Die Dämmerung hing in einer grünen Stille, als Draven und Sylvanna in die Halle der Blütenblätter schlüpften.
Der gewölbte Gang fühlte sich an wie eine lebende Lunge, die die Abenddämmerung einatmete und einen kühlen Atem ausstieß, der schwach nach zerdrückten Lilien und alter Tinte roch. Hoch über ihnen fingen Bogenrippen aus mit Efeu bewachsenem Marmor das letzte violette Licht ein, und zwischen diesen Rippen blühten Wandgemälde – ganze Gärten, die in Stein gemeißelt waren, jedes Blütenblatt mit silbernen Runen verziert, die in einem langsamen, hallenden Herzschlag pulsierten.
Dravens Blick wanderte durch den Korridor, wie ein Chirurg eine freiliegende Vene untersucht. Jedes Blütenblatt, jede Rune, jeder zarte Schimmer des reflektierten Lichts prägte sich in seinem Kopf ein. Zwischen den Wandgemälden schwebten goldene Sporen, nicht größer als Pfefferkörner, aber hell genug, um winzige Halos an die Wände zu werfen. Sie schwebten in trägen Spiralen, unschuldig wie Pusteblumen, bis man bemerkte, dass sie nie den Boden berührten.
Ohne sich umzudrehen, hob er eine behandschuhte Hand, um Sylvanna aufzuhalten.
„Fass nichts an“, sagte er mit kaum mehr als einem Flüstern. „Das ist mnemonischer Pollen. Eine falsche Bewegung und der Hain wird uns in Jahrhunderte geliehenen Leids ertränken.“
Sylvanna hatte bereits neugierig einen Finger ausgestreckt. Sie erstarrte, und in ihren Augen blitzte kurz eine Herausforderung auf, bevor Vorsicht die Oberhand gewann. „Geliehene Trauer klingt übertrieben“, murmelte sie und zog ihre Hand an ihre Brust. „Ich bevorzuge meine eigene Trauer.“
Draven lächelte nicht. Das tat er selten. Stattdessen trat er vor, jeden Schritt so berechnend, dass seine Stiefelsohlen die moosbedeckten Fliesen berührten, ohne die Luft zu bewegen. Der Boden reagierte darauf: Ein sanftes Leuchten breitete sich in Wellen aus, die in dem Moment erloschen, als er stehen blieb, als würde er ihm die Erlaubnis zum Weitergehen geben.
Sie sah ihm mit hochgezogener Augenbraue nach. „Das ist ein Tanz, nicht wahr?“
„Ein Begräbnisritual“, korrigierte er sie mit eiskalter Stimme. „Elfenarchivare gingen diesen Weg, während sie Erinnerungen in Samenkristallen versiegelten. Jede Bewegung steht für eine Phase der Trauer. Ein Fehltritt wird in diesem Saal als Entweihung gedeutet.“
„Reizend.“ Sylvanna ahmte seine Schritte nach und rollte ihre Zehen in derselben leisen Kadenz von der Ferse auf die Fußballen.
Ihr dunkles, kupferfarbenes Haar, das mit Federanhängern geflochten war, streifte ihre Schulter, als sie zu der nächsten Wandmalerei hinaufblickte. Die mit Blütenblättern verzierten Lilien bewegten sich, als sie vorbeiging, und ihre Farben vertieften sich von zartem Rosa zu Blutrot. Sie holte tief Luft, mehr voller Ehrfurcht als Angst. „Im Grunde genommen tanzen wir also durch die Therapiesitzung eines toten Waldes.“
Draven nickte kaum merklich. „Im Wesentlichen.“
Sie bewegten sich wie ein Spiegelbild – er als Metronom, sie als Echo – und schlängelten sich tiefer hinein, während sich die gewölbte Decke verengte, bis der Saal wie das Innere einer riesigen, mit Runen beschrifteten Puppe aussah. Der Pollen leuchtete hier dichter und wirbelte wie Galaxien in einem Glas. Draven bemerkte die Dichte, wurde aber nicht langsamer, sondern änderte das Tempo und drehte sich um eine halbe Drehung. Sylvanna folgte ihm mit einer Herzschlagverzögerung.
„Linker Fuß, zuerst die Ferse“, wies er sie an. „Diese Strophe steht für Verleugnung. Der Boden duldet keine Ungeduld.“
Sie gehorchte, und das Moos unter ihren Stiefeln wurde warm, ein Puls der Akzeptanz. Dennoch neigte sich der Pollen zu ihr, angezogen von der unruhigen Energie, die immer unter ihrer ruhigen Oberfläche brodelte.
