Bang!
Ein Beben ging durch die Erde, als Si Junyi sich dem zerstörten Tempel näherte, und die Luft knisterte vor plötzlicher Energie. Aus den Schatten, die sich an die zerbrochenen Säulen klammerten, tauchten Gestalten auf. Sie trugen dunkelgraue Roben, ihre Gesichter waren von zeremoniellen Masken mit Skelettgesichtern verdeckt, und sie standen Schulter an Schulter und bildeten eine stoische Barriere zwischen Si Junyi und dem Tempel.
Der Anführer, dessen Maske mit komplizierten Knochenmustern verziert war, trat vor. Seine Stimme, ein trockenes Krächzen, das aus den Steinen selbst zu kommen schien, hallte über die öde Landschaft. „Halt, Eindringling! Dieser heilige Boden steht unter dem Schutz des Clans der Grabwächter. Kein Schänder betritt das Grab der Götter!“
Si Junyi blieb stehen und kniff seine blutroten Augen zusammen. Ein spöttisches Lächeln huschte über seine Lippen. „Grabwächter? Wie niedlich. Habt ihr angesichts des Untergangs euren Auftrag vergessen? Oder dient ihr jetzt einem neuen Meister, der sich daran erfreut, das Erbe der Götter verrotten zu sehen?“
Die Maske des Anführers blieb unbewegt. „Wir dienen dem Gleichgewicht, Fremder. Das Göttergrab birgt Kräfte, die euer Verständnis übersteigen.
Stört seinen Schlaf, und ihr entfesselt eine Katastrophe, die alles vernichten wird!“
Si Junyi warf den Kopf zurück und lachte, ein eiskalter Klang, der durch die Ruinen hallte. „Katastrophe? Ihr sprecht von Katastrophe, während die Essenz der Göttlichkeit schlummert und darauf wartet, beansprucht zu werden! Ich bin der Erbe des Todesgottes, der rechtmäßige Erbe dieser Macht. Tretet beiseite oder tragt die Konsequenzen.“
Es herrschte angespannte Stille.
Die Grabwächter tauschten Blicke aus und umklammerten die Griffe ihrer geisterhaften Klingen fester. Das Gewicht von Si Junyis Präsenz und die Aura des entfesselten Höllen-Asura direkt hinter ihm lasteten schwer auf ihnen.
Der Anführer der Grabwächter hielt Si Junyis Blick einen Moment länger stand. Dann, zur Überraschung sowohl des Asura als auch von Si Junyi selbst, blitzte in seinen schattigen Augen ein Hauch von Belustigung auf.
„Erbe des Todesgottes?“ Seine Stimme klang zwar immer noch trocken, aber nicht mehr so eindringlich wie zuvor. „Na gut. Das Gottestomb gibt seine Geheimnisse nicht einfach so preis. Es stellt diejenigen auf die Probe, die seine Macht beanspruchen. Ihr werdet euch der Prüfung der Ahnen stellen müssen.“
Mit einer Handbewegung ließ er den zerstörten Tempel vor ihnen flimmern. Risse zogen sich über den Stein und gaben den Blick auf einen Eingang frei, der in ein ätherisches, knochenweißes Licht getaucht war.
Die Luft knisterte vor spürbarer Energie, eine Herausforderung, die aus dem Herzen des Grabes kam.
Anstatt wachsam zu sein, breitete Si Junyi ein Lächeln aus, wie ein Raubtier, das eine würdige Beute vor sich hat. „Eine Prüfung, sagst du? Ausgezeichnet. Geh voran.“
Er schritt auf den Eingang zu, der Höllen-Asura trottete hinter ihm her, sein Hunger vorübergehend gestillt durch die Aussicht auf das bevorstehende Gemetzel.
Der Anführer blieb wie angewurzelt stehen und seine Stimme hallte wider, als Si Junyi im Licht verschwand. „Die Prüfung ist nicht das, was du erwartest, Erbe. Das Gottgrab urteilt nicht nach roher Gewalt, sondern nach dem Geist. Es wird den Kern deines Wesens auf die Probe stellen. Sei gewarnt, selbst ein Gott des Todes kann von seiner eigenen Ambition verschlungen werden.“
Der Eingang pulsierte einmal, dann verfestigte er sich und hinterließ eine glatte, makellose Wand. Die Grabwächter, deren Gesichtsausdruck nicht zu deuten war, bildeten eine stille Wache um den versiegelten Durchgang.
