Nebelschwaden schlängelten sich unruhig über die spiegelglatte Felswand und glitten wie Seide über den Stein, als würde jemand mit den Fingern darüber streichen. Blasses Abendlicht drang durch den Schleier und warf gebleichte Lichtstreifen, die tanzten und verschwanden, bevor sie sich festsetzen konnten. Als Sylvanna einen Stiefel auf den halbmondförmigen Felsvorsprung setzte, drang sofort kalte Feuchtigkeit durch die Ledersohle und ließ ihre Zehen taub werden.
Sie blickte nach unten und erwartete, ihr eigenes Gesicht aus der Wasseroberfläche, die sich an den Felsen schmiegte, zurückblicken zu sehen.
Das tat es auch – aber es war eine Version von ihr, die sie kaum wiedererkannte.
Ihr Haar, das eigentlich in einem lebhaften Abendrot leuchten sollte, war stumpf und grau geworden und hing in zerzausten Strähnen um ihr von Müdigkeit gezeichnetes Gesicht. Tiefe Falten umrahmten ihren Mund.
Das Grün ihrer Augen, das normalerweise schnell und scharf war, war zu einem verblassten Salbeigrün verblasst. Sogar ihre Haltung im Spiegelbild war gekrümmt, die Schultern nach innen gezogen, als würde der Bogen in ihrer Hand doppelt so viel wiegen wie er sollte. Ihr Mund wurde trocken. Für einen Atemzug spürte sie, wie sich eine Last auf ihre Knochen legte, als hätten sich dieser ältere Körper und ihr lebender Körper für einen Moment überlagert.
„Draven?“ Der Name kam leise über ihre Lippen, wie in einem Bibliotheksflur oder einer Trauerhalle.
Er antwortete nicht. Ein paar Schritte hinter ihr beobachtete er den Teich in absoluter Stille, die Kapuze seines Mantels zurückgeworfen, sodass das Abendlicht die scharfen Linien seines Gesichts beleuchtete. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie bemerkte, dass etwas fehlte: Sein Spiegelbild war nicht da. Nur der verzerrte Himmel starrte aus dem Wasser, wo sein Bild hätte sein sollen.
Sylvanna drehte sich um. „Du bist nicht – was zum Teufel ist hier los?“
„Es zeigt sich mir selten“, murmelte Draven, als würde er das Wetter kommentieren. Er hockte sich hin und berührte mit zwei Fingern den glatten Stein. Sofort schien die Luft um ihn herum still zu stehen. Mana, unglaublich diszipliniert, entrollte sich unter seiner Haut und breitete sich so fein wie Spinnenseide nach außen aus. Die Oberfläche kräuselte sich einmal, wie ein Herzschlag unter Eis, dann wurde sie wieder ruhig.
Selbst in der Hocke sah er gelassen aus, den Rücken kerzengerade, die Schultern gerade. Die Ruhe eines Henkers. Sylvanna kam es vor, als würde er mit dem Bluff kommunizieren, wie Kryptographen mit Chiffren sprechen – keine überflüssigen Bewegungen, keine Schnörkel, nur eiserne Entschlossenheit.
Sie kniete sich neben ihn, suchte das Wasser ab und behielt dabei den Weg hinter ihnen im Augenwinkel. „Zu sehen, wie mein Gesicht in den Großmutter-Modus verfällt, stand nicht auf dem Programm.“
Sie versuchte zu lachen, aber es klang nur hohl, wie Frost.
„Du siehst Entropie“, sagte Draven. „Eine magische Blase hier nährt sich von persönlichen Ängsten. Für dich – verschwendete Zeit. Unvollendete Träume.“ Er sah nicht auf. „Für mich haben Spiegel nicht die richtigen Worte.“
Etwas in der Flachheit dieses Satzes ließ sie den Witz, der ihr auf der Zunge lag, verschlucken.
Seine behandschuhten Fingerspitzen zeichneten einen langsamen Bogen. Winzige violette Energietröpfchen sickerten durch den Stein nach oben und erloschen, sobald sie die Luft berührten. Er maß, er vertrieb nichts – ein Kartograf, der die Narben in der Erinnerung der Erde kartografierte. Nach einigen Herzschlägen sprach er erneut, mit leiserer, entschlossener Stimme.
