Sylvannas Puls pochte laut in ihren Ohren, als die letzten Spuren von Draven aus dem Stein verschwanden. Die Stille, die folgte, war so dicht, dass sie fast wehtat – als wäre sie nach Mitternacht in einer Bibliothek eingeschlossen, wo jedes Buch darauf wartete, sie für die nächste Seite zu verurteilen. Sie zog ihre Handschuhe fester an, um sich mit dem Leder zu erden.
Das Tor ragte vor ihr auf, seine zerfurchte Oberfläche war von Jahrhunderten von Moos und Mineralablagerungen übersät, doch die eingravierten Namen schimmerten wie frische Tinte, wenn das Licht der Fackeln sie berührte. Hunderte, vielleicht Tausende von elfischen Silben lagen in den verwitterten Rillen verborgen, ein Chor von Geistern, die Sprachen sprachen, die älter waren als Grenzen. Jede Rune schien sich ihr entgegenzubeugen und sie herauszufordern, sie für sich zu beanspruchen.
Draven trat von der Wand zurück, das schwache Leuchten auf seiner Brust schwoll an und verebbte im Rhythmus seines Atems. Im smaragdgrünen Schein des Flurs wirkten seine Augen farblos – wie Eis, das die Wärme des Feuers vergessen hatte. Er warf Sylvanna einen Blick zu und maß die Anspannung in ihren Schultern.
„Dieser Ort lebt von Gewissheit“, warnte er. „Wenn du zu lange überlegst, sieht er darin Zweifel.“
„Dann verhungert er praktisch“, murmelte sie und versuchte, humorvoll zu klingen, obwohl ihr die Angst in der Magengrube flatterte. Sie rollte den Nacken und versuchte, das Phantomgewicht all ihrer falschen Entscheidungen zu vertreiben. „Wie bist du auf den Namen gekommen?“
Er musterte den verwitterten Stein, als könnte er sich jeden Moment neu schreiben. „Ich bin nicht darauf gekommen. Ich bin zu ihm gegangen.“
Rätselhaft – und doch seltsam beruhigend. Sie nickte einmal, schloss die Augen und ließ den Nachhall seiner Worte in ihrem Hinterkopf nachklingen. Geh zu ihm.
Es wurde still, samtig und absolut. Unter der Stille waren leise Geräusche zu hören: das leise Klirren ihres Köchers, Dravens gleichmäßiges Atmen, das leise Zischen der Runen, die sich wieder mit dem Basalt verbanden.
Minuten vergingen, oder vielleicht waren es nur Herzschläge – die Zeit schien in diesen Hallen wie eine Hitzeschleier zu verzerren.
Dann streifte ein federleichter Flüsterton ihren Geist. Es war keine Stimme, nicht einmal eine Silbe, eher ein Ziehen – wie eine Drachenleine, die in vergessenen Händen zurückgeblieben war. Das Ziehen trug den schwächsten Duft von Zedernholz und frostig-süßem Regen mit sich und riss einen einzigen Faden der Erinnerung heraus:
Das Lagerfeuer eines Waldläufers, das sie als Kind nur einmal von einer Klippe aus gesehen hatte, flackernd in der Schlucht unter ihr. Sie war zehn gewesen – kalt, hungrig, überzeugt, dass ihr als Lehrling erlegter Fasan niemals die Küche des Waisenhauses füllen würde. Unten im Tal hatte ein einsamer Bogenschütze ihre Silhouette vor dem Mond entdeckt, die Hand erhoben und einen zweitönigen Pfiff gesungen, der über die Felsen hallte. Geh nach Hause, kleine Jägerin, hatte der Pfiff gesagt.
Sie war gegangen, mit dem Fasan und allem. Die Waisenkinder hatten an diesem Abend gut gegessen.
Seitdem hatte sie nicht mehr an den Fremden gedacht. Doch jetzt erklang sein Pfiff wieder, verbunden mit einem Namen, den sie wie Winter auf ihrer Zunge schmecken konnte.
Sie öffnete den Mund. Die Luft kühlte sich an, wartend.
„Thalas Moeren“, flüsterte sie.
Der Name kam zerbrechlich wie Zuckerwatte heraus – aber das Tor verschlang ihn wie geschmolzenes Gold. Runen unten rechts leuchteten auf und schossen in verzweigten Flüssen aus Bernstein nach oben. Sylvanna zuckte zusammen; das Leuchten war so hell, dass es die Knochen unter der Haut zum Leuchten brachte.