Im Inneren des Grabes fand sich Si Junyi in einer riesigen Kammer wieder. Unheimliche Wandmalereien, die Szenen der Schöpfung und Zerstörung darstellten, schmückten die Wände, jeder Pinselstrich war von einer uralten Kraft durchdrungen, die an seinem Bewusstsein zerrte. Das Auffälligste jedoch war die Abwesenheit jeglicher Feinde.
Ein leises, melancholisches Summen hallte durch den Raum, eine Klage über eine vergangene Zeit. Si Junyi, immer vorsichtig, ging langsam voran. Das war kein Test, sondern etwas viel heimtückischeres. Er spürte, wie das Grab seine Gedanken durchsuchte, seine Erinnerungen und Beweggründe durchforstete.
Bilder flackerten vor seinen Augen – die Gesichter derer, die er verloren hatte, die Machtgier, die an seiner Seele nagte. Das Gottgrab war ein Meister der Manipulation, das seine Vergangenheit zu einer Waffe machte und versuchte, ihn in einem Meer aus Reue und Verzweiflung zu ertränken.
Si Junyi biss die Zähne zusammen und verdrängte die Erinnerungen. Er würde sich nicht beirren lassen. Er war der Erbe, der Auserwählte. Das Summen wurde lauter und verwandelte sich in ein Durcheinander von Flüstern, das ihn mit Zweifeln bombardierte.
„Du bist nicht würdig“, zischten sie. „Dein Herz ist voller Dunkelheit. Du wirst nur Zerstörung bringen.“
Si Junyi brüllte trotzig, seine Stimme hallte durch die Kammer. „Schweigt! Ich werde nicht gebrochen werden! Die Macht des Todesgottes steht mir zu!“
Aber das Flüstern ging weiter, heimtückisch und unerbittlich. Die Gruft schien nicht an einem fairen Kampf interessiert zu sein. Sie nutzte seine tiefsten Schwächen aus und versuchte, ihn zu einem Marionettenkönig zu machen, zu einem Vorboten des Chaos, der die Macht der Götter ausübte.
Si Junyi stolperte, seine Entschlossenheit schwankte unter dem unerbittlichen Angriff. Gerade als er kurz davor war, nachzugeben, durchdrang eine neue Stimme den Lärm. Eine tiefe, hallende Stimme, erfüllt von uralter Weisheit.
„Der Erbe bewegt sich auf einem schmalen Grat. Macht ohne Kontrolle ist ein Fluch, kein Segen.“
Die Stimme kam nicht aus seinem Kopf, sondern von irgendwo tief aus dem Inneren der Gruft. Ob es sich um einen Teil des Bewusstseins eines Gottes oder um einen Schutzgeist handelte, blieb ein Rätsel.
Aber die Worte trafen Si Junyi tief. Er biss die Zähne zusammen, konzentrierte sich auf die Stimme und nutzte sie als Anker gegen die Welle der Verzweiflung. Langsam verstummten die Flüstern, und in der Kammer kehrte wieder eine unheimliche Stille ein.
Si Junyi stand keuchend da, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Die Prüfung war eine brutale Herausforderung für seinen Willen gewesen und hatte ihm die korrumpierende Natur der Macht vor Augen geführt. Vorerst hatte er gesiegt, aber die wahre Herausforderung, das wurde ihm klar, lag nicht darin, das Grab zu erobern, sondern sich selbst.
Si Junyi trat aus dem weißen Licht heraus und blinzelte in die plötzliche Dunkelheit. Die Luft war schwer von Staub und Verwesung, ein krasser Gegensatz zum ätherischen Schein der Prüfungskammer. Die kunstvollen Wandmalereien waren verschwunden, stattdessen drängten zerklüftete Obsidianwände auf ihn ein, deren Oberflächen mit geheimnisvollen Symbolen bedeckt waren, die in einem schwachen, bösartigen Licht pulsierten.
Der höhlenartige Raum erstreckte sich vor ihm und schien endlos zu sein. Das einzige Geräusch war das raue Echo seines eigenen Atems. Er hob eine Hand, und eine Kugel aus purpurroter Flamme brach aus seiner Handfläche hervor und warf flackernde Schatten über die tückische Landschaft.
Die Prüfung mochte vorbei sein, aber er wusste, dass die wahre Prüfung gerade erst begonnen hatte …