„Sylara.“
Das eine Wort traf sie wie ein Dolchstoß, klar und scharf.
Der Lärm kehrte in ihre Ohren zurück – Vyriks unruhiges Atmen, das traurige Knarren der Äste hoch über ihr, das entfernte Zischen von Mana, das sich durch die Wurzeln schlängelte. Sie rappelte sich auf und stützte sich mit der Hand an der knorrigen Rinde hinter ihr ab.
„Was in aller Welt war das?“ Ihre Stimme brach, dünn wie Pergament. Das Wiegenlied war verklungen, aber sein Nachhall blieb: Kupfer auf der Zunge, Sternenlicht hinter ihren Augen.
Draven trat vor, seine Stiefel schritten lautlos über das von Runen beleuchtete Moos. Selbst in der Halbdunkelheit strahlte seine Präsenz Schärfe aus: sein knackiger Kragen, sein makelloser Mantel, seine Klingen, die zwar in ihren Scheiden steckten, aber keineswegs harmlos waren.
Er blieb einen Schritt entfernt stehen, seine Pupillen verengten sich, als sie von Laethiel zu ihr huschten.
„Du hast es gespürt.“ Keine Frage – eine Feststellung.
Sylara wischte sich mit dem Ärmel über die feuchte Stirn. „Es war, als wäre ich in die Erinnerung eines anderen gefallen. Zuerst war es schön, aber dann …“ Sie schüttelte den Kopf und suchte nach Worten. „Dann wollte es mehr von mir, als ich bereit war zu geben.“
„Ein Empathienetzwerk mit hoher Manastärke.“ Draven warf einen Blick auf Laethiel, der immer noch in der Wurzelhöhle lag, seine silbernen Wimpern auf die blassen Wangen gesenkt. „Selbst im Ruhezustand zieht seine Aura ungeschützte Geister an. Du bist anfällig – deine Verankerung ist schwach, du hast keine formellen Nullsiegel.“
Ein Anflug von Empörung ließ sie wieder atmen. „Meine Verankerungen sind stark genug für ein Dutzend Chimären!“ Sie zeigte mit dem Finger auf ihn, in einer Mischung aus Vorwurf und Flehen. „Wir können ihn nicht einfach hier lassen. Er hat uns im Korridor gerettet – was auch immer er ist.“
„Er ist ein Schlussstein.“ Draven sprach mit der kühlen Gewissheit von jemandem, der die Farbe des Himmels aufzählt. „Schlusssteine sind für das Bauwerk da, nicht für die Reisenden. Unsere Aufgabe ist das Bauwerk.“
Sylara folgte seinem Blick zu dem Jungen – nein, nicht dem Jungen – und dann wieder zu ihm. „Deine Aufgabe vielleicht. Meine umfasst normalerweise ‚Verbündete nicht im Stich lassen‘.“
„Ein sentimentaler Gedanke“, antwortete er ruhig, „der vielleicht auf Moos Eindruck macht, aber sonst niemanden.“ Damit hätte das Thema erledigt sein müssen. Aber sein Gesichtsausdruck wurde weicher – kaum wahrnehmbar. Eine winzige Bewegung seiner Augenbrauen, ein Atemzug, der kurz vor dem Abbrechen abbrach. „Wenn er stabil bleibt, holen wir ihn bei der Rettung. Wenn er instabil wird, wirst du dankbar sein, dass der Hain ihn festhält.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, drehte er sich um und schnitt mit einer behandschuhten Hand durch die schwere Luft, als würde er ein unsichtbares Orchester dirigieren. Die Geste lenkte ihren Blick auf das, was ihm aufgefallen war – das, was sie vor lauter Staunen nicht gesehen hatte.
Es kauerte tiefer im Hain, halb versteckt hinter Vorhängen aus Moos und Geisterorchideen: ein titanischer Baum, der zu einer grotesken Gestalt verformt war.
Was einst mit eleganter Anmut in den Himmel gereicht hatte, beugte sich nun nach innen, als würde es von seinem eigenen Herzschlag erdrückt. Der Stamm war entlang einer gezackten Naht weit aufgerissen und legte rohes, purpurrot pulsierendes Kambium frei. Die Rinde blätterte in gewundenen Rollen von der Farbe verkohlter Knochen ab; dicker Saft sickerte wie mit geschmolzener Glut vermischter Teer hervor und zischte bei jedem Tropfen auf die mit Runen verzierten Wurzeln.
