restlichen Erben der Urgötter finden, bevor sie zu einer Bedrohung für uns werden.“
Sein Blick huschte zu Lan Qinghe. „Das schließt Yun Lintian mit ein“, stellte er klar.
Lan Qinghes Gesichtsausdruck blieb stoisch, während in ihrem Kopf die Gedanken kreisten. Yun Lintians bisherige Begegnungen mit Si Junyi deuteten auf keine Feindseligkeiten hin. Damals hatte Si Junyi Yun Lintian einfach in Ruhe gelassen, was darauf hindeutete, dass er keinen Konflikt wollte.
Eine Allianz zwischen den beiden schien aber genauso unwahrscheinlich. Ihre Ziele hier waren einfach zu unterschiedlich.
Der springende Punkt war Zhan You. Im Idealfall würde Si Junyi Zhan You alleine konfrontieren und Yun Lintian so eine Chance geben, die Situation auszunutzen. Aber Lan Qinghe wusste, dass das nur Wunschdenken war. Ein Dreikampf war viel wahrscheinlicher.
„Keine Einwände“, gab Bei Cong ruhig zu. „Aber die zweite Bedingung … das liegt ganz bei ihm. Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass Überredungskunst hier funktioniert.“
„Genau“, entgegnete Bei Yixiang mit kühler Gelassenheit. „Hier kommt Yun Lintian ins Spiel.“
Ein überraschter Ausdruck huschte über Bei Congs Gesicht, und hinter seinen Augen blitzte stilles Verständnis auf.
Mo Lianxing stand im Schatten hinter Bei Yixiang und beobachtete den Austausch, wobei ihr Schweigen einen wirbelnden Strudel der Neugier verbarg.
„Was ist mit dir?“, fragte Bei Yixiang Lan Qinghe.
„Ich kann keine Entscheidung für ihn treffen“, sagte Lan Qinghe ruhig. „Aber es ist kein Problem, bei der ersten Bedingung mit euch zusammenzuarbeiten.“
„Deine Worte reichen mir“, nickte Bei Yixiang leicht.
„Was jetzt?“, fragte Dongfang Lou.
Bei Yixiang blickte auf den dunklen Wirbel in der Ferne und sagte ruhig: „Wir warten.“
***
„Puh …“, atmete Yun Lintian tief aus und öffnete die Augen. Seine Verletzungen waren vollständig geheilt, aber seine göttliche Energie brauchte noch mehr Zeit, um sich wieder aufzufüllen.
Er hob den Kopf und sah sich in der veränderten Höhle um. Zum Glück war ihm nach dem Kampf niemand begegnet. Sonst wäre ihm nur die Flucht ins Land jenseits des Himmels geblieben.
Die Begegnung mit Dian Lei hatte ihm die wahre Macht eines Wahren Gottes vor Augen geführt. Trotz seiner Trumpfkarten war Yun Lintian nicht stark genug gewesen, um den Sieg zu erringen.
„Was war das …?“ Ein plötzlicher Gedanke durchfuhr Yun Lintian. Er erinnerte sich an den seltsamen Raumriss, der erschienen war, bevor er das Bewusstsein verloren hatte. Seine Entstehung war zweifellos auf seine eigene Kraft zurückzuführen – die vereinte Macht der Großen Gesetze von Leben und Tod.
Dian Leis panische Worte hallten in seinem Kopf wider. Der Schrecken in seinem Gesicht deutete darauf hin, dass er sich der Folgen bewusst war, die mit Yun Lintians einzigartiger Kraft verbunden waren.
Yun Lintian schüttelte verwirrt den Kopf. Soweit er wusste, sollte die Kombination der Großen Gesetze von Leben und Tod außer dem immensen Kraftschub keine unvorhergesehenen Auswirkungen haben. Vorerst blieb die Situation ein Rätsel.
Er holte tief Luft, steckte sich ein paar Pillen in den Mund und rappelte sich vom Boden auf. Er konzentrierte sich auf das Fragment des Seelenzepter und war erleichtert, als er dessen Anwesenheit bestätigte.
Zumindest hatte Dian Lei ihm das nicht weggenommen.
„Warum ist er gegangen?“ Diese Frage quälte Yun Lintian. Dian Lei hatte jede Gelegenheit gehabt, ihn zu fangen. Doch er war einfach weggegangen.
Mit einem hilflosen Seufzer schob Yun Lintian seine Zweifel beiseite und setzte seinen Weg fort. Er folgte dem schwachen Licht und durchquerte den Gang stundenlang. Zum Glück veränderte sich die Struktur der Höhle weiter, ohne dass er auf Feinde stieß.
Rumpeln –
Plötzlich ließ ein dumpfes Geräusch Yun Lintian innehalten. Mit großen Augen beobachtete er, wie sich der Gang erneut veränderte. Diesmal jedoch offenbarte die Veränderung einen atemberaubenden Anblick: einen riesigen, kristallklaren See, der vor Leben wimmelte.
Außerdem saß ein Mann mit einer Angelrute in der Hand auf einem Felsen. Seine Kleidung war schneeweiß, wie die eines Einsiedlers, der sich in die Berge zurückgezogen hatte.
Yun Lintian blieb stehen und beobachtete ihn schweigend. Er konnte keine Aura von dem Mann spüren. Er sah aus wie ein gewöhnlicher alter Mann.
Der alte Mann hob plötzlich eine weitere Angelrute vom Boden auf und sagte: „Willst du es versuchen?“
