Zeitalter der Götter
„System?“
rief Daniel.
Es kam keine Antwort.
„System, wo bist du?“
Die Stimme, die ihn seit Tausenden von Jahren begleitet hatte, antwortete nicht.
Stille drückte auf seine Ohren.
Daniels Herz schlug laut.
Das Fehlen des Systems konnte nur eines bedeuten.
Es war weg.
„Göttliches System, von wegen. Du bist verschwunden, sobald ich die Welt gerettet habe.“
Daniels Stimme klang bitter.
Er hatte immer schon geahnt, dass es nicht das Ziel des Systems war, ihn zum Stärksten zu machen, sondern die Welt zu retten.
Er war nur ein Werkzeug dafür gewesen.
Und jetzt wurde er weggeworfen.
Dennoch war er nicht traurig über diese Erkenntnis.
Ohne das System hätte er die Welt nicht retten können.
Trotzdem fühlte sich sein Herz seltsam schwer an.
Hatte das System ihn nur als Werkzeug gesehen?
Er wollte es wissen.
Aber es gab keine Möglichkeit, das herauszufinden.
Das System hatte ihn zurückgelassen.
Plötzlich rief ihn eine vertraute und doch unbekannte Stimme, leise, aber klar, durch den Wind.
„Was wirst du jetzt tun?“
Daniel drehte seinen Kopf in Richtung der Stimme.
Seine Augen weiteten sich, als er ihr Gesicht sah.
Die Frau kam ihm bekannt vor.
Daniel konnte sie unmöglich vergessen haben.
„Selene? Nein … Du kannst nicht meine Schwester sein. Ihre Seele und ihr Körper waren beide …“
Daniel runzelte die Stirn und seine Kehle schnürte sich zusammen.
Ein Kloß bildete sich dort, bitter und kalt.
Seine Hand ballte sich zu einer Faust an seiner Seite, als ihm die Erkenntnis dämmerte.
Ein Seufzer entrang sich seinen Lippen.
Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem weiten, bewölkten Himmel zu.
„Du hast wirklich einen kranken Sinn für Humor, Typhaon. Wenn du das mit jemand anderem gemacht hättest, hätte er dich längst angegriffen.“
„Ich verstehe.“
Das Aussehen des Mädchens veränderte sich.
Sie verwandelte sich in eine humanoide Gestalt, die vollständig aus ineinander verschlungenen Wurzeln und Ästen bestand.
Der erdige Geruch von feuchter Erde erfüllte die Luft, während kleine Blätter aus seinem hölzernen Körper sprossen.
„Ich entschuldige mich, wenn meine Erscheinung unangenehm war.“
Daniel empfand ein seltsames Unbehagen, als er Typhaon so respektvoll sprechen hörte.
Der Vater der Anomalien, einst stolz und trotzig, sprach nun mit Demut.
Das Leben in der Unterwelt hatte ihm die Augen geöffnet.
In der Abyss, wo unzählige Monster, die die Erde zerstören konnten, frei umherstreiften, war Typhaon gezwungen worden, sich seiner eigenen Bedeutungslosigkeit zu stellen.
Einst hatte er sich für unübertroffen gehalten, jetzt wusste er es besser.
Die Unterwelt hatte ihn demütig gemacht.
Typhaon trat schweigend vor.
Sein hölzerner Körper knarrte leise, als er sich bewegte und neben Daniel stehen blieb.
Er folgte Daniels Blick und gemeinsam starrten sie in den Himmel.
„Was machst du da?“, fragte Daniel und brach damit die Stille.
„Ich denke nach.“
„Worüber?“
„Über dein System. Ist es derselbe Typ, von dem du uns erzählt hast?“
„…?“
Daniel blinzelte verwirrt.
Typhaons Blick blieb auf den Himmel gerichtet.
„Kronos hat dir von jemandem erzählt. Von einem Typen, der nach dem Ende der Welt alleine gekämpft hat, richtig?“
„Du hast das einmal erwähnt. Ich frage dich, ob er dir das System geschickt hat.“
Daniels Gesicht verhärtete sich.
Typhaons Worte weckten Gedanken, die er zu unterdrücken versucht hatte.
Gedanken, denen er sich nicht stellen wollte.
„Ja …“, sagte Daniel leise und verstummte. „Vielleicht war er es.“
Typhaon neigte leicht den Kopf.
Die Äste knarrten, als er sich bewegte.
„Was wird jetzt mit ihm passieren? Wenn er in dieser Zukunft feststeckt – jetzt, wo die Vergangenheit verändert wurde – wird er dann nicht von der Zeit ausgelöscht werden …“
„Warum bist du so neugierig auf ihn?“, unterbrach Daniel ihn scharf und drehte sich zu Typhaon um.
Die Holzfigur kicherte.
Ein trockener, hohler Klang hallte wider.
„Wie könnte ich nicht interessiert sein? Ich habe davon geträumt, dass er mich mit einem einzigen Schlag besiegt.
