„Ja.“
Das Wort klang schwer – mehr als eine Erinnerung, mehr als ein Geständnis. In Velthiris Augen blitzte Verständnis auf; sie brauchte keine Erklärungen. Schmerz hatte Dialekte. Diejenigen, die bestimmte Facetten davon kennengelernt hatten, konnten in einer flachen Antwort eine Verwandtschaft erkennen.
Ein Herzschlag dehnte sich zu drei aus. Leuchtende Sporen schwebten wie winzige Sterne herab, ließen sich auf den Bogenarme und Draven’s Mantelschultern nieder und schmolzen zu Funken, wo sie Sylvanna’s kupferfarbenes Haar berührten. Endlich drehte sich Velthiri um, die Bewegung so präzise, dass sie als Urteil gelten konnte.
„Eine Dämmerung und eine Morgendämmerung“, verkündete sie. „Nicht mehr. Noch nicht.“
Kein Jubel, keine Pfeile, die in Erleichterung abgeschossen wurden. Nur ein kollektives Ausatmen der Bogenschützen, die ihre Bögen einen Zentimeter entspannten, aber bereit blieben, denn Jahrhunderte der Vorsicht konnten nicht in einer einzigen Verhandlung aufgehoben werden.
Eine Eskorte – vier Wachen vorne, zwei hinten – bedeutete ihnen, vorwärts zu gehen. Draven erkannte ihre Formation: respektvoller Abstand, freie Schussbahnen, ein geschwungener Weg, der unter drei mit Schleudern und Nesselpfeilen bewaffneten Plattformen hindurchführte. Kompetent.
Sie stiegen eine spiralförmige Treppe hinauf. Sylvannas Stiefel schritten leise über Wurzeln und Flechten, einen halben Schritt hinter ihm. Sie hielt den Blick nach vorne gerichtet, aber er spürte die Fragen, die sich hinter ihrem gleichmäßigen Atem verbargen. Warum lässt sie das zu? Wie groß ist ihre Geduld? Er würde später antworten – wenn die Mauern selbst nicht zuhörten.
Ihr Ziel lag auf halber Höhe eines dreifach geflochtenen Altholzes. Die Plattform war wie eine Muschel geformt, die von drei uralten Ästen gestützt wurde. Die Rinde bildete Wände, die so lebendig waren, dass sie sich bewegten, als Draven sein Gewicht über die Schwelle verlagerte, als wollten sie ihn kosten. Zwischen den Platten waren Spalten, durch die Mondlicht hereinströmte und den Beobachtern draußen einen ungehinderten Blick gewährte; Privatsphäre wurde suggeriert, aber nicht geboten.
In der Mitte stand ein Tisch – ohne Nähte, eher gewachsen als gebaut. Darauf standen zwei flache Becher, die mit einer Flüssigkeit gefüllt waren, die so klar war, dass sie jedes Licht im Raum reflektierte. Nach elfischem Brauch war es Quellwasser-Tee, obwohl auf der Oberfläche dampfende Runen wirbelten, die zu schwach waren, um sie zu entziffern.
Draven setzte sich ohne zu warten auf den näheren Stuhl. Sylvanna blieb stehen, nahm endlich ihren Bogen von der Schulter, hielt aber die Finger dicht am Griff.
Ein Rascheln an der Tür kündigte Velthiri an, begleitet von zwei geprüften Helfern, deren Gesichter die unlesbare Ruhe von Gelehrten zeigten. Sie deutete auf die Tassen. „Willkommen, Reisende.“ Der Titel klang wie Vorsicht, verpackt in Höflichkeit. „Trinkt und lasst den Wald euch sehen.“
Draven umfasste die erste Tasse mit seinen schwieligen Fingern. Das Wasser duftete leicht – nach etwas wie Kiefernharz mit zerkleinerter Minze. Er hob die Tasse und hielt sein Handgelenk genau in der richtigen Neigung. Die Blicke von der Tür wanderten zu ihm: Die Wachen beobachteten die Anspannung in seinen Fingerknöcheln, die Adjutanten achteten auf ein Zittern. Er trank, weder in kleinen Schlucken noch in großen Zügen – drei gleichmäßige Schlucke, die die Tasse halb leer zurückließen.