Verfaulte Adern pulsierten durch das Holz – dunkel, pochend, hässlich.
Einen Moment später schlug ihnen der Gestank entgegen.
Verbrannte Kupfer und verdorbenes Zedernholz. Schwefel vermischte sich mit feuchter Erde. Der Geruch von etwas Heiligem, das entweiht worden war.
Sylara würgte und hielt sich die Nase zu. Vyrik sträubte die Nackenhaare und legte die Ohren an. Die Chimäre winselte und wich einen Schritt zurück, bis ihr Oberschenkel ihn stoppte.
Draven presste die Lippen zusammen. Keine Angst – niemals Angst. Ekel. „Der Geruch von Dämonen“, murmelte er und sprach das Verbrechen des Hains wie ein Urteil aus.
Eine Brise wehte aus dem zerbrochenen Stamm und trug schwarze Aschepartikel mit sich, die mit bösartigen Funken zischten. Sie lösten sich in der Luft auf und hinterließen winzige dunkle Flecken in Sylara’s Blickfeld. Sie blinzelte sie weg, ihr Herz hämmerte.
Draven ging vorwärts, jeder Schritt bedächtig, als würde er die Schläge eines rituellen Tanzes zählen. „Schau dir die Signatur an“, sagte er leise. „Siehst du die Farbschichten? Ein purpurroter Kern, schwarze Fäden, eine violette Korona. Diese spiralförmige Anordnung ist typisch für höllische Transplantate – sie wurden in Elfenholz gespleißt, um den Rhythmus eines Herzsamens nachzuahmen.“
Sylara blinzelte. Für sie sahen die Adern wie ein chaotisches Durcheinander aus wütendem Rot und teerigem Schwarz aus. „Ich glaube dir.“
„Tu das nicht“, erwiderte er. „Nimm den Beweis mit.“ Er hockte sich hin und schöpfte mit der Spitze eines Wurfmessers einen Tropfen austretenden Saft auf. Die Flüssigkeit haftete an der Klinge und kroch in öligen Ranken das Metall hinauf. Er schnippte sie weg, und sie zischte zu Dampf, bevor sie seinen Handschuh erreichte. „Das ist nicht nur Fäulnis. Es ist eine Infektion, die die Identität des Baumes umschreibt. Dämonen bevorzugen Auslöschung durch Nachahmung.“
Eine Erinnerung blitzte hinter seinen Augen auf – ein älteres Schlachtfeld, Festungen, die in Schatten versunken waren. Er verdrängte sie.
„Deine Familie hat sich damit beschäftigt?“, fragte sie, jetzt leiser.
„Bestimmte Vorfahren haben mit der Magie der Leere gespielt.“ Seine Stimme wurde kälter. „Sie nannten es ‚Forschung‘. Ich nenne es Vandalismus mit Größenwahn.“
Sylara beobachtete ihn aufmerksam. Kein Anflug von Selbstmitleid, nur Ekel – vor der Blutlinie, vor Schwäche. „Du hasst es, weil es Chaos über Handwerk stellt.“
„Genau.“ Sein Blick bohrte sich in den verwundeten Stamm. „Korruption ist faul. Jeder kann ein Fenster zerbrechen. Wahre Kunst repariert das Glas, ohne die Aussicht zu beeinträchtigen.“
Er richtete sich auf, atmete trotz des Gestanks tief ein und langsam wieder aus. Dann – endlich – krempelte er seine Ärmel bis zu den Unterarmen hoch und enthüllte seidig schwarze Runentätowierungen, die wie getränkter Quecksilber glänzten. Jede Linie war mit anatomischer Präzision geschwungen und zeichnete Adern, Knochen und Manakanäle nach. Lebendige Geometrie.
Sylara spürte den Puls dieser Zeichen aus drei Metern Entfernung. Stürme, dachte sie und ein unwillkürlicher Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hatte ihn kämpfen sehen, aber das Kanalisieren war etwas anderes – zu intim, als würde man einen Blick auf seinen Herzschlag werfen.
„Draven“, warnte sie ihn, obwohl sie nicht wusste, wovor sie ihn warnen sollte.