„Und wenn ich mich nicht irre, war er es, der dir geholfen hat, mich zu besiegen.
„Ist es falsch, dass ich neugierig auf denjenigen bin, der in gewisser Weise mein Erzfeind ist?“
In Typhaons Stimme lag keine Bosheit, nur reine Neugier.
„Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist“, antwortete Daniel mit einem Seufzer. „Das System ist verschwunden, bevor ich irgendwelche Antworten bekommen konnte.“
„Ach so? Ich danke dir, dass du meine Neugier befriedigt hast.“
Typhaon drehte sich um und machte sich bereit zu gehen.
Er war in die Welt der Lebenden gekommen, um einen entflohenen Geist zu fangen.
Die Begegnung mit Daniel war nichts weiter als ein Zufall.
„Gehst du schon?“, fragte Daniel.
„Ich hab wenig Zeit“, antwortete Typhaon. „Nachdem ich die entflohenen Geister gefangen habe, muss ich mich mit dem Anführer der Titanen und der Vereinigung der Erwecker treffen.“
„…?“
„Die Unterwelt plant, einen Posten in der Welt der Lebenden einzurichten“, fuhr Typhaon fort. „Das soll dazu dienen, die zunehmende Zahl von Seelen zu fangen, die aus der Unterwelt entkommen, und die Monster, die die Erwecker in diese Welt beschwören.
Da ich der einzige lebende Sensenmann bin und bis vor kurzem in der Welt der Lebenden gelebt habe, hielten mich die anderen für die beste Person für diese Aufgabe“, erklärte Typhaon.
„Viel Glück dabei“, sagte Daniel.
Daniel wusste nicht, ob er lachen oder sich die Hand vor die Stirn schlagen sollte.
Derjenige, der Typhaon zu den Verhandlungen geschickt hatte, war entweder ein Genie oder ein kompletter Idiot.
„Sieht so aus, als würde sogar Typhaon anfangen, an die Zukunft zu denken.“
Daniels Lächeln verschwand, als das Wort in seinem Kopf nachhallte.
Zukunft.
Das war ein Wort, das Daniel immer erreichen wollte.
Ein Ziel, das er so lange verfolgt hatte.
Aber jetzt, wo er davor stand, fühlte er sich leer, orientierungslos und ohne Richtung.
Er schaute auf seine Hand und beobachtete, wie sich seine Finger bewegten.
Trotz seiner dünnen Arme wusste er, dass er wahrscheinlich mit einem einzigen Schlag die ganze Erde in die Luft jagen könnte.
„All diese Kraft … das habe ich ihm zu verdanken.“
Daniel schloss die Augen.
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und seine Brust schnürte sich zusammen, als widersprüchliche Gefühle an ihm zerrten.
Er hatte die Zukunft erreicht, von der er einst geträumt hatte.
Aber was sollte er jetzt damit anfangen?
Er hatte keine Ahnung.
Gab es denn nichts, was er tun wollte oder was ihn interessierte?
Doch, das gab es.
Er wollte eine Sache wissen.
Warum hatte der Mann hinter dem System ihn ausgewählt?
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Warum er und nicht jemand anderes?
„Wahrscheinlich, weil ich der Einzige bin, der Tausende von Regressionen durchlaufen kann, ohne von der Zeit getötet zu werden.“
Er seufzte.
Es gab noch eine Sache, die er wissen wollte, aber er hatte Angst vor der Antwort, die er bekommen würde.
Warum hatte der Mann hinter dem System ihm geholfen, die Welt zu retten?
Jetzt würde die „Gegenwart“ des Mannes ausgelöscht werden und er würde sterben.
Warum hatte er das getan?
Es hätte Sinn gemacht, wenn der Mann die Erde verlassen hätte, um woanders zu leben, anstatt so zu sterben.
„Verdammt, diese Frage lässt mich nicht schlafen.“
Daniel starrte auf seine Hände, die schwielig waren und leicht zitterten.
Macht, er hatte so viel davon.
Macht, die ihm von diesem Mann gegeben worden war.
„Ich könnte diese Macht genauso gut nutzen, um ihn zu treffen und ihm die Frage zu stellen.“
Daniel schloss die Augen und tauchte in sich selbst ein.
Er suchte nach den Spuren des Systems.
Das System war verschwunden, aber die Spuren waren in ihm zurückgeblieben.
Schließlich gehörten die Techniken, die in Daniel verankert waren, zum System.
Er griff danach und nutzte seine Fähigkeit.
Daniels weiterentwickelte Fähigkeit ermöglichte es ihm, in die Zukunft von Menschen zu sehen.
Seine Fähigkeit wurde aktiviert.
Aber eine Art Barriere hielt ihn auf.
Ein Impuls des Widerstands durchzog die Luft und ließ das Licht flackern.
Daniel spürte, wie die Zeitelementare um ihn herum brodelten.
Die Zeit hielt ihn auf.