„Die Spuren sind frisch.“
Sylvanna sträubte sich. „Was für Spuren?“
„Dämonisch, aber nicht körperlich.“ Seine Finger wechselten die Richtung und zeichneten Symbole, die nur er sehen konnte. „Eher wie Krallen aus Gefühlen als aus Fleisch – Kratzer auf den Ley-Linien selbst. Wenn du die Bewegung von Trauer oder Wut einfrieren könntest, würdest du das sehen.“
Sie rückte unbewusst vom Teich weg. „Du kannst das aufspüren?“
„Wenn du weißt, wie man zuhört.“ Er stand auf und wischte sich den Kondenswasser von seinem Handschuh. Eine leichte Anspannung blieb in seinem Kiefer zurück – ein seltener Beweis dafür, dass ihm das, was er fühlte, nicht gefiel. „Komm. Je länger wir hier bleiben, desto lauter werden wir.“
Sie gingen weiter und ließen die Steilküste hinter sich. Allmählich wich der glasige Fels einem verwundenen Wald aus Wurzeln, von denen jede so dick wie ein Mast war und schwach mit biolumineszenten Adern leuchtete.
Ihre Schritte hallten dumpf wider, der Schall wurde von Moos verschluckt, das sich über jede Oberfläche erstreckte. Es fühlte sich an, als würden sie sich durch den Bauch eines gigantischen Wesens bewegen. Selbst Sylvannas Atem, der von der Anstrengung zuvor rau war, schien hier respektlos.
Es wehte kein Wind. Keine Insekten zirpten. Nur ein gelegentliches Knarren – Holz oder Knochen? – hallte irgendwo weit vor ihnen wider.
„Ich hasse diese tiefe Stille“, murmelte sie und rückte den Bogen über ihrer Schulter zurecht. „Es fühlt sich an wie eine Anschuldigung, auf die ich keine Antwort habe.“
Draven nickte einmal, um ihr Unbehagen anzuerkennen, ohne sich weiter damit zu beschäftigen. Doch Sylvanna bemerkte die subtile Neigung seines Kopfes, die Art, wie seine Augen ständig umherwanderten – der Jäger, der in einem fremden Revier auf der Hut ist. Er lauschte unsichtbaren Strömungen und wog Bedrohungen gegen Sekunden ab.
Als sie an einer Gruppe riesiger Pilze vorbeikamen, deren Hüte so breit wie Schilde waren, blieb Sylvannas Blick an einer Pilzspitze hängen. In ihrer Mitte steckte eine einzelne silberne Feder, die zitterte, obwohl kein Windhauch sie berührte.
Eine Erinnerung kam in ihr hoch: Die Feder gehörte ihrer Chimäre Vyrik, dem Greif-Wolf-Hybriden, den sie zurückgelassen hatte, um Laethiel zu beschützen. Ihr Magen zog sich zusammen. Hatten die Wächter ihn so weit getrieben? Oder war etwas anderes passiert?
Sie streckte die Hand aus, um die Feder zu pflücken. Draven riss die Stille mit seiner Stimme. „Rühr die Markierungen nicht an.“
Sie erstarrte, die Hand nur wenige Zentimeter entfernt. „Markierung?“
Er zeigte darauf, und im schwachen Schein sah sie, was ihr entgangen war – einen kaum sichtbaren Ring aus Brandspuren um den Fuß des Fliegenpilzes, mattrot auf der schwarzen Erde. Kein natürliches Feuer: bindendes Feuer, das verwendet wurde, um beschworene Bestien zu fesseln. Eine Botschaft, klar wie Tinte für diejenigen, die die geheimen Sprachen sprachen.
„Jemand hat deine Chimäre gefesselt“, sagte Draven. „Er ist noch in der Nähe. Wahrscheinlich unverletzt, sonst wären die Brandspuren dunkler.“
Die Schlussfolgerung – dass jemand ihre Kreatur als Druckmittel benutzte – ließ eine Welle der Wut in ihr aufsteigen. Sie ballte die Fäuste, sodass ihre Knöchel weiß wurden. „Wer auch immer diese Prüfungen inszeniert, wird es bereuen, ihn angerührt zu haben.“
Dravens Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber er sprach mit derselben ruhigen Stimme, die ihren Puls irgendwie beruhigte. „Emotionen trüben den Blick. Spar dir das für den Moment auf, wenn wir den Drahtzieher sehen.“
Sie drangen tiefer vor. Über ihnen wölbten sich Wurzeln, die sich zu groben Gängen verflochten.
Schwaches Pilzlicht malte wechselnde Mosaike auf Dravens blasse Gesichtszüge und ließ ihn noch unheimlicher wirken. Sylvanna ertappte sich dabei, wie sie ihn beobachtete – wie jeder seiner Schritte lautlos war, wie er nicht einmal zuckte, als groteske Gestalten im Halbdunkel auftauchten. Ihr wurde klar, dass ihr früherer Gedanke – gealtert, erschöpft – vielleicht nicht nur die Angst vor der Zeit war, sondern auch die Angst, mit einem Mann nicht Schritt halten zu können, der die Realität selbst zerlegte.