Er ignorierte sie. Die letzten Strahlen der Dämmerung verschwanden aus dem Blätterdach und ließen nur das Glühen der erhitzten Baumrinde und das schwache Schimmern seiner Tätowierungen zurück. Die Nachtvögel verstummten, sogar die Geisterstimmen des Hains verstummten, als sie ein Raubtier wahrnahmen, das mächtiger war als Dämonen.
Seine Hand hob sich, ruhig wie der Segen eines Priesters, alle Finger aneinander, die Handfläche schwebte vor seinem Herzen wie der stille Drehpunkt einer Waage.
Die Zeit schien zu zögern – ein einziger, zarter Herzschlag –, bevor sie seitwärts weiterlief.
Ein leises Keuchen ging durch die Lichtung, als würde der Wald in Anerkennung ausatmen. Die Blätter über ihnen flatterten ohne Wind, ihre Unterseiten blitzten silbern wie aufgeschreckte Fische. Sogar die Pollenpartikel, die in der stillen Luft schwebten, reagierten darauf und drehten sich langsam spiralförmig auf Dravens ausgestreckten Arm zu, als wären sie magnetisiert.
Fast schon rituell.
Dravens Augen verengten sich ein wenig. Im schwindenden Schein des Runenlichts schimmerte das schwarze Metallband um sein Handgelenk, seine eingravierten Symbole wurden durchscheinend und dann unsichtbar. Die Luft wellte sich und legte sich um seine Finger, wie heißes Glas, das sich unter einem Atemzug krümmt. Sylara spürte einen Druck – subtil, aber deutlich – gegen die Vertiefungen hinter ihren Ohren, wie eine Miniatur-Sturmfront.
Die Finger waren aneinander gelegt – wie die eines Dirigenten beim letzten Takt.
Die Stille wurde tiefer. Irgendwo im Blätterdach zwitscherte eine Nachtvogel, dann verstummte er mitten im Gesang. Unter Draven wurden die Moospflanzen heller, die Runen in ihren Wedeln erwachten zum Leben und leuchteten silbergrün. Der Boden wusste, wessen Befehl gleich gegeben werden würde.
Die Luft verbog sich.
Ein verzerrtes Spiegelbild flimmerte vor Draven und wellte sich, als würde eine Wasserscheibe zu einer Klinge gezogen. Sylara hielt den Atem an. Sie hatte ihn schon oft Stahl ziehen sehen – geschmeidig, brutal, effizient. Aber noch nie so. Noch nie, ohne die Griffe zu berühren. Noch nie, indem er einfach das Unmögliche manifestierte.
Die Luft flimmerte.
Mit einem knackigen Geräusch, als wäre ein riesiger Knöchel in den Knochen der Realität gebrochen, tauchten zwei Klingen auf – weder geschmiedet noch herbeigerufen, sondern aus dem Potenzial roher Mana herauskristallisiert. Sie schwebten vor ihm, die Spitzen zur Erde gerichtet, und summten in einer tiefen, resonanten Dissonanz.
Bleichgoldene Runen krochen wie Adern aus lebendem Feuer über ihre Länge, und die Inschriften veränderten sich – ein Symbol verschwand, ein anderes tauchte auf –, als würden die Schwerter noch überlegen, in welcher Sprache sie ihren Hunger am besten ausdrücken könnten.
Sylara’s Puls raste. Sie konnte fast Eisen auf ihrer Zunge schmecken, obwohl sie sich nicht gebissen hatte. Ihre Sinne waren geschärft, die Welt schien sich zu neigen. Er zog nicht nur Waffen – er enthüllte eine Wahrheit.
Er schwang sie nicht.
Er kanalisierte sie.
Klingen als Verlängerung seines Willens, nicht anders als Sprache oder Atem.
Wie Kanäle.
Windstille Erschütterungen erschütterten den Hain. Zerbrochene Laternenkristalle klirrten gegen die Rinde. Ein Wirbel aus fernen Flüstern – einige elfisch, andere besser unübersetzt – raschelte durch die Blätter. Sylara spürte, wie Vyrik sich gegen ihren Oberschenkel presste, jeder Muskel der Chimäre angespannt, die Nackenhaare zu Berge standen, während sein Urinstinkt nach Beute schrie.
„Verschlinge ihn!“