Sylvanna fluchte leise. „Er hat ihre Geschichte mit seinem eigenen Untergang besiegelt.“
Dravens Blick wurde schärfer. „Der Hain erinnert sich an seinen Verräter.“ Er berührte die Seite; die Tinte sprang zurück und zischte, als hätte sie sich verbrannt. „Und will, dass er ausgelöscht wird.“
Die Tunnel wurden enger, die Decke drückte auf sie herab. Die Kälte wurde intensiver. Dravens Atem bildete kleine Wölkchen. Jeder Atemzug schmeckte nach Zedernholz und fernem Rauch. Während er ging, schätzte er die Lage ein: Der Nebel wurde dichter, die Erinnerungen verschwammen immer mehr, die Fäden der Verderbnis wurden zum Herzen hin immer dicker. Er senkte seine Klinge und machte sich bereit für den Nahkampf.
Sylvanna verstummte und konzentrierte sich. Ihre Ohren nahmen jedes Knarren wahr, ihre Augen huschten von Wurzelgeflechten zu kristallinen Blüten und zu den schwachen Silhouetten, die im Schein der Lampe lauerten. Ein Pfeil lag in der Sehne, die Spitze leuchtete schwach blau – der erste aus ihrem schwindenden Frostköcher.
Der Boden senkte sich.
Ein Becken mit klarem Wasser breitete sich über den Weg aus, die Oberfläche spiegelglatt. Es gab keine Strömung, doch konzentrische Kreise zeichneten sich von einem unsichtbaren Zentrum aus. Draven duckte sich und studierte die Reflexionen. Sie zeigten keine Decke, keine Reisenden – nur Sterne, die über einer zerstörten Elfenstadt kreisten, deren Türme von leeren Flammen zerrissen waren. Er steckte ein Schwert in die Scheide und drückte einen behandschuhten Finger auf das Wasser. Die Vision zerbrach, das Wasser trübte sich mit schwarzen Flecken, die wie verbranntes Papier zu Boden sanken.
„Eine Abkürzung“, entschied er und stand auf. „Oder eine Falle. So oder so, weiter geht’s.“
Sie umgingen das Becken und balancierten auf den von Kondenswasser glitschigen Wurzeln. Nebel hing an ihren Knöcheln und versuchte, sich zu flehenden Händen zu formen. Sylvannas nächster Pfeil zerriss diese Ranken mit einem Netz aus Raureif und verschaffte ihnen drei Meter freie Sicht.
Endlich weitete sich der Tunnel zu einer von kaltem Leuchten erhellten Höhle. Draven ließ seinen Blick über die Leichen auf den Steinbänken, die umgestürzten Rednerpulte und die zerbrochenen Erinnerungskristalle schweifen. Alle waren auf eine Wand in der Ferne gerichtet, auf der sich ein Wandgemälde ausbreitete, das zur Hälfte von kriechendem Moos verdeckt war.
Die Farbe leuchtete noch unter dem Schmutz: ein hoch aufragender Elf mit zu hellen Augen, umgeben von Siegeln, die selbst jetzt noch mit verbotenem Licht brannten.
Vaerentis. Hinter ihm wirbelten Dämonensymbole – unverkennbare Zeichen von Bindung und Pakt. Szene für Szene erzählte das Wandgemälde von einem Untergang: Rituale, gezeichnet mit Blutwurz-Tinte, Tore, die in den Traumraum geschnitten waren, Kinder, die unter einem Himmel weinten, aus dem glühende Funken regneten. Das letzte Bild, das von Moos überwuchert war, zeigte seinen Körper, der sich in schwarze Ranken auflöste und in frischer Erde Wurzeln schlug.
„Nicht getötet“, murmelte Draven und las die Anklage des Hains vor. „Wieder eingepflanzt.“
Sylvanna umarmte sich, den Bogen baumelnd. „Und der Baum hat ihn getrunken.“
„Er wurde zur Infektion.“ Dravens Stimme sank, als würde Eisen in Wasser fallen. Er sah sich um und spürte, wie der Wald lauschte. Keine Worte, nur eine einzige Absicht, die auf seine Gedanken drückte: Schneidet ihn heraus.
Als würde sie antworten, zuckten die umgebenden Wurzeln und blätterten sich in geflochtenen Schichten zurück, um einen schmalen, noch tieferen Durchgang freizulegen. Feuchte Luft strömte von unten herauf – warm, übelriechend, fast atmend.
Draven rollte eine Schulter, löste die Anspannung und schritt vorwärts. Der Gang weitete sich zu einer Kammer, die wie ein riesiges Herz aus lebenden Wurzeln geformt war. Biolumineszente Adern zeichneten wechselnde Konstellationen an die Wände. Genau in der Mitte stand Vaerentis – oder zumindest die Hülle, die seinen Namen trug.