Der Stein wurde weich, wurde durchscheinend, bis eine Platte wegschmolz und eine Vision zum Vorschein kam, die Draven später als eine Erinnerung beschreiben würde, der Gnade zuteil geworden war:
Ein dunkler Wald. Gebrochene Pfeile lagen im Schnee verstreut. Ein großer Elf – sein Umhang zerfetzt, Blut an seiner Seite – kniete schützend vor einem Kreis von Kindern. Schatten sammelten sich an der Baumgrenze, amorphe Mäuler mit Zähnen aus Mondlicht, aber der Waldläufer wankte nicht. In einer Hand hielt er einen Weidenbogen, dessen Sehne zerfetzt und unbrauchbar war, mit der anderen drückte er ein Siegel aus lebendem Efeu an sein Herz.
Er sprach einen einzigen Satz, der für menschliche Ohren zu leise war. Licht flammte aus dem Efeu auf und blühte zu einer Kuppel auf, die die Schatten zurückdrängte wie Wellen, die sich von einer Klippe zurückziehen. Er blickte zu Sylvanna – nein, zu dem unsichtbaren Beobachter, den ihre Seele darstellte – und lächelte. Nicht triumphierend, sondern dankbar. Das Leuchten des Efeus wurde so hell wie Tageslicht, und die Szene zerplatzte wie Pusteblumen im Wind.
Die Leinwand verdunkelte sich. Stille brach herein, schwer wie eine Schneedecke.
Sylvanna wäre fast in die Knie gegangen. Sie stützte sich mit einer Hand gegen das Tor und fühlte sich ganz schwindelig von einem wilden Mix aus Schuldgefühlen, Staunen und einer Trauer, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie in sich trug. Etwas Warmes drückte gegen ihr Brustbein. Sie riss an ihrem Kragen – unter dem schuppigen Lederwams entfaltete sich eine lebende Rune auf ihrer Haut: vier ineinander verschlungene Blätter, durchbohrt von einer Pfeilspitze, deren Stiel in gedämpftem Licht pulsierte.
Es fühlte sich weder schmerzhaft noch invasiv an – eher wie eine Erinnerung, eine Glut, die sie pflegen oder ignorieren konnte.
Draven stand ihr gegenüber und beobachtete sie, unlesbar bis auf die leichte Erweiterung seiner Pupillen. Das Symbol unter seinem Hemd leuchtete immer noch und bildete die gespiegelte Hälfte des Bundes, den das Tor durchsetzte.
„Eine zweite Meinung wäre schön“, sagte sie mit rauer Stimme, die mehr zitterte, als sie beabsichtigt hatte.
Draven nickte langsam mit dem Kopf – formell, fast höflich. „Das Tor irrt sich selten.“ Das war so ziemlich das Beste, was er an Trost zu bieten hatte.
Ein tiefes Knarren folgte, wie ein alter Türangler, der sich an seine Bewegung erinnert. Granitplatten teilten sich entlang einer zentralen Naht und glitten mit würdevoller Würde zur Seite. Es fiel kein Staub, stattdessen schwebten prismatische Lichtpartikel in trägen Wirbeln aus der Öffnung, als hätten sich Teile der Morgendämmerung entschlossen, eine Tour durch den Untergrund zu machen.
Ein Korridor erstreckte sich davor – kurz, vielleicht zwanzig Schritte lang –, dessen Wände aus zerklüfteten Kristallen bestanden, die in einem Geflecht aus Wurzeln gefangen waren. Smaragdgrüne Flammen brannten in Wandleuchtern, deren Licht kühl, aber seltsam beruhigend war, so wie an einem Frühlingsmorgen, wenn man aufwacht und der Regen sanft auf die Fensterläden prasselt.
Sylvanna atmete aus, und ihr Atem bildete weißen Nebel. „Wenn ich vor lauter Emotionen umkippe, überlass mich den Ranken.“
„Ich bezweifle, dass sie dich verdauen würden“, sagte Draven und trat in den Korridor. Seine Schritte hallten einmal, zweimal, dann wurden sie gedämpft, als der mit Moos bedeckte Boden den Klang verschluckte. Er hielt inne und fuhr mit den Fingerspitzen über den Kristall, um nach Fallen zu suchen; Runen pulsierten warm zur Begrüßung. Zufrieden winkte er ihr. „Bleib dicht bei mir. Der Berg atmet hier anders.“
Sie folgte ihm, ihre Stiefel schmatzten leise auf dem Moos. Die Luft befeuchtete ihre Zöpfe und kühlte ihre schweißnasse Haut. Sie wagte einen Blick zurück; das Tor hatte sich wieder geschlossen, die Namen waren wieder verschwunden, aber sie hätte schwören können, dass die Buchstaben von Thalas Moeren ein wenig heller leuchteten als die anderen – als würden sie ihr winken, weiterzugehen.