Als er sie abstellte, bildeten sich Wellen. Die Oberfläche der Flüssigkeit fing einen violetten Schimmer ein, so schwach, dass man an seiner Echtheit zweifeln konnte. Dann wurde das Leuchten intensiver und breitete sich wie Tinte in kalter Milch aus, bis die Tasse in einem dunklen Amethystlicht erstrahlte. An der Tür hörte man leises Keuchen. Ein Adjutant öffnete die Lippen zu einem flüsternden Gebet.
Dravens Augen verengten sich ein wenig. Violett – unbekannt, vielleicht beunruhigend. Aber er hielt sein Gesicht unbewegt. Er legte beide Handflächen auf den Tisch und signalisierte damit, dass es an ihnen war, den Test zu interpretieren.
Sylvanna trat vor. Velthiris Blick hielt sie fest. Die zweite Tasse wartete – Dampf stieg wie gespenstische Ranken auf. Sylvanna zögerte und wägte Geheimnisse gegen Gastfreundschaft ab.
Draven sah sie nicht an; er vertraute dem Kalkül, das hinter ihren bernsteinfarbenen Augen ablief.
Sie hob das Gefäß. Der Rand berührte ihre Lippen – kühl, metallisch, nicht wie Ton. Sie neigte es. Ein Schluck, eine Pause, noch einer. Sie stellte die Tasse zurück, nur wenige Zentimeter von der ersten entfernt.
Atemlose Stille.
Eisblau schimmerte durch das Wasser, fast kristallin. Ein leises Glockenspiel ertönte aus dem Becher, wie Frost, der auf einem winterlichen See bricht. Ein Wachmann am Eingang erstarrte; der größere Adjutant legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
Velthiri schaute auf die beiden violetten und eisblauen Glanzpunkte, die sich in ihren eisigen Augen spiegelten. Hinter ihrem Gesichtsausdruck huschten Gedanken hin und her, zu schnell, um sie zu erfassen. Sie neigte den Kopf. „Der Wald sieht.“
Draven wartete. Fragen würden kommen. Aber der erste Test – was auch immer für ein subtiler Zauber in diesem Tee steckte – war geschafft. Ob die Farben ein Urteil fällten oder nur Neugier weckten, blieb abzuwarten.
Er sagte nichts. Stellte einfach die Tasse zurück.
Sylvanna hob die Tasse, deren Rand leicht gegen ihre Unterlippe zitterte. Die Oberfläche der Flüssigkeit reflektierte das Licht der Laterne, und für einen Moment sah Draven – der sie aus einer so geübten Regungslosigkeit heraus beobachtete, dass es wie eine Rüstung wirkte – ein flüchtiges Zögern in ihren Augen. Sie fürchtete Prüfungen, die nach Abstammung rochen; Tierbändiger kamen bei solchen Urteilen selten ungeschoren davon.
Aber sie trank. Zwei bedächtige Schlucke, als wolle sie nicht zulassen, dass das Wasser ihren Herzschlag beschleunigte.
Die Veränderung war sofort spürbar. Frostblaues Licht durchzog die Tasse, begann am Meniskus und versank in zarten Verzweigungen, bis die gesamte Schale wie eingefangener Winter leuchtete. Es wurde still im Raum. Ein Ältester, halb unter einer Kapuze aus Rabenfedern versteckt, verlagerte sein Gewicht.
Die Bewegung war kaum wahrnehmbar – er drückte die Ferse nach unten und straffte den Rücken –, aber die Spannung breitete sich im Raum aus wie ein Stein, der in stilles Wasser geworfen wird.