Er drehte sich bei ihrer Ankunft um, jede Bewegung begleitet vom Knarren des beanspruchten Holzes und dem Klirren zerbrechender Kristalle. Von den elfischen Gesichtszügen waren nur noch Umrisse zu erkennen; innerhalb dieser Grenzen wirbelten die Gesichter aller Opfer, deren Erinnerungen er verschlungen hatte. Augen flackerten – smaragdgrün, dann kohlschwarz, dann leere Augenhöhlen, die von einem inneren Feuer erleuchtet wurden. Ein langsames Lächeln huschte über zu viele Lippen.
„Willkommen, Dravis Granger“, schnurrte er und rollte Draven’s Decknamen auf einer Zunge aus rissiger Rinde.
Draven antwortete nicht höflich, sondern kreuzte seine Klingen. Metall klang, ein Versprechen, schärfer als Worte.
Vaerentis lachte – es klang wie brechendes Eis, wie brechende Rippen. „Halt dich an deine Klarheit, so viel du willst“, neckte er ihn. „Aber du könntest mehr sein. Werde zum Skalpell, das die Erinnerung aus der Zeit befreit. Schließ dich mir an.“
Sylvanna legte einen Pfeil ein, die Spannung zischte in ihrer Bogensehne. „Das Angebot ist abgelaufen“, sagte sie.
Draven machte den ersten Schritt.
Der Wurzelboden drehte sich, die Schwerkraft kippte um neunzig Grad. Er sprintete die neue Wand hinauf, sein Umhang flatterte über seinem Kopf. Eine Wurzelwirbelsäule ragte hervor; er stieß sich ab, drehte sich in der Luft und schlug mit seinen Klingen ein X aus weißen Bögen. Vaerentis warf eine Wand aus Rauchgesichtern auf – Stimmen, die bettelten, fluchten, flehten. Stahl zischte durch sie hindurch und verstreute Funken gestohlener Erinnerungen.
Sylvannas Pfeil schoss an Draven vorbei und zerteilte sich in drei gefrorene Lichtsplitter, die die Phantomwächter hinter ihm durchbohrten. Jeder Splitter hallte wie zerbrechendes Kirchenfensterglas im Sturmwind.
Vaerentis brüllte. Sein Körper blähte sich auf, und Flügel aus fragmentierten Erinnerungen entfalteten sich – gefiedert mit Wiegenliedern aus seiner Kindheit, gehärtet durch Schlachtgeschrei. Sein Schwert formte sich aus verschmolzenen Reuegefühlen, dessen Klinge flüssige Schatten tropfte.
Draven landete und beugte die Knie, um die gedrehte Schwerkraft abzufangen. Er zuckte nicht, sondern zerlegte seinen Gegner. Mit der linken Klinge wehrte er einen nach unten gerichteten Hieb ab, mit der rechten schnitt er die Sehnenillusion durch, die einen Flügel zusammenhielt. Der Flügel zuckte und verlor an Auftrieb.
Gesichter flackerten auf – Claras sanfte Trauer, Roths grimmiges Lachen, Dravens eigene jüngere Gesichtszüge, strahlend vor naiver Hoffnung. Vaerentis hielt sie wie Schilde vor sich. „Schließt euch mir an“, sang er. „Lebt ungebrochen.“
Draven stockte der Atem – ein einziger Herzschlag, roh –, aber er fasste sich wieder. „Trauer ist echt“, sagte er mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Seufzer war. „Lügen sind es nicht.“ Mit einem einzigen präzisen Schnitt zerschmetterte er das Bild. Die Gesichter flogen auseinander, befreit von der Verderbnis, und lösten sich in violette Staubkörnchen auf.
Vaerentis schrie, aber Draven war bereits wieder in Bewegung – auf die pulsierende Öffnung in der verschmolzenen Brust zu.
Der letzte Schnitt würde als nächstes kommen.
Wir erreichten die Kammer.
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Eine Wandmalerei dominierte die Wurzelwand zu ihrer Rechten, deren Farben trotz jahrzehntelanger – oder jahrhundertelanger – Feuchtigkeit noch immer leuchteten. Die Hälfte der Szene war von kriechender Rinde verschlungen worden, doch was übrig geblieben war, strahlte ein unheimliches, selbst erzeugtes Licht aus.
Draven wurde langsamer und kniff die Augen zusammen. Während die meisten Gemälde stumm waren, flüsterte dieses. Fäden gespeicherter Erinnerungen sickerten durch jeden Pinselstrich und wollten gesehen werden. Er spürte jedes Flüstern wie ein Kribbeln auf den Runen, die unter seinem Mantel verborgen waren.