Vor ihnen teilte sich der Wurzelkorridor. Der rechte Weg führte zu einer gähnenden Schlucht, die von leuchtenden Ranken bedeckt war; der linke schlängelte sich durch knotige, taufeuchte Stämme. Draven blieb stehen und berührte mit den Fingerspitzen die Schwellen beider Wege. Er schloss die Augen halb und lauschte auf das psychische Kratzen.
Nach einem Herzschlag bog er nach links ab. „Die Narbe verläuft hier weiter.“
Sylvanna folgte ihm, aber ein ungutes Gefühl beschlich sie. Alle paar Meter sah sie kleine Verzerrungen – Schatten, wo keine sein sollten, ein flüchtiges Zucken außerhalb ihres Blickfeldes. Zweimal glaubte sie, jemanden ihren Kindheitsspitznamen flüstern zu hören, eine sanfte, fast zärtliche Stimme. Jedes Mal zwang sie sich, nicht auf die spiegelnde Rinde um sie herum zu schauen.
Schließlich spuckte der Tunnel sie auf eine kleine Lichtung aus – Wurzeln bildeten einen perfekten Kreis, der Boden war kahl, bis auf ein frisches Symbol, das in weichen Lehm geritzt war. Dämonische Runen vermischten sich mit elfischer Schrift und pulsierten schwach wie eine infizierte Wunde. Draven kniete daneben, seine Augen blitzten kalt vor Interesse.
„Sie vermischen Sprachen“, murmelte er. „Wer auch immer das geschrieben hat, weiß genug, um zu verfälschen, aber nicht genug, um etwas Neues zu schaffen. Das ist eine Nachahmung – gestohlene Syntax.“
Sylvanna betrachtete das Symbol. „Was bedeutet das?“
„Das bedeutet, dass unser Puppenspieler verzweifelt ist. Oder in Eile.“ Er legte eine Hand flach auf die Schnitzerei, und Sylvanna beobachtete, wie die Linien flackerten und einige sich von seiner Berührung zurückzogen. Er zog die Hand zurück und runzelte die Stirn. „Die Restenergie ist ungleichmäßig. Als würde jemand testen, was der Hain aushält, bevor er zusammenbricht.“
Sie atmete zittrig aus. „Sie sondieren.“
„Oder proben“, korrigierte Draven. Er stand auf und klopfte sich die Erde von der Handfläche. „Was bedeutet, dass noch eine größere Darbietung bevorsteht.“
Sylvanna ließ ihren Blick zum Himmel schweifen, aber die Wurzeln wölbten sich über ihr und ließen nur winzige Punkte der fernen Dämmerung erkennen. Die Hoffnung schien so fern wie diese blassen Sterne. Doch etwas in Dravens Haltung – keine Arroganz, sondern unerbittliche Gewissheit – gab ihr Halt.
Er ging weiter, jetzt langsamer, streifte mit den Handflächen gelegentlich die Wurzeln und las die Vibrationen wie Brailleschrift. Der Hain antwortete: manchmal mit einem leisen Seufzer, manchmal mit einem Stottern, als wäre er sich nicht sicher, ob er ihm vertrauen sollte. Die Stille wurde dichter. Selbst die leuchtenden Pilze schienen zu verblassen und schrumpften unter einem unsichtbaren Druck.
Sylvanna befeuchtete ihre Lippen. „Draven, wenn dieser Ort sich von Ängsten nährt, was will er dann von dir? Du hast kein Spiegelbild hinterlassen.“
Er warf ihr einen unlesbaren Blick zu. „Was, wenn der Spiegel nichts sieht, weil er sich nicht entscheiden kann, welches Gesicht er zeigen soll?“
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Bevor sie nachhaken konnte, bewegten sich die Wurzeln vor ihnen und teilten sich mit einem widerwilligen Knarren. Dahinter lag ein schwach beleuchteter Gang, gesäumt von zerklüfteten Silhouetten, die unheimlich an angekettete Statuen erinnerten – Steinfiguren, die mit Rinde verwachsen waren und deren Gesichter in einem Schrei erstarrt waren.
Ein leises, rhythmisches Summen drang aus dem Inneren und schlug im Takt ihres Herzens.
Draven sprach endlich wieder.
„Der Dämon hat nicht nur den Hain sabotiert.“