Draven nahm alles wahr: die linke Hand des Ältesten, die sich um ein Armband aus dornförmig geschnitzten Perlen krallte; den Wachmann neben ihm, der sich um fünf Millimeter nach vorne beugte, gerade so viel, dass sich der Spalt zwischen seiner Wange und der Wange seines Vorgesetzten vergrößerte. Er notierte jede Reaktion in der Spalte „Verdacht: mäßig, unter Kontrolle“.
Die Rindenwände raschelten, als Velthiri eintrat, ihre Roben hinterließen einen schwachen Duft von Zedernholz. Sie blieb im Torbogen stehen, ihre Augen spiegelten zwei Lichtquellen wider – eines violett, das andere eisblau. Ihr Blick verweilte einen Herzschlag länger auf den Bechern, bevor sie sich an den Ältesten mit der Rabenkapuze an ihrer Seite wandte. „Ihr seid keine Feinde“, erklärte sie mit leiser, aber tragender Stimme. „Aber sie sind nicht das, was sie vorgeben zu sein.“
Die Augenbrauen des Ältesten hoben sich wie graue Flügel. „Sie sind vorbeigekommen?“
„Genug“, antwortete Velthiri. Ihre Lippen verzog sich nicht zu einem triumphierenden Lächeln, ihre Haltung war nicht von Wärme geprägt. Sie sah aus wie aus Winterrinde geschnitzt – lebendig, aber mit langsam fließendem Saft. „Wir prüfen“, fügte sie mit schärferem Ton, „nicht nur mit der Wahrheit. Sondern auch mit Schweigen.“
Draven nahm die Nuance auf: Schweigen ist hier eine Sprache; wir haben zugehört, und sie haben es bemerkt. Ein subtiler Sieg. Kein Vertrauen, aber ein Scharnier, an dem sich eines Tages Vertrauen entwickeln könnte.
Die Dämmerung drang durch das Gitterdach und tauchte die grün-goldenen Laternen in ein mattes Bernsteinlicht. Elfenwächter tauschten kurze Zeichen aus, und bald spürte Draven, wie die Aufforderung durch die Siedlung ging – ein kollektives Einatmen, das bedeutete, dass die nächste Schwelle bevorstand.
Sie führten ihn zu einer Plattform hinter dem letzten Ring von Behausungen, wo der Wald dichter wurde und sich in einen alten Bestand verwandelte, der kein Interesse an Gesellschaft hatte. Moos dämpfte jeden Schritt; selbst die Anwesenheit der Wachen schien nur geliehen, als würden die Bäume den Raum zurückerobern, sobald die Fremden gegangen waren. Am Ende der Plattform schlängelte sich ein einzelner Baum dreimal um sich selbst und bildete einen natürlichen Bogen. An diesem Bogen hing die Glocke.
Sie war aus mattgrauem Stein gefertigt, matt wie Flusskiesel, doch silberne Quarzadern durchzogen ihre Oberfläche wie ein Spinnennetz. Wo ein Klöppel hätte schwingen sollen, war nur Leere – ein hohles Herz, das auf Wind wartete, der selten bis hierher drang. Die Luft roch nach Flechten und fernem Regen.
Velthiri stand mit geraden Schultern unter der Glocke. „Die wurde geschnitzt, als Ithen Elh’Varal verschwand“, sagte sie. Ihr Atem bildete einen leichten Nebel; hier schien es kälter zu sein als in Verenthal selbst. „Keine Leiche. Kein Gesang. Nur Stille.“
Draven musterte die Form der Glocke. Zylindrisch, zur Öffnung hin leicht verjüngt.
Absichtlich stumm, doch der Quarz würde bei der richtigen Frequenz schwingen – wahrscheinlich war er deshalb außer Reichweite. „Wie alt ist sie?“, fragte er.
„Zweihundert.“ Velthiris Antwort enthielt keine Übertreibung. Elfen zählten Jahrhunderte wie andere Völker Winter.
„Ich verstehe.“ Er untersuchte die Maserung des Bogens und las alte Meißelspuren, die inzwischen vom Moos aufgeweicht waren. „Du willst, dass ich sie finde.“