Auf halbem Weg den Gang hinunter begannen die Wurzeln in den Wänden zu pulsieren, langsam und rhythmisch – hrrm, Pause, hrrm. Das Geräusch war nicht so sehr zu hören als vielmehr unter der Haut zu spüren, als stünde man neben einer entfernten Trommel. Sylvanna legte ihre Finger auf eine Wurzel. Sie war warm, lebendig, ihre Rinde glatt wie ein Flussstein.
„Hörst du das?“, flüsterte sie.
Draven nickte. „Die Kammer vor uns. Der Atem des Felsens.“ Er wurde nicht langsamer, aber seine Augen folgten jeder Verbindung zwischen Kristall und Wurzel und lasen Druckrillen wie normale Gelehrte Tinte lesen. „Wenn dein Puls mit ihrem Tempo übereinstimmt, öffnen sich die Wände.“
„Und wenn nicht?“
„Steinangst“, antwortete er sachlich. „Halluzinationen, Raumschleifen. Schließlich Ersticken.“
Sie presste die Lippen zusammen. „Reizend. Nichts hält den Verstand so auf Trab wie existenzielle Gefahren.“
Am Ende des Korridors gab ein Torbogen den Blick auf die Kammer des Atems und des Steins frei: eine kreisförmige Höhle, deren Durchmesser sich in der flackernden Dunkelheit der Laternen verlor. Der Boden sah aus wie nahtlos zusammengefügte Granitplatten, doch jede Platte hob sich um einen Millimeter und senkte sich dann wieder, in demselben langsamen Rhythmus wie beim Ein- und Ausatmen.
Adern aus biolumineszentem Moos zeichneten die Erhebungen nach, leuchteten bei jedem Ausatmen auf und wurden bei jedem Einatmen wieder dunkler. Es war, als wäre der ganze Raum die Brusthöhle eines unter dem Berg schlummernden Titanen.
Sylvannas Lungen setzten für einen Moment aus, im Einklang mit dem Rhythmus der Höhle. Sie zwang sich zu einem längeren Ausatmen und zählte, um sich zu beruhigen: eins, zwei, drei, vier.
Draven beobachtete sie und ahmte dann bewusst ihren Atem nach. Das Symbol auf seiner Brust leuchtete heller auf, blitzte einmal auf und synchronisierte sich dann mit dem Moos. Er erkannte sie und es breitete sich eine Welle der Erkenntnis aus – die Platten hoben sich höher, als wären sie neugierig.
Er drehte sich zu ihr um und sagte mit ruhiger Stimme: „Mach es mir nach.“
Sie nickte und schloss die Augen. Das Wiegenlied, das Laethiels Aura ihr geschenkt hatte, kam ihr in den Sinn – ein sanfter Dreivierteltakt, leise ausklingend. Sie hob es wie ein Segel, um den Puls des Raumes einzufangen. Ihr Herzschlag hämmerte unrhythmisch, stockte und fand dann den Takt. Eine Wärme breitete sich von dem Symbol über ihrem Herzen aus, lockerte ihre verkrampften Lungen und beruhigte ihre Zweifel.
Der Stein reagierte. Die Platten unter ihren Stiefeln wurden flacher und glätteten sich zu einem einzigen kreisförmigen Weg, der zur Mitte der Kammer hin abfiel. Dort ragte ein steinerner Brunnen empor, dessen Seiten von Wurzeln umrankt waren, die wie Skelettfinger aussahen. Das Wasser darin leuchtete in einem gedämpften Blaugrün. Jedes Mal, wenn die Höhle einatmete, sank die Oberfläche des Brunnens; beim Ausatmen stieg sie wieder an, als wäre der Wasserstand ein sichtbares Maß für den Atem.
Draven betrachtete die Anordnung. „Der letzte Wächter“, sagte er mit kaum bewegten Lippen.
Wie auf ein Stichwort hin ächzte der Brunnen. Luft strömte durch die Kammer und trug Staub und den kupfernen Geruch der tiefen Erde mit sich. Der Boden bebte so leicht, dass nur die lose Zopfspitze an Sylvannas Nacken die Bewegung registrierte.
Eine Spalte tat sich um den Brunnen auf, Wurzeln brachen auseinander, Erde regnete in langsamen Körnern herab. Etwas regte sich in dieser Spalte – schuppig, massiv, älter als jeder Fluch. Es erhob sich wie ein geborener Berg, der entschied, dass der Himmel zu klein war. Moos löste sich in durchnässten Blättern, Rinde splitterte wie gebrochene Rippen.
Zwei Flügel – riesige Klippen aus versteinertem Holz, mit Ranken zusammengebunden – entfalteten sich und schüttelten Sand in donnernden Kaskaden ab.
Kristalline Augen – große facettierte Edelsteine mit goldenen Streifen – sprangen auf. Leuchtendes Licht schoss durch sie hindurch wie die Morgensonne durch Buntglasfenster.
Der Erddrache sprach, und das Grollen seiner Worte ließ die Zähne klappern, noch bevor man den Sinn seiner Worte verstehen konnte: DU GEHÖRST NICHT HIERHER.
Sylvannas Dolch war in ihrer Hand, bevor sie nachdenken konnte, ein Glyphen-Siegel leuchtete hell entlang seiner Schneide. Draven, der bereits in Bewegung war, trat vor, seine Klingen tauchten aus der flimmernden Luft an seinen Seiten auf. Keine theatralischen Gesten eines Beschwörers – nur Wille, der sich in Stahl kristallisierte.
Er sank auf ein Knie. Die Geste war weder Angst noch Verehrung – eher ein formeller Handschlag zwischen Titanen.
„Ich bin Dravis Granger“, erklärte er mit einer Stimme, die über die trommelnde Stille hinweghallte. „Wanderer. Hüter. Ich suche den Samen nicht, um ihn zu führen, sondern um ihn zu bewahren.“
Der Atem des Drachen wehte in Böen und wirbelte Staub auf. Er roch nach altem Lehm und von Blitzen gespaltenem Zedernholz. Der Kopf des Drachen neigte sich, seine Klauen rissen Furchen in den Boden, die tiefer waren als Graben.
BEWEIST EURE ABSICHT IM KAMPF, intonierte er. Energie kroch über seine Schuppen – Adern aus geschmolzenem Jade entzündeten sich eine nach der anderen.
Sylvanna wich seitwärts zurück, ihre Stiefel kratzten über den Boden. „Wollen wir das wirklich tun?“
Draven erhob sich, zwei Schwerter schwebten vor ihm wie Raubfische, die Blut wittern. „Nur so lange, wie es notwendig ist.“
Der Drache hob eine Klaue, die dicker war als ein Kriegspferd. Ley-Feuer sammelte sich, bereit, herabzufallen –
„HALT! ZURÜCK!“
Der Befehl hallte wie ein Donnerschlag durch die Kammer. Echos prallten ab und ließen die Stalaktiten über ihnen klappern. Der Drache erstarrte, die Klauen in der Luft, die Augen verengten sich, als das Ley-Feuer erlosch.
Eine Gestalt tauchte aus einem mit Ranken bewachsenen Tunnel zu ihrer Linken auf – sie taumelte, ihre Rüstung war zerbrochen wie Töpferware, Blut klebte in ihrem Haar und lief ihr über die hohen Wangenknochen. Ranken umschlangen ihren rechten Arm wie lebende Armschienen; ihre Blätter leuchteten schwach mit heilenden Symbolen. In ihrer linken Hand hielt sie ein handflächengroßes Siegel aus Kernholz, dessen Linien im gleichen sanften Blaugrün pulsierten wie der Brunnen.
Er humpelte vorwärts, seine Stimme angestrengt, aber unverkennbar autoritär. „Komm“, sagte der Elf und hob das Siegel, sodass sowohl der Drache als auch die Eindringlinge es sehen konnten. „Wenn ihr wirklich wegen des Samens gekommen seid, müsst ihr zuhören, bevor ihr handelt.“
Der Drache senkte seine Klaue, und das Ley-Feuer flackerte wie Augen im Schlaf.
Sylvannas Knöchel umklammerten ihren Dolch. „Was in aller Welt ist das?“
Dravens Klingen schwebten summend in der Luft, während er die Verletzungen des Neuankömmlings, die Herkunft des alten Siegels und die kaum hinter seiner Befehlsgewalt verborgenen Anflüge von Verzweiflung registrierte. Möglichkeiten schwirrten ihm durch den Kopf.
Er antwortete nicht. Stattdessen drehte er sich zu dem verwundeten Elfen um und musterte ihn, während er das Urteil abwog, das in dessen fiebrig leuchtenden Augen stand.
Die Kammer atmete einmal tief ein und wartete.
Bild wird schwarz.