Die zentrale Figur war selbst unter den Schmutzschichten unverkennbar.
Vaerentis – einst Archivar, später Ketzer – stand aufrecht in einer Robe aus Sternenseide, die Hände erhoben, als würde er einen stillen Chor dirigieren. Seine Augen waren mit obsessiver Detailtreue gemalt: smaragdgrüne Iris, umrandet von Gold, so hell, dass sie mit frisch geschmiedetem Stahl konkurrieren konnten. Hinter ihm wirbelten Glyphen, die kein vernünftiger Elf malen würde – krumme Dämonensymbole, die die Perspektive wie Haken in einer nassen Leinwand zu ihnen hin verbogen.
Sylvanna näherte sich, ihre Stiefel scharrten im Moos. Jedes Mal, wenn ihr Lampenstein über das Wandbild streifte, tauchten neue Schrecken auf: Knochenkreise, schwarz versengte Altäre, Silhouetten von Elfenkindern, die sich vor einem unsichtbaren Feuer duckten. Sie schluckte schwer. „Er hat sein eigenes Verbrechen wie einen Siegeszug festgehalten“, flüsterte sie.
Dravens Blick folgte der Geschichte, die in Farbe und Brandspuren erzählt wurde. Er sah die Bindungsrituale – Vaerentis, der Runen in lebende Bäumchen schnitzte, während Lehrlinge ihre Augen vor dem gleißenden Licht schützten. Er sah, wie sich das Tor aus Knochen und Feuer aufriss und seine Klauen Schatten über die unberührten Haine spuckten. Er bemerkte jedes Detail der schreienden Wächter, jedes gefallene Gelehrte und das präzise, reuelos schräge Lächeln von Vaerentis.
Am unteren Rand, halb im Moos vergraben, ragte eine letzte Tafel hervor. Draven strich das Grün mit dem Handrücken beiseite. Farbe blätterte ab und gab den Blick auf Vaerentis‘ Körper frei, der sich in schwarze Wurzeln auflöste, dessen Haut sich wie ein Band in die Erde abwickelte – nicht getötet, sondern neu gepflanzt.
Der Hain ächzte über ihnen, Flechtenzöpfe zitterten. Sylvanna umklammerte ihren Bogen und suchte Draven mit den Augen nach Anweisungen.
„Er ist nicht gestorben“, erklärte Draven mit kalter, eiserner Stimme. „Er ist zur Infektion geworden.“
Die Wurzeln unter ihren Füßen zitterten, als würde der Wald selbst nicken. Es wurden keine Worte gebildet, aber ein Befehl drängte sich in seine Gedanken: Schneide ihn heraus.
Die Rinde öffnete sich mit einem Geräusch wie splitterndes Leder. Große Holzrippen klappten zurück und gaben den Blick auf einen Gang frei, der wie eine verwundete Arterie pulsierte. Feuchter Atem strömte von unten herauf und roch nach Kompost und altem Weihrauch.
Draven trat vor. Sylvanna zögerte gerade lange genug, um einen neuen Frostpfeil zu ziehen, dann folgte sie ihm. Der Gang mündete in eine Kammer, die wie ein riesiges Herz geformt war. Jede Wand pulsierte in langsamem Licht, Adern zeichneten Sternbilder in lebendem Bernstein.
Im Zentrum der Kammer stand Vaerentis.
Das Wesen drehte sich mit bedächtiger Anmut um, als würde es ihre Ankunft genießen. Sein Oberkörper hatte noch etwas Elfenhaftes – lange Gliedmaßen, schmale Taille –, aber Kristallknochen ragten durch die rindenartige Haut, und wo eigentlich Haut sein sollte, hingen Vorhänge aus ausgetrockneten Erinnerungen: die Gesichter von Gelehrten, Soldaten, Säuglingen, alle zu einem sich ständig bewegenden Wandteppich zusammengenäht. Aus jedem Gesicht flossen silberne Tränen, die auf dem Boden zischend verdampften.
Sein eigenes Gesicht flackerte und wechselte von einer Maske zur nächsten. Ein trauernder Vater, ein lachendes Kind, eine knurrende Bestie. Schließlich blieb es bei etwas, das seinen ursprünglichen Zügen ähnelte – aber dünn gestreckt, mit zu vielen Zähnen hinter einem zu breiten Lächeln.
„Willkommen, Dravis Granger“, sang Vaerentis, wobei der Name honigsüß und giftig klang. „Eine geliehene Hülle, die sich mit geliehenem Mut schmückt.“
Sylvannas Pfeilspitze leuchtete azurblau. „Noch ein Wort“, warnte sie, „und du wirst Frost tragen.“
Draven ignorierte die Provokation und ließ seine Antwort stählern klingen. Beide Klingen glitten frei, ihre Klingen fingen das saure Licht des Raumes ein. Der Klang – ein einziger Ton, rein und endgültig – unterbrach Vaerentis‘ Lachen.
Das Lachen der Kreatur erklang erneut, spröde wie Winterrinde. „Klarheit, immer Klarheit. Du könntest so viel mehr sein, kleines Messer. Hilf mir, den Garten von der Zeit zu trennen. Wir werden alles Verfallene wegschneiden und nur perfekte Momente zurücklassen.“
Draven antwortete mit einer Bewegung. Er sprintete los, sein Umhang flatterte hinter ihm her. Der Boden verdrehte sich zur Verteidigung und drehte sich um, aber er floss mit der Umkehrung mit, seine Füße fanden Halt an einer Wand, die zu einer Rampe wurde. Eine hervorstehende Wurzel bot ihm Halt; er sprang hoch und drehte sich mit der Klinge voran.
Vaerentis begegnete dem Schlag mit einem Fächer aus Rauchmasken – jedes gestohlene Gesicht lag über dem nächsten.
Metall zischte durch Trauer und Hoffnung gleichermaßen und zerschnitt Illusionen in glühende Funken. Fragmente regneten herab, jeder flüsterte einen Namen, während er verglühte.
Sylvanna ließ ihren Pfeil los. Mitten im Flug zerbrach er in drei kristalline Splitter, die sich jeweils auf einen anderen spektralen Soldaten hinter Draven richteten. Die Konstrukte zerbrachen wie Buntglas, die Splitter schmolzen zu Pfützen vergessener Wiegenlieder.
Vaerentis brüllte und sein Oberkörper schwoll an. Flügel entfalteten sich – riesige, skelettartige Gebilde, die mit Seiten aus Tagebüchern und Kampfprotokollen durchzogen waren. In seiner Faust formte sich ein Schwert, geschmiedet aus nie gehaltenen Versprechen. Es tropfte tinten schwarze Versprechen, die auf dem Boden zischten.
Draven landete in einer tiefen Hocke und ließ den Kern nicht aus den Augen – ein helles, ulzeröses Leuchten pulsierte auf Vaerentis‘ Brustbein. Er passte seinen Griff an. Eine Klinge, um Lügen abzuwehren, eine, um die Wahrheit zu schnitzen.
Gesichter strömten auf ihn zu – Claras sanfte Verwunderung, Roths raue Kameradschaft, sogar seine eigenen jüngeren Züge, die von naiver Ambition erhellt waren.
Jedes Gesicht trug eine Bitte, einen Handel: Hör auf zu kämpfen, kehre um, erlebe das Verlorene noch einmal.
„Schließ dich mir an“, flüsterte Vaerentis, seine Stimme hallte durch hundert gestohlene Kehlen. „Keine Schmerzen mehr.“
Einen Herzschlag lang zögerte Draven, Schmerz flackerte hinter seinen Augen. Dieser eine Herzschlag kam ihm wie eine Ewigkeit vor – lang genug, dass Sylvanna den Schatten des Jungen sehen konnte, der er einmal gewesen war.
Dann presste er die Kiefer aufeinander. „Trauer ist echt“, flüsterte er, und die Worte schnitten wie geschärftes Silber. „Lügen nicht.“ Ein entschlossener Hieb zerriss die Parade der Gesichter und löste sie auf. Claras Lächeln zerfiel zu violetten Staubkörnchen. Roths Lachen brach ab, sein Echo verhallte. Der jüngere Draven sah sich selbst mit stiller Akzeptanz verschwinden.
Vaerentis schrie – der Schrei zerbrach in Schichten, während jede Erinnerung abblätterte. Aber Draven war bereits in seiner Deckung, seine Klingen kreuzten sich, um die tapisserieartige Haut zu durchschneiden, und marschierten auf den blutenden Kern zu.
Jeder Schritt löste eine Erschütterung in der Kammer aus. Wurzeln wand sich, die Schwerkraft zuckte, aber Draven behielt das Gleichgewicht – kalte Berechnung zeichnete Vektoren schneller auf, als der Raum sie verzerren konnte.
Sylvanna flankierte ihn und schoss einen Pfeil nach dem anderen auf die Knotenpunkte der sich windenden Magie. Jeder Treffer trennte einen weiteren Faden aus Vaerentis‘ Gewebe gestohlener Leben, bis die Flügel herabsanken und das Schwert zitterte.
Draven stürmte vorwärts. Die Lücke vor ihm pulsierte wie ein zweites Herz und spuckte widerliches grünes Licht aus. Noch ein Schnitt, sagte sein Verstand. Beende es.
Der letzte Schnitt würde als nächstes kommen.