„Du denkst zu viel“, warnte Draven.
„Verzeih mir, wenn das Deuten von Pflanzenkummer nicht meine Muttersprache ist“, gab sie leise zurück, wobei ihre Wangen trotz der Kälte rot wurden.
Er neigte sein Kinn. „Deute nicht. Beobachte. Lass den Rhythmus entscheiden.“
Ein subtiles Einverständnis blitzte in ihren Augen auf – einverstanden. Sie beruhigte ihren Atem und ließ ihre Schritte seinen folgen, anstatt ihnen vorauszulaufen. Langsam driftete der Pollen davon, besänftigt.
Die Wandmalereien reagierten darauf.
Licht strömte aus den Blütenblättern, verwandelte sich in zarte Silhouetten, die sich von den Wänden lösten – Geisterbilder aus Staub und Erinnerung. Kinder lachten unter schimmernden Blättern, Harfenmusik erklang aus unsichtbaren Händen. Es fühlte sich unfassbar sanft an, und für einen Moment zog sich Sylvannas Brust vor Nostalgie nach einer Heimat zusammen, die sie nie gekannt hatte.
Dann zerbrach die Szene.
Das Lachen verwandelte sich in raues Geschrei. Der gemalte Baldachin verdunkelte sich; Asche wirbelte dort, wo noch vor Augenblicken Pollen geschwebt hatte. Steinlilien weinten bernsteinfarbenen Saft. Sylvanna zuckte zusammen, als ein gespenstischer Schrei durch den Korridor schnitt und wie eisiger Wind durch sie hindurchging. Reflexartig griff ihre Hand nach dem Bogen auf ihrem Rücken.
„Halt“, flüsterte Draven, ohne sich umzudrehen. „Es ist nur eine Erinnerung.“
„Für mich fühlt es sich sehr real an“, antwortete sie mit heiserer Stimme.
Er presste zwei Finger zusammen – eine winzige Geste, die sie als Zeichen für Konzentration gelernt hatte. Die Halluzinationen gehorchten ihm, als hätte er einen Dirigentenstab geschwungen: Sie teilten sich und wirbelten um ein neues Bild am anderen Ende des Tunnels – ein einzelnes Kind, ein Elf, das neben einem zerbrochenen Bäumchen kniete.
In winzigen Händen hielt es einen Kristallkern, der im zarten Licht der Morgendämmerung leuchtete.
Draven wurde langsamer. Das letzte Wandbild bildete einen Bogen um diese Vision, dessen Blütenblätter sich wie schützende Flügel nach innen krümmten.
Sylvanna passte sich seinem Tempo an, ihr Puls raste. „Dieser Samen …“
„Der Herzenssamen“, bestätigte Draven. Die Kälte in seiner Stimme taute gerade so weit auf, dass Ehrfurcht durchschimmerte. „Der Grund, warum wir hier sind.“
Sie schluckte und starrte auf den kleinen leuchtenden Splitter. Aus der Nähe betrachtet war er nicht größer als ein Spatzen-Ei – unglaublich klein angesichts der Legenden, die sich um ihn rankten.
„Er ist kleiner, als ich gedacht habe“, flüsterte sie.
Die Stille im Gang schien sich zu verdichten, als würde sie auf sein Urteil warten.
„Das sind sie immer.“
Und der Pollen – all diese schwebenden Partikel eingefangener Trauer – seufzte zustimmend, ließ sich für einen Herzschlag in einer ruhigen Umlaufbahn um sie herum nieder, bevor er erneut seinen langsamen himmlischen Tanz begann.
Die Prüfung der Harmonie offenbarte sich als silberner Nebel, als Draven und Sylvanna durch den mit Weinreben umrannten Torbogen traten. Der Raum dahinter war perfekt kreisförmig – groß genug, um ein kleines Amphitheater zu beherbergen – und doch fühlte er sich größer an als jeder offene Himmel. Keine Ziegeldecke schloss ihn nach oben ab, stattdessen wölbte sich eine gewebte Kuppel aus lebenden Zweigen über ihnen, durch die nur winzige Sterne schimmerten, die nur eine Illusion sein konnten.
Ihr blasses Licht fiel auf einen flachen Nebel, der den Boden bedeckte und jeden Atemzug in kleine weiße Wirbel verwandelte.
Über diesem Nebel schwebten Plattformen – schlanke Scheiben aus poliertem Zedernholz und Quarz, die sich langsam drehten, als würden sie einem unhörbaren Wind lauschen. Sie waren in lockeren Spiralen angeordnet, Dutzende über Dutzende, keine zwei auf genau derselben Höhe. Einige schwebten auf Kniehöhe, andere ein ganzes Stockwerk darüber.
Jede Scheibe schimmerte in ihrer Mitte mit einer schwachen Rune, aber von der Schwelle aus sahen diese Symbole so blass aus wie Mottenflügel.
Sylvannas erster Impuls war einfach: die nächste Plattform aussuchen und springen. Ihre Stiefel klopften einmal auf den Boden, um den Schwung zu messen, und dann sprang sie vorwärts wie eine Katze, die ein neues Regal ausprobiert.
Die Scheibe, auf der sie landete, antwortete mit einem Ton – einem sauren, verzerrten Klirren, das alle Äste über ihr zum Rasseln brachte. Eine durchsichtige Welle breitete sich von ihren Füßen aus, schlug gegen die Wände und prallte als gedämpfte Schockwelle zurück. Sie brachte sie aus dem Gleichgewicht, nicht durch Schmerz, sondern durch eine seltsame elterliche Zurechtweisung, und ließ sie zurück auf den festen Boden gleiten.
Draven fing sie lässig am Ellbogen auf. Der Aufprall bewegte seinen Mantel kaum.
„Noch einmal“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Aber hör zu. Nicht mit den Ohren. Mit deinem Instinkt.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Das ist doch nur eine bedrohliche Lehrerfloskel für ‚Ich habe eigentlich keine Anweisungen‘, oder?“
„Kaum.“ Draven ließ seinen Blick über die spiralförmigen Plattformen schweifen, registrierte ihre winzigen Drehungen und berechnete die Abstände in Herzschlägen. „Die Anordnung ist eine Hymne. Jede Plattform ist eine Note.“
Sylvanna hob eine Augenbraue. „Und ich soll wohl erraten, dass du zufällig die Melodie kennst?“
„Ich erinnere mich daran“, antwortete er und trat leicht auf eine Scheibe neben der, die sie zurückgewiesen hatte. Ein klarer Ton erklang – hoch und kristallklar, eine Note, die Glasgeschirr in Regalen zum Schwingen bringt. Er machte einen zweiten Schritt; die nächste Plattform erklang mit einem tieferen, resonanten Kontrapunkt.
Zwei Noten, eine Antwort. Selbst der Nebel schien den Atem anzuhalten.
„Das ist das Seed-Rite-Wiegenlied“, sagte Draven, ohne sich umzudrehen. „Es wurde gesungen, wenn ein Herzenssamen in Stasis ging. Die Halle lässt uns nur passieren, wenn wir es genau nachsingen.“
Sylvanna blies sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. „Du hast die Bardenakademie geschwänzt, um bei den Nekromanten zu trainieren, und trotzdem hast du dir Begräbnismusik gemerkt?“
Er landete auf einer dritten Scheibe – ein Altstimme gesellte sich dazu und fügte sich nahtlos in die ersten beiden ein. „Manche Beerdigungen vergisst man einfach nicht so leicht.“
Etwas in seiner Stimme ließ sie verstummen. Sie betrachtete erneut die Spirale. Die Scheiben glänzten schwach, als wollten sie ihren Teil des Liedes singen. Schließlich murmelte sie: „Na gut. Maestro, los geht’s. Sag mir einfach, wo ich meine Füße hinstellen soll.“
Draven streckte eine Hand hinter sich aus, die Handfläche einladend geöffnet. Es war eine seltene Geste – eine, die die Grenzen der Sterblichen anerkannte, ohne sie zu verhätscheln. Sylvanna ergriff sein Handgelenk, ihre Finger streiften die Naht seines mit Runen bestickten Handschuhs. Seine Haut strahlte ein leises Glühen von Mana aus, wie Kohlen unter Asche.
„Pass dich meinem Rhythmus an“, wies er sie an und führte sie auf die Scheibe, die er gerade verlassen hatte. Die Plattform erklang erneut, diesmal heller; sie erkannte das Paar als Harmonie und nicht als Fehler. „Keine Abweichung. Wenn dein Puls ins Stocken gerät, bricht das Lied zusammen.“
„Kein